Streit oder Liebe: Welche Koalitionen passen zusammen?
Alle Jahre wieder bei Wahlen taucht sie auf. Die Wahlkabine. Sie sagt uns, wen wir wählen sollen. Ein paar aktuelle Streifragen aus der Politik, unsere Antworten drauf. Schon kennen wir die Partei, die uns liegt. Die Wahlkabine ist das wohl am längsten existierende Tool zur Orientierung bei der Wahlentscheidung in Österreich. Es gibt sie seit der Nationalratswahl 2002. Auch 2024 ist sie wieder am Start.
Wie wir zu den Parteien passen, das wissen wir dann also mehr oder weniger. Aber: Wie passen denn die Parteien zueinander? Das Momentum Institut hat dazu ein neues Tool entwickelt: den „Koalitions-Kompass„. Der spielt die Wahlkabine praktisch automatisch aus Sicht der Parteien durch. Auf einen Blick verrät er: Welche Koalition ist die richtige für sie? Was trennt und eint die Parteien? Welche stoßen einander geradezu ab? Bei 9 bundesweit antretenden Parteien kann die Partnersuche ja schon einmal unübersichtlich werden.
Im Tool kannst du dich aber auch selbst mit Experimenten spielen, wenn du nicht Karl Nehammer heißt. Probier doch aus, ob eine KEINE-FPÖ-Koalition Sinn ergibt? Können „Die Grünen“ mit „Die Gelben“? In den kommenden Wochen werden aber auch wir noch die ein oder andere Auswertung daraus liefern. Zum Start hat MOMENT.at für dich schon einmal die 9 wahrscheinlichsten Koalitionsbildungen nach der kommenden Nationalratswahl 2024 ausgewertet und eingeschätzt, wie viel uns die Wahlkabine wirklich über die Koalitionen aussagt. (Wie wir diese ausgewählt haben, dazu findest du am Ende des Textes ein paar Infos.)
Welche Zweier-Koalitionen sind möglich?
Über Jahrzehnte gab es in Österreich stabile Mehrheiten für Zweierkoalitionen oder sogar Regierungen, die nur von einer Partei im Nationalrat unterstützt werden mussten. Diese Zeiten haben sich geändert. Nach heutigen Stand sind nur noch drei Zweier-Koalitionen gerade noch so im Bereich der Möglichkeiten.
FPÖ-ÖVP
Aktuelle Umfragen: 27% und 23% = 50%
Diese Regierung gab es in Österreich bereits mehrmals. 1999 erreichte die FPÖ unter Jörg Haider Platz 2 mit fast 27% der Stimmen, und lag damit schon damals knapp vor der ÖVP mit ebenfalls fast 27% der Stimmen. Die ÖVP bekam mit Wolfgang Schüssel den Kanzler. Seine Koalition scheiterte nach 1,5 Jahren 2002 an der beginnenden FPÖ-Parteispaltung. Nach Neuwahlen wurde die Koalition praktisch wiederholt. Diverse Vorgänge dieser Regierung beschäftigen die Gerichte lange – teils bis heute. Im Jahr 2017 kam es unter Sebastian Kurz zu einer Neuauflage. Nach zwei Jahren versank die nun “Türkis-Blau” genannte Koalition wieder in Skandalen, die später auch zu Korruptionsermittlungen und Gerichtsverfahren führten.
Auch die daraus entstandenen Abneigungen mancher Personen zueinander haben die beiden Parteien nicht daran gehindert, auf Bundesländer-Ebene zusammen zu arbeiten. In Salzburg (2023), Niederösterreich (2023) und Oberösterreich (2021) übte man sich vor der Wahl im Schattenboxen, bildete aber nach der Wahl stets eine gemeinsame Regierung. Die Frage ist, warum das auf Bundes-Ebene anders sein sollte, wenn man die nötigen Stimmen hat. ÖVP-Chef Karl Nehammer lehnt die Koalition zwar ab, könnte aber nach der Wahl auch schnell Geschichte sein – oder einfach ähnlich “standhaft” wie seine Parteifreund:innen auf Länder-Ebene.
Inhaltlich sind sich FPÖ und ÖVP sehr nahe. Der Abbau der Rechte von Arbeitnehmer:innen und des Sozialstaats sind ein gemeinsames Programm (von der Entmachtung der Arbeitnehmer:innen in der Sozialversicherung bis zum 12-Stunden-Tag war das schon in der letzten Koalition zu sehen). Auch bei der Migrationsfeindlichkeit ist man sich nahe genug. In 19 von 25 Fragen der Wahlkabine ist man sich einig.
Beide Parteien sind gegen eine Arbeitszeitverkürzung, wollen die Lohnnebenkosten für Unternehmen senken (mit denen Leistungen für Arbeitnehmer:innen bezahlt werden), wollen nicht, dass Asylwerbende selbst ihren Lebensunterhalt verdienen dürfen, sind gegen Miet-Obergrenzen, wollen Millionenerbschaften nicht besteuern, wollen keine Kinder-Grundsicherung, sind gegen eine gemeinsame Schule bis 14 Jahre und stehen Klimaschutz-Plänen konsequent im Weg. Die Fragen, die trennen, sind hingegen großteils in eher nebensächlichen Politikfeldern zu finden. Ob Österreich den WHO-Pandemievertrag unterzeichnet? Wie man verschlüsselte Kommunikation überwacht? Ob es Militärtransporte durch Österreich geben sollte? Keine rechte Koalition scheitert an solchen Fragen.
Woran eine Koalition scheitern könnte? Vermutlich nur an der Frage, ob die ÖVP wirklich Herbert Kickl zum Kanzler machen will und sich so sehr an die Macht klammert, dass man auch der kleine Koalitionspartner einer Rechtsaußen-Regierung sein will. Oder daran, dass der Bundespräsident sie nicht angelobt.
ÖVP-SPÖ
Aktuelle Umfragen: 23% und 21% = 44%
Die aus Tradtion sogenannte “Große Koalition” hat Österreich lange geprägt. Eine Mehrheit zu erlangen ist derzeit zwar möglich, braucht aber wohl gute Wahlkämpfe beider Parteien. Wer dann schlussendlich mehr Stimmen hat, kann auch eine Rolle spielen. Noch sind die Umfragen knapp genug beieinander, dass sich das wohl noch ändern könnte. Heute scheint es etwas wahrscheinlicher, dass sich im Falle einer schwachen Wahl in der SPÖ “großkoalitionäre Kräfte” durchsetzen, die Karl Nehammer als Kanzler akzeptieren könnten. Dass die ÖVP-Kräfte von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung lieber das Programm eines Kanzlers Andreas Babler mittragen, als mit der FPÖ oder einer Alternative zusammen zu arbeiten, wäre eine Überraschung.
Inhaltlich ist eine Große Koalition immer eher die Suche nach einem kleineren, gemeinsamen Nenner und Abtäuschen, die sich zumindest machtpolitisch für beide auszahlen. Sie ist nunmal die Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher politischer Lager. Der Ausdruck einer großen, gemeinsamen Vision wäre deshalb von ihr nicht zu erwarten.
Man sieht das in der Wahlkabine. Nur in 10 von 25 Fragen sind SPÖ und ÖVP einer Meinung. Und nur zwei dieser Standpunkte würden in Österreich überhaupt etwas verändern: Ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem 1. Jahr und die Möglichkeit von Fußfesseln bei Annäherungsverboten (für die aber alle Parteien sind). Die Differenzen sind demnach durchaus entscheidend und schwerwiegender. Die SPÖ will die erste gesetzliche Arbeitszeitverkürzung seit 40 Jahren – die ÖVP nicht. Die ÖVP will die Steuern für Konzerne senken – die SPÖ nicht. Die SPÖ will, dass Lehrlinge mindestens 1.000 Euro verdienen – die ÖVP nicht. Die ÖVP will, dass Unternehmen noch weniger zum Sozialstaat beitragen („Lohnnebenkosten“) – die SPÖ nicht. Derartige Unterschiede wurden aber in der Vergangenheit trotzdem auch im Sinne des Machterhalts und der Sozialpartnerschaft immer wieder überwunden. In vielen Fällen gab es aber auch keine einfacheren Alternativen für die Parteien. Heute ist das anders.
FPÖ-SPÖ
Aktuelle Umfrage: 27% bzw 21% = 48%
Historisch gab es diese Koalition bereits – aber nicht unter FPÖ-Führung. SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky ließ seine Minderheitsregierung ab 1970 zwei Jahre lang von der damaligen FPÖ stützen und in seinen letzten Jahren bildete man offiziell eine Koalition, bevor Jörg Haider die Partei übernahm. Andererseits gab es “Rot-Blau” noch vor der letzten Landtagswahl auch im Burgenland unter Hans-Peter Doskozil und ab 2004 auch einmal in Kärnten.
Rechnerisch würde die Koalition wohl möglich sein. Inhaltlich ist es ein weiter Weg. Wie bei einer Großen Koalition werden nur 10 von 25 Fragen in der Wahlkabine übereinstimmend beantwortet. Man ist sich dabei bei sehr großen Fragen nicht einig. Manche davon hängen vielleicht an der Frage, wer in der SPÖ Parteichef ist. Das kann sich bei einem schlechten Ergebnis ändern. Bei anderen müsste jemand seine grundlegende Haltung aufgeben: Die Lohnnebenkosten zu senken, ohne es über Steuern für Reiche zu kompensieren, würde das soziale Netz stark gefährden. Die FPÖ-Feindlichkeit gegenüber Pflichtbeiträgen für die Kammern würde außerdem den finanzkräftigen Groß-Unternehmen kaum schaden, aber kleine Unternehmen und besonders die Arbeitnehmer:innen würde es politisch extrem schwächen.
Realpolitisch ist es wohl die unwahrscheinlichste Zweier-Koalition. Für die SPÖ wäre sie eine kaum überstehbare Zerreißprobe. Während manche Teile der Partei zwar durchaus mit manchen Teilen der FPÖ zusammenfinden könnten, ist sie für große Teile auch ein absolutes No-Go. Und gerade Herbert Kickl ist mit seinen extrem rechten Positionen eine für „Rote“ (und den für die Angelobung zuständigen Bundespräsident Alexander Van der Bellen) besonders abschreckende Figur. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser nach den Wahlen nicht in die Regierung geht, wenn die FPÖ am meisten Stimmen bekommt. Anders als 1999 für Jörg Haider gibt es keinen Landeshauptmannsposten für ihn.
Auch machtpolitisch ist die Koalition ein bisschen unpraktisch. Beide Parteien wollen im kommenden Jahr gegeneinander das Duell um den Wiener Bürgermeisterposten ausrufen.
Welche Dreier-Koalitionen sind möglich?
Auf Bundesebene hat Österreich keine Erfahrungen mit Dreierkoalitionen. In Gemeinden und Ländern gab es solche aber natürlich schon. Eine Mehrheit könnten einige dieser Koalitionen erreichen.
FPÖ-ÖVP-SPÖ
Aktuelle Umfrage: 27%+ 23% + 21% = 71%
Seien wir ehrlich: Für diese Koalition müsste es mit dem Teufel zugehen. Drei Parteien mit annähernd gleich gutem Ergebnis müssten zusammen finden und dafür inhaltlich sehr bittere Pillen vertreten. Sollte eine Zweierkoalition sich nicht ausgehen, könnten es immer zwei davon mit einem kleineren Partner einfacher und billiger haben.
Nur in 7 Positionen der Wahlkabine sind sich alle drei Parteien einig – und fast alle davon laufen darauf hinaus, einfach nichts zu verändern. Die anderen würden schwerwiegende Hürden überwinden müssen. Der Fußfessel bei Annäherungsverboten steht bis zu einem gewissen Grad die Verfassung gegenüber. Dem Einfrieren des CO2-Preises stehen die internationalen Verpflichtungen und Pläne für den EU-weiten-Emissionshandel entgegen. Eine Zweidrittelmehrheit um alle noch so vernünftigen Hürden zu überspringen, hätte man aber.
Inhaltlich wäre die SPÖ der „Außenseiter“. Sie ist liegt in 12 Fragen anders als FPÖ und ÖVP. Viele Erfolge dürfte sie sich dabei nicht erwarten. FPÖ und ÖVP haben je drei Positionen, bei denen sie allein stehen.
Selbst wenn Kräfte in der SPÖ an die Parteispitze kommen, die eine Koalition mit der FPÖ verkraften könnten. Kann irgendjemand so blöd sein, die Partei zu spalten und die extrem rechte FPÖ zu stützen, wenn man dafür weder besonders große Reformen noch besonders gute Posten bekommt?
FPÖ-ÖVP-Neos
Aktuelle Umfrage: 27% + 23% + 10% = 60%
Laut aktuellen Umfragen brauchen FPÖ und ÖVP die Neos nicht. Würde sich ein gemeinsames Programm ausgehen, falls sich das ändert? An den Inhalten der Wahlkabine gemessen, würde man meinen: Vielleicht.
Blau-Türkis und Türkis-Pink sind getrennt voneinander betrachtet beides inhaltlich einfach vorstellbare Varianten. Alle drei Parteien eint außerdem ein sehr Unternehmer-freundliches Programm, das Basis einer Koalition sein könnte. In der Wahlkabine geben sie 10 gemeinsame Antworten.
Die ÖVP ist nur bei der Messenger-Überwachung anderer Meinung als die beiden anderen angenommenen Koalitionspartner. Sie will mit gefährlichen Methoden in verschlüsselte Chats schauen können, die anderen beiden nicht (zumindest angeblich nicht: Herbert Kickl hat das als Innenminister bei Plänen für ein massives Überwachungspaket noch ganz anders gesehen). Die ÖVP hätte aber bei all den anderen 24 Fragen einen Verbündeten in der Koalition.
Die FPÖ stünde auch nur bei 5 Fragen allein. Der inhaltliche Außenseiter wären die Neos: 9 Fragen beantworten sie anderes als die anderen beiden. Für den kleinsten Koalitionspartner wäre das Bündnis also wohl am schmerzhaftesten. Nüchtern betrachtet könnte man diese Themen für den Preis der Regierungsbeteiligung aber großteils auch einfach nicht anfassen, ohne viel Schaden zu nehmen. Die Neos wollen Cannabis legalisieren, Palästina anerkennen, eine Kindergrundsicherung einführen und die CO2-Steuer weiter erhöhen. Aber all das muss man als neoliberale Partei dann vielleicht auch wieder nicht um jeden Preis machen. Oder verzichten die Neos wirklich auf eine Regierung, damit Menschen den Geschlechtseintrag einfacher ändern können, Asylwerbende Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen oder es eine gemeinsame Schule bis 14 gibt?
Aber: Obwohl die Wahlkabine-Hürden überwindbar scheinen, scheint es schwer vorstellbar, dass die Neos einen Herbert Kickl zum Kanzler und diese FPÖ als Wahlsieger in eine Regierung heben würden. Zu weit scheinen die demokratiepolitischen Haltungen voneinander entfernt, die in der Wahlkabine nicht wirklich Ausdruck finden.
ÖVP-SPÖ-Neos
Aktuelle Umfrage: 23% + 21% + 10% = 53%
Angenommen ÖVP und SPÖ schaffen gemeinsam keine Mehrheit, dannn wäre die erste Anlaufstelle für eine FPÖ-freie Koalition derzeit eine Koalition der beiden mit den Neos. Die Neos bestehen aus vielen Ex-ÖVP-Menschen – die Parteien sind programmatisch sehr kompatibel. In Wien arbeiten die Neos bereits mit der SPÖ zusammen (und die Vorgänger-Organisation – das „Liberale Forum“ – kandidierte 2006 sogar einmal gemeinsam mit der SPÖ). SPÖ und ÖVP haben ohnehin eine lange gemeinsame Tradition. Warum also nicht?
Auf den ersten Blick ist die Schnittmenge klein. Nur 6 gemeinsame Antworten finden alle drei Parteien. Der inhaltliche Außenseiter wäre nun die SPÖ. 9 Standpunkte in der Wahlkabine vertritt nur sie. Wieder ist aber die Frage, wie viele davon bestehen bleiben würden, falls Andreas Babler nach der Wahl als Parteichef abtreten würde. Würde sein:e Nachfolger:in die Arbeitszeitverkürzung einfordern? Die Lohnnebenkosten allein verteidigen? Die Steuer auf Riesen-Erbschaften unbedingt einführen? Auf Mietpreisbegrenzung im Neubau zu pochen? Immerhin müsste diese Person erst einmal durch dieselben Mitglieder gewählt werden, die Babler an die Spitze gewählt haben. Aber vielleicht würde die Stimmung in der Partei auch kippen.
Bei 6 Fragen müsste die ÖVP allein stehen. Nur bei 4 die Neos. Der kleinste Koalitionspartner hätte die größte Schnittmenge.
Es wäre eine Koaltion, bei der sich alle die Frage stellen müssen, ob sie den anderen Erfolge gönnen können. Viel unwahrscheinlicher als eine Große Koalition scheint das nicht.
ÖVP-SPÖ-Grüne
Aktuelle Umfrage: 23% + 21% + 8% = 52%
Was, wenn die Grünen statt der Neos in die Koalition mit den beiden früheren Großparteien treten? Es würde die Situation drastisch verändern. Plötzlich wäre die ÖVP der große Außenseiter. Die Hälfte aller Fragen beantwortet sie anders, als die anderen beiden Parteien. Die SPÖ (3 mal alleine) und Grünen (4 mal alleine) hätten dabei jeweils einen Verbündeten.
Bei sechs Fragen wäre man sich einig. Ein großes Reformprogramm würde man dabei aber absolut nicht spüren. Das Pensionsantrittsalter bliebe gleich. Die Militärtransporte durch Österreich blieben so, wie sie sind. Die Mindestsicherung würde kein Grundeinkommen. Dass der WHO-Pandemievertrag unterschreiben wird, würde im Alltag niemand bemerken.
Wenn die ÖVP stärkste Kraft so einer Koalition würde, käme es wohl zu keiner Arbeitszeitverkürzung, Verhütung für junge Menschen bliebe kostenpflichtig, Lehrlinge bekämen keinen 1.000 Euro Mindestlohn, Asylwerbende würden eben wie bisher nicht arbeiten dürfen. Eine Erbschaftssteuer gebe es eben nicht. Eine gemeinsame Schule bis 14 bliebe eine Idee für die Zukunft. Es gäbe keine Kindergrundsicherung. Bei all dem muss die ÖVP sich nämlich einfach nur nicht bewegen. Tut sie es doch, hätten die anderen beiden Parteien zumindest ein Prestigeprojekt.
Alle Parteien wollen einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem 1. Geburtstag. Ob das genug wäre, um seiner Basis eine Menge Kompromisse zu erklären?
ÖVP-Neos-Grüne
Aktuelle Umfrage: 23% + 10% + 8% = 41%
Selbst wenn sich diese Koalition noch rechnerisch ausgehen würde. Schon grundsätzlich stellt sich die Frage: Können ÖVP und Grüne nach den vergangenen 5 Jahren noch einmal miteinander? Dass die Grünen beim Ende von Sebastian Kurz standhaft geblieben sind, wäre vielleicht mittlerweile überwindbar. Dass sie beim Renaturierungsgesetz Haltung bewahrt haben, hat die Stimmung aber doch wieder heftig verschärft. Die Grünen würden wohl nicht auf Leonore Gewessler verzichten wollen. Sie hatte außerdem mit dem Klimaticket, dem CO2-Preis mitsamt Klimabonus und dem Solar-Boom die großen Steckenpferde der zeitweise schmerzhaften Grünen Regierungsbeteiligung zu verantworten. Die ÖVP hätte sie schon jetzt am Liebsten abgesetzt. Wenn dann auch noch die Neos mitmischen?
Was sagt die Wahlkabine? Überraschenderweise wären die Neos nur in einem Punkt allein. Sie wollen das Pensionsalter erhöhen – sonst niemand. Die ÖVP wäre gemäß der Wahlkabine der “Außenseiter” der Koalition. In 9 Fragen müsste sie die anderen beiden überzeugen. Aber auch hier gilt: Nach vier Jahrzehnten in der Regierung sind viele dieser Dinge schon heute bereits genau so, wie die ÖVP sie will. Einfach nur nichts zu ändern und bei einigen unvermeidlichen Dingen symbolisch nachzugeben (der CO2-Preis wird sowieso steigen, weil er in den EU-Handel eingebunden wird), wäre genug.
Die Grünen hingegen müssten mit zwei Unternehmens-nahen Parteien wohl erneut ihre linken Wähler:innen um Nachsicht bitten: eine Arbeitszeitverkürzung. 1000 Euro Mindestlohn für Lehrlinge, eine Erbschaftssteuer und Mietobergrenzen wären als womöglich kleinste Partei so einer Koalition kaum machbar. Bleiben 8 gemeinsame Antworten für alle drei in der Wahlkabine. Das wäre keine inhaltlich unvorstellbare Variante. Wirklich für die Koalition begeistern könnten sich aber wohl nur die Neos.
SPÖ-Neos-Grüne
Aktuelle Umfrage: 21% + 10% + 8% = 39%
Die Kombination als Sozialdemokraten (rot), Wirtschafsliberalen (die FDP ist gelb) und Grünen (naja, grün) ist in Deutschland als “Ampel” bekannt. Obwohl die österreichische Schwesterpartei der FDP mit den Neos “pink” ist, nennt man die Koalition auch hier immer wieder so. Unter Türkis-Blau war es noch die wahrscheinlichste Alternativ-Variante, deshalb erörtern wir sie auch kurz hier. Von einer möglichen Mehrheit ist die Kombo zum derzeitigen Stand aber weit entfernt.
Inhaltlich wäre die “Ampel” mit 11 gemeinsamen Antworten scheinbar ein bisschen einfacher, als andere Dreier-Varianten. Wie das deutsche Vorbild zeigt, ist das Zusammenspiel aber für niemanden begeisternd. Der Grund ist: Es ist im Prinzip kaum etwas anderes als eine Große Koalition.
Das Problem liegt besonders aus progressiver Sicht darin, wie die Welt heute nach Jahrzehnten der neoliberalen Vorherrschaft ist. Parteien links der Mitte müssen für ihre Pläne etwas verändern. Parteien rechts der Mitte – dazu zählen eben auch Wirtschaftsliberale – müssen viel öfter einfach nur gegen eine Veränderung sein. Deshalb wären die Neos in einer Ampel auch in einer für sie besseren Position, als die Grünen in einer Koalition mit ÖVP und Neos. Abgesagt haben sie sie trotzdem. Arbeitszeitverkürzung, Erbschafts- und Vermögenssteuern – wie sie im Programm der SPÖ und Grünen als wichtige Forderungen stehen – sind für sie eine zu undenkbare Sache.
Die 7 Themen, bei denen die Neos allein stehen, beinhalten: Sie wollen keine Arbeitszeitverkürzung. Kein 1.000-Euro-Lehrlings-Mindesgehalt, keine Erbschaftssteuer, keine Mietpreisgenzen und keine Gratis-Verhütung für junge Menschen. Wollen sie bei diesen Projekten nicht mitmachen, passiert hier in einer Koalition einfach auch gar nichts. Eine mehrheitlich linke Regierung würde also von einer liberalen Partei in allem blockiert werden. Frust ist da garantiert. Die rechte Opposition freut sich auf die nächste Wahl, ohne inhaltlich bis dahin viel zu verlieren. Die Entwicklung in Deutschland zeigt, wohin das führen kann.
Auch wenn die Neos in einigen Fragen etwas weniger populistisch scheinen, als ihre deutschen Kolleg:innen: Eine natürliche Allianz für ein populäres Reformprogramm ist eine “Ampel” auch in Österreich eben nicht. Falls die Variante wirklich die einzige Chance ist, um eine extrem rechte Regierung zumindest für 5 Jahre zu verhindern, macht man das. Sonst beschädigt man aber vielleicht besser nicht alle stabil-demokratischen Kräfte im Parlament auf einmal.
Andere Koalitionen?
Eine Zusammenarbeit mit der FPÖ ist außer für die ÖVP für die restlichen Parteien eine enorm hohe Hürde. Koalitionen, für die gleich zwei andere Parteien im Nationalrat dieses Tabu brechen müssten, werden deshalb hier nicht weiter erörtert. Eine realistische andere Dreier-Koalition gibt es nicht. Und auch Koalitionen mit vier Parteien sind derzeit entweder so weit über dem nötigen Ergebnis, dass es sie nicht brauchen wird, oder so weit davon entfernt, dass es am 29. September nicht dafür genügen wird.
Welche Koalitionen werden untersucht?
Wir haben uns nach den Möglichkeiten gerichtet, die aus heutiger Sicht eine Mehrheit des Parlaments erreichen können – auch wenn es einen günstigen Wahlkampf für die beteiligten Parteien benötigen würde. Man weiß natürlich nie, wann das nächste politische Erdbeben daher kommt. Ein Ibiza-Video hier, ein Korruptions-Skandal da, eine Silberstein-Enthüllung dort, schon kann alles anders sein als heute. Ohne Kristallkugel orientieren wir uns aber daran, was die Umfragen-Übersicht “Poll of Polls” derzeit ausspuckt. (So etwas hat bei dieser Wahl auch der Standard mit ähnlichen Ergebnissen.) Welche Koalitionen dabei in der Nähe einer nötigen Mehrheit sind, schauen wir uns an. Die Koalitionen haben wir dann auch immer so benannt
Was braucht es für eine Koalition?
Was ist im österreichischen Nationalrat eine nötige Mehrheit für eine Koalition?
Einfache Antwort: Die teilnehmenden Parteien brauchen zusammen 92 von 183 Sitzen im Nationalrat.
Etwas komplexerer Zusatz: Wie man diese Zahl bekommt, kann man vor der Wahl nicht ganz genau zu sagen. Grob gesagt: Das österreichische Wahlsystem berücksichtigt, dass wir unterschiedliche Bundesländer und Regionen haben und es zieht eine Hürde für kleine Parteien ein. Deshalb besteht eine Mehrheit im Parlament nicht einfach aus 50 Prozent plus eine Stimme bei der Wahl. Es können auch weniger Stimmen genügen und theoretisch könnten auch etwas mehr nicht genügen.
Dass kleinere Parteien es nicht über die 4-Prozent-Hürde schaffen, ist bei jeder Wahl ziemlich wahrscheinlich. Ihre Stimme werden bei der Berechnung der Mandate im Nationalrat dann unwichtig. Das könnte bei der Nationalratswahl 2024 allen Parteien blühen, die bisher noch nicht im Parlament vertreten sind. Anfang September stehen BIER-Partei (4%), KPÖ (3%) sowie all die anderen Kleinparteien (zusammen 4%) bestenfalls knapp an oder doch deutlich unter der Schwelle.
Im Extremfall könnten über 10% der Stimmen den Nationalrat nicht beeinflussen. Wir berücksichtigen deshalb auch Koalitionen, die mit einem guten Wahlkampf noch in die Nähe von etwa 45% der Stimmen kommen könnten.