Der Mythos vom wertfreien Journalismus: Keine Haltung ist auch eine Haltung
Vor ein paar Wochen feierte die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) ihren 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass gewährte die Redaktion den Leserinnen und Lesern verschiedene „Einblicke in den Maschinenraum“ der SZ.
Detlef Esslinger, Leiter des Ressorts „Meinung“, erläuterte die Haltung der Zeitung zur Trennung von Nachricht und Meinung. Ein Leser, berichtet Esslinger, hatte kürzlich in einer Mail kritisiert, dass sich „persönliche Wertungen einzelner Redakteurinnen und Redakteure zunehmend in Nachrichtenartikel“ einschleichen würden.
Nachricht und Bewertung trennen?
Gleich vorneweg macht Esslinger klar, wo er bei diesem Thema steht: Vermischung von Nachricht und Meinung gilt es tunlichst zu vermeiden. „Zu Recht“ reagiere das Publikum der SZ „auf kaum etwas so empfindlich“, es gäbe „im Politikjournalismus gar keinen Dissens dazu“ und auch in Journalistenschulen werde diese Trennung „praktisch an Tag eins“ gelehrt. Esslinger arbeitet laut Wikipedia selbst „als Dozent an Journalistenschulen in Deutschland und der Schweiz“.
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Den Rest seines Beitrags widmet der SZ-Ressortchef den Gründen, warum diese vermeintlich klare Trennung zwischen Nachricht und Meinung im journalistischen Alltag dann doch bisweilen nicht klappt. Zum Beispiel, weil „manchmal die Schilderung eines Ereignisses in eine Bewertung desselben“ kippt oder sich „kommentierende Einsprengsel“ in einem „nachrichtlichen
oder analysierenden Text“ finden.
Guter Journalismus, daran lässt Esslinger keinen Zweifel, verbannt Meinung und Bewertung in Kommentarspalten, während Nachrichtenmeldungen von auch noch so kleinen Meinungseinsprengseln gesäubert werden sollten:
„Im Ideal-, wahrscheinlich sogar im Normalfall fällt die Vermischung von Nachricht und Kommentar denjenigen in der Redaktion auf, die einen Text anschließend redigieren, und sie fischen Formulierungen heraus, die darin nichts zu suchen haben.“
Das Missverständnis
Nachrichten berichten, was ist. Meinungsbeiträge dürfen kommentieren und einordnen. Vermischung ist verboten, strikte Trennung das hehre Ziel. Das Problem ist jedoch, dass es wertfreie Nachrichten genauso wenig geben kann wie wertfreie Wissenschaft. Ja, es ist nicht einmal möglich, sich Wertfreiheit auch nur anzunähern.
Der wichtigste und gleichzeitig notwendig normative Ausgangspunkt für jede Nachrichtenmeldung ist die Entscheidung, aus der unendlichen Zahl an möglichen Themen genau eines auszuwählen und zur Nachricht zu machen. Das ändert sich auch nicht, wenn sich diese Entscheidung an sogenannten Nachrichtenfaktoren orientiert, die selbst bzw. deren Auswahl, Gewichtung und Effektivität wiederum normativ geprägt sind.
Aber die Normativität (je)der Nachricht endet längst nicht bei der Themenauswahl. Ironischerweise lässt sich das gerade an dem von Esslinger selbst bemühten Beispiel, den Berichten über Donald Trump, besonders gut zeigen.
Sprache an sich ist normativ und nicht – nie! – neutral. Egal ob Trump in einer Sache „mutmaßlich“, „angeblich“ oder ohne Adjektiv lügt, eine Wertung ist immer dabei.
Warum Berichte über Trump ein gutes Beispiel sind
Schlimmer noch: Grade das betonte Bemühen um bewertungsfreie Ausgewogenheit führt oft zu besonders fragwürdigen Bewertungen. Das zeigt auch ein zeitnah zum Kommentar von Esslinger veröffentlichter Bericht der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenseite orf.at. Dort wird Trumps Begründung für den Einsatz der Nationalgarde in Chicago gleichwertig neben Aussagen von ungenannten „Kritikern“ berichtet.
Dieses gleichgewichtige Nebeneinander ohne Einordnung ist nicht wertfrei. Ebenso wenig wertfrei wäre es gewesen, zu schreiben, dass Trump autoritär durchgreift, wenn auch bemäntelt mit vorgeschobenen Gründen. Eine von beiden Aussagen ist näher an der Wahrheit als die andere. Auch Nachrichtenjournalismus muss bewerten.
Das ist unvermeidbar – und auch gar nicht das Problem. Im Gegenteil. Mit dem US-Journalisten und Dozenten Jonathan Foster gesprochen:
„Wenn jemand sagt, dass es regnet, und ein anderer, dass es trocken ist, ist es nicht Ihre Aufgabe, beide zu zitieren. Es ist ihre Aufgabe, aus dem Fenster zu schauen und herauszufinden, was wahr ist.“
Was bleibt dann aber am Ende von der Trennung zwischen Nachricht und Meinung, wenn Bewertung in Nachrichten nicht zu vermeiden ist? Es sind immer noch zwei journalistische Genres mit unterschiedlichen stilistischen Imperativen. Bei Nachrichten geht es primär um das Berichten von Fakten, die einem Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Meinungsbeiträge hingegen sind viel persönlicher gefärbt und dürfen gerne auch zugespitzt und spekulativ sein.
Vermeintliche Positionslosigkeit
Das Ziel, möglichst wertfrei zu berichten, ist nicht nur überholt, es gefährdet auch die Glaubwürdigkeit des Journalismus. Weil Werturteilsfreiheit unmöglich ist, lässt sich behauptete Ausgewogenheit im Einzelfall immer als falsch nachweisen, weil ja schon Wortwahl oder Fokus einer Nachricht wertend sind. Das liefert auch den „Lügenpresse“-Rufern Munition.
Der emeritierte NYU-Professor Jay Rosen kritisiert die Vorstellung des „View from Nowhere“ – Glaubwürdigkeit entstehe durch den Verzicht auf jede erkennbare Haltung – als falsch. Tatsächlich, so Rosen, sei diese Haltung selbst ideologisch. Der Versuch, sich zwischen allen Fronten zu positionieren und das als objektiv zu verkaufen. In Wahrheit sei das vor allem ein Schutzmechanismus gegen den Vorwurf, parteiisch zu sein. Man beansprucht damit universelle Legitimität, ohne sie zu verdienen.
Echte Autorität, schreibt Rosen, entsteht nicht aus vermeintlicher Distanz, sondern aus Arbeit: aus Recherche, Faktenprüfung, Kontextwissen, Verlässlichkeit. Glaubwürdigkeit erwächst nicht aus dem leeren Gestus der Neutralität, sondern aus der Fähigkeit, eine komplexe Lage zu verstehen und einzuordnen.
Ein Journalismus, der das anerkennt, muss nicht unfehlbar sein – aber er darf sich auch nicht hinter einer vermeintlich wertfreien Fassade verstecken. Der „View from Nowhere“ führt in die Irre. Statt sich auf eine vermeintlich neutrale Beobachterposition zurückzuziehen, geht es um Offenlegung des eigenen Standpunkts: Vertrauen entsteht nicht durch das Verstecken von Werten, sondern durch ihre Transparenz. Ein Journalismus, der Haltung zeigt, sie reflektiert und offenlegt, ist ehrlicher, demokratischer und letztlich glaubwürdiger als einer, der so tut, als stünde er über den Dingen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medienkritischen Blog Übermedien.
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