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Gesundheit

Young Carer: "Ich dachte, ich kann alles regeln"

Young Carer: "Ich dachte, ich kann alles regeln"

In Österreich gibt es 42.000 Young Carer. Das sind Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen. Johanna war eine von ihnen und erzählt von der Erfahrung. Wie ist es als Young Carer?

Johanna* war als Kind und Jugendliche ein „Young Carer“. Sie musste sich um ihre kranke Mutter kümmern. Hier erzählt sie von ihrer Erfahrung. Wie ist es, wenn man sich so viel kümmert, dass man selbst zu verkümmern droht?

Was ist ein Young Carer? Young Carer sind Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen – etwa die eigenen Eltern. In Österreich gibt es rund 42.000 Young Carer. 

Als ich sechs Jahre alt war, wurde bei meiner Mutter eine Bipolare Störung diagnostiziert. Das ist eine Krankheit, die in Episoden auftritt und in Phasen verläuft – Mama geht es mal besser, mal schlechter. Ist sie stabil, verläuft der gemeinsame Alltag recht normal und sie “funktioniert” als Mutter. „Kippt” sie hingegen in die Manie, sind die Krisen extrem. Der Kreislauf von Psychose, Psychiatrie und Depression passiert circa einmal im Jahr. 

Den Begriff “Young Carer” kannte ich nicht

Für mich war das normal. Ich kannte es nicht anders. Erst als Erwachsene habe ich vom Begriff “Young Carer” erfahren – und dass ich zu jenen Zehntausenden Jugendlichen gehörte, die jemanden pflegen müssen, der sich unter anderen Umständen eigentlich um mich hätte kümmern müssen. Über ein Jahrzehnt war das so – dann bin ich nach der Schule von zu Hause ausgezogen.

Der Alltag vieler Young Carer: Einkaufen, Waschen, Bügeln, Aufräumen, Kochen, Medikamente geben, die Hausaufgaben der jüngeren Geschwister machen – alles, was ansteht. Sie füllen eben alle Lücken, die durch die Krankheit der zu versorgenden Person/en entstehen.

Das musste ich nicht immer machen, denn meine Mama konnte in stabilen Phasen den Haushalt schmeißen und Rechnungen bezahlen. Ich war vor allem emotional für sie zuständig. Zuhören, Reden, Tagespläne schreiben, Struktur vorgeben, Verantwortung übernehmen und ja nie zur Last fallen.

Zu viel Verantwortung für ein Kind

Ich fühlte mich älter – auch für andere wirkte ich so, das wurde mir immer wieder gesagt. Natürlich, ich übernahm ja auch die Rolle der Erwachsenen. Mama und ich waren ein Team – eng und symbiotisch. Wenn sie psychotisch war, hat sie am ehesten auf mich gehört, nur ich konnte sie erreichen. So viel Verantwortung löste in mir ein Allmachtsgefühl aus. Ich dachte, ich kann alles regeln. Doch das sollte ein 14-jähriges Kind einfach nicht machen müssen.

Ich hätte mir gewünscht, dass Erwachsene einschreiten. Aber das passiert nicht. Als es daheim einmal eskaliert ist und ich nicht mehr lernen konnte, öffnete ich mich einem Lehrer. Ich als 15-Jährige musste meinem überforderten Lehrer erklären, was eine Psychose ist. Er meinte nur, das sei heftig und fragte, ob er denn was tun kann. Dann haben wir nie wieder darüber gesprochen.

Heute finde ich: Wenn du das als Lehrer mitkriegst, hast du hinzuschauen! Er hätte mich an Stellen verweisen müssen und nicht einfach hinnehmen, dass ich das schon allein regle. Und auch danach nachfragen und dranbleiben. Ich wirkte stabil, weil das für mich normal war. Aber es war alles andere als normal.

Wer stabil ist, fällt nicht auf

Durch meinen stabilen Zustand, gute Noten und den Umstand, dass ich nie fremduntergebracht wurde, bin ich nicht aufgefallen. Niemand wusste es, als meine Mutter während der Sportwoche in der Psychiatrie war. Oder dass ich als Kind bei Patientinnengesprächen dabei sein musste. Oder dass wir von der Polizei und vom Amtsarzt öfter Besuch hatten, als von Verwandten. Auch vom Staat fühle ich mich im Stich gelassen. Manchmal kam der Amtsarzt erst beim sechsten Mal, um meine Mutter einzuweisen. Erst wenn sie „gefährdet genug” war, kam jemand. Bis dahin war ich selbst für meine Mutter verantwortlich. 

Ich sehnte mich fast nach den Aufenthalten meiner Mutter in der Psychiatrie. Das war für mich wie Urlaub. Endlich ein paar Wochen, wo ich durchschnaufen konnte. Doch der “Erholungseffekt” war immer rasch vorbei. Wir bekamen nämlich keine professionelle Nachsorge. Meine Mama war auf starken Psychopharmaka und so langsam. Da ist aber nie wer vorbeigekommen, um zu sehen, ob wir Betreuung brauchen.

Deshalb habe ich auch nie nach Hilfe gefragt. Ich dachte: Es gibt einfach keine Hilfe. Da kommt niemand, um mich zu retten. In über einem Jahrzehnt als Young Carer habe ich nie mit eine:r Sozialarbeiter:in oder eine:m Psychiater:in unter vier Augen gesprochen. Ich hatte gar nicht so viel bewussten Redebedarf, aber eine Auszeit und Entlastung hätte ich dringend gebraucht. Das System hat es dankend angenommen, dass ich alles allein gestemmt habe. Ich hoffe, heute gibt es mehr Anlaufstellen als damals.

Großes Glück: stabiler Freundeskreis 

Mein Leben verbesserte sich sehr, als ich als Teenager einen stabilen und unterstützenden Freundeskreis fand. Ich habe mich verliebt, ich hab ausprobiert, hatte eine tolle Clique, die Schule lief – alles außer Familie hat Spaß gemacht. Doch das steigerte auch das schlechte Gewissen, weil es mir gut ging und meiner Mutter schlecht. Ich war mitten im Leben und bei ihr war alles auf Pause. Alles war geprägt von ihrer Achterbahn.

Dennoch mochte ich mein Leben mit 15. Heute würde ich das nicht mehr sagen. Es war alles, aber unbeschwert war es nicht. Die Welt zu Hause und die Welt draußen habe ich stark getrennt. Ich habe jetzt als Erwachsene ein unbeschwerteres Leben als damals. Früher hatte ich zu viele Sorgen und Aufgaben. Als Kind kannst du nicht gehen, du kannst nicht die Augen verschließen. Alles passiert Tür an Tür, Wand an Wand.

Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung

Mit 19 bin ich dann mehrere Bundesländer weiter weggezogen. Den Kontakt zur Mama habe ich eingeschränkt. Ich bin nicht mehr 24/7 für alles erreichbar und zuständig und auch nicht immer vor Ort. Ich habe gelernt da zu sein und mich dennoch abzugrenzen. Doch auch als Erwachsene ist mir klar: Dass meine Mutter so krank ist, ist schlimm und wird auch immer schlimm bleiben. Der Abstand hat die Normalität für mich durchbrochen. Erst jetzt merke ich, wie unnormal das alles ist. Ich frage mich wirklich, wie ich das tagtäglich ausgehalten habe.

Durch den Umzug hatte ich gehofft, vieles hinter mir zu lassen, doch dann kamen die Panikattacken. Erst nachdem ich selbst keine pausenlose Verantwortung für jemanden hatte, machten sich meine eigenen Wunden bemerkbar. Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung.

Dann kam die Wut hoch. In der Therapie und der Selbsthilfegruppe versuche ich das Erlebte zu verarbeiten. Was ich erlebt habe, erleben viele Kinder in Österreich. Das geschieht nicht am Rande, sondern mittendrin und ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Man muss präventiv hinschauen und nicht erst, wenn der Hut brennt. Da muss jemand Verantwortung übernehmen, und zwar nicht das Kind.

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