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Arbeitswelt
Kapitalismus

Zufallsforscher: "Unser Leben wird nicht durch Leistung bestimmt"

Wir sollten uns besser an den Zweitbesten orientieren, sagt Forscher Chengwei Liu. Denn außerordentliche Leistungen entstehen oft dank außerordentlichem Glück.

Wer auf dem ersten Platz landet, ist zwangsläufig besser als die Zweitplatzierte – das sagt zumindest unser Bauchgefühl. Stimmt nicht, sagt Chengwei Liu, der zu Glück in Management und Strategie forscht. Das Gegenteil ist der Fall. Welche Auswirkungen unser Irrglaube auf Unternehmen, die Finanzwelt und unser politisches System hat, erklärt Liu im Interview mit MOMENT.

MOMENT: In deinem Buch geht es darum, wie Glück mit Erfolg zusammenhängt. Welche Rolle hat Glück in deinem Berufsleben gespielt?

Chengwei Liu: In meinem Forschungsfeld, Management und Strategie, sprechen Leute sehr wenig über Glück, manche wollen die Rolle des Zufalls überhaupt nicht anerkennen. Als ich also meinen Fokus auf Glück legte, waren meine KollegInnen erstaunt. Wenn in meiner Laufbahn wichtige Augenblicke anders verlaufen wären, dann würde ich heute nicht hier sitzen und mit dir über das Buch sprechen, dass ich geschrieben habe. Ich hatte Glück.

Abgesehen von Managementtheorie behandelst du in deinem Buch gesellschaftliche Aspekte von Glück. Ich musste an diese Anleitungen denken, die das Internet überschwemmen. Wie werde ich so erfolgreich wie Steve Jobs? Wie geht Beyonces Morgenroutine? Laut deiner Theorie sollen wir uns aber nicht an diesen Stars orientieren. Wieso?

Wann immer wir versuchen, von den extrem erfolgreichen Personen zu lernen, müssen wir vorsichtig sein. Unsere Intuition sagt uns: Wer so erfolgreich ist, hat etwas richtig gemacht. In meiner Forschung verwende ich datenbasierte Modelle, um dieses Bauchgefühl zu prüfen. Im Normalfall sind Spitzenerfolge zu gut, um wahr zu sein. Das heißt, wenn es extreme Ausreißer nach oben oder nach unten gibt, spielt Glück wahrscheinlich eine größere Rolle als Können. Wenn du also alles nachmachst, was Steve Jobs getan hat, wirst du seine Erfolge nicht wiederholen können. Das bedeutet nicht, dass wir uns keine Strategien abschauen können, nur an den Ausreißern sollten wir uns nicht orientieren.

Du schreibst, dass wir uns stattdessen an die „Zweitbesten“ halten sollen. Woher weiß ich, wer das ist?

Der Ausdruck ist natürlich vereinfacht. Um herauszufinden, wer das ist, brauchen wir Daten, die meistens schwer zu bekommen sind. Die meisten meiner Datensätze kommen aus dem Sport, weil hier Leistung gut messbar ist. Bei diesen Daten sehe ich anhand von statistischen Modellen, welche Leistungen so stark herausragen, dass sie eher mit Glück zusammenhängen. Direkt unter dieser „Gefahrenzone“ sind die Zweitbesten, also jene, bei denen das Maß an Können am höchsten ist und Glück eine kleinere Rolle spielt. Bei diesen Personen können wir erwarten, dass die Leistung langfristig hoch bleibt. Deswegen schlage ich vor, dass zum Beispiel Firmen eben diese MitarbeiterInnen belohnen sollten. Aber eben nur, wenn die Bewertung evidenzbasiert ist, also auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.

Trotzdem belohnen Chefs jene, die die besten Ergebnisse liefern. Egal, ob das nur ein Glücksfall war.

Genau und das ist ein Problem, das zu großen Schwierigkeiten führen kann. Das Belohnen von Glück hat sogar eine Rolle in der Finanzkrise 2008 gespielt. Ein paar Personen haben mit Glück viel Geld gemacht, hohe Boni bekommen und sind immer größere Risiken eingegangen. Ein System, in dem nur das Ergebnis beurteilt wird, nicht aber der Weg dorthin, fördert solche Mechanismen.

Wieso tun wir es dann?

Einen Prozess zu bewerten ist viel schwieriger und braucht mehr Zeit. Wir müssten jede Entscheidung festhalten und ein Modell entwickeln, um diese zu bewerten. Da ist es einfacher, auf das Ergebnis zu schauen.

 
Chengwei Liu im Videochat mit MOMENT Redakeurin Lisa Wölfl. Auf dem Screenshot sind beide während dem Interview-Videocall zu sehen.

Chengwei Liu im Videochat mit MOMENT

Wir stecken mitten in der Corona-Krise. Manche Unternehmen machen jetzt mit Produkten einen Haufen Kohle, die vorher weniger lukrativ waren. Andere Unternehmen und Selbstständige stehen vor dem Ruin. Sieht so Glück in der Krise aus?

Die Corona-Krise ist ein typisches Beispiel für etwas, dass einzelne Personen und Unternehmen nicht beeinflussen können. Ein Beispiel für unheimliches Glück in der Krise ist das Unternehmen “Zoom Technologies”. Nicht jenes “Zoom”, das wir beide gerade für den Videochat verwenden, sondern eine Kommunikationsfirma, die fast denselben Namen trägt. Weil so viele Leute die beiden Unternehmen verwechselt haben, ist die Aktie von “Zoom Technologies” um 1800 Prozent gestiegen. 1800 Prozent! Die US-amerikanische Börsenaufsicht hat den Handel dann gestoppt, um weitere Verwechslungen zu verhindern.
 

In westlichen Ländern ist der Glaube weit verbreitet, dass wir alles schaffen können, wenn wir nur hart genug dafür arbeiten. Wie würde eine Welt aussehen, in der dem Glück die Rolle zugestanden würde, die es tatsächlich spielt?

Das ist eine wichtige Frage, auf die ich keine endgültige Antwort habe. Ungleichheit ist meiner Meinung nach nicht immer schlecht oder ungerechtfertigt. Der bessere Basketballspieler bekommt mehr Geld, das ist schon in Ordnung. Aber die Größenordnung, in der manche Personen unglaublich viel mehr Geld verdienen und sozialen Status genießen als andere, die sollten wir hinterfragen. Ein weiterer Punkt ist der Zusammenhang, in dem die Ungleichheit entsteht. Den amerikanische Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär, gibt es de facto seit den 1920er Jahren nicht mehr. Die Familie, in die wir geboren werden, bestimmt den Verlauf unseres Lebens zu einem gewaltigen Teil. Nicht unser Talent oder harte Arbeit. Trotzdem glauben viele US-AmerikanerInnen immer noch daran. In Europa zweifeln tendenziell mehr Menschen an dem direkten Zusammenhang zwischen harter Arbeit und Erfolg. Das hat politische Folgen. In den USA ist der Sozialstaat schwach. Dafür wächst das Bruttoinlandsprodukt stärker. Es gibt Studien, die nahelegen, dass der Glaube an eine gerechte Welt – also eine, in der man alles schaffen kann, wenn man gut genug ist – mit einer höheren Wirtschaftsleistung zusammenhängt. Die Kehrseite zeigt sich während der Corona-Krise in den USA.

Viele Menschen dort haben keinen bezahlten Krankenstand und keine Krankenversicherung. Tausende sind unverschuldet arbeitslos geworden. Würde dann eine realistische Einschätzung vom Faktor Glück zu einer tatsächlich gerechteren Welt führen?

Darauf können wir zumindest hoffen.

 

Chengwei Liu ist außerordentlicher Professor für Strategie und Verhaltenswissenschaft an der ESMT Berlin. In Jahr 2020 erschien sein Buch „Luck: A key idea for business and society“. Unsere Rezension dazu findest du hier.

 

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