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Ungleichheit
Demokratie

Zuwanderung ins Sozialsystem? Ein ewiger Mythos ohne Beleg

Zuwanderung ins Sozialsystem? Ein ewiger Mythos ohne Beleg
Foto: (C) M. Kandlbauer
Seit vielen Jahren wollen "migrationskritische" Politiker:innen die "Zuwanderung ins Sozialsystem" stoppen. Manchmal sogar dann, wenn sie das schon geschafft haben wollen. Was untergeht: Es gibt praktisch keine Beweise dafür, dass es so ein Problem überhaupt gibt. Der Start der neuen Kolumne "Asylfakt" von Lukas Gahleitner-Gertz.

Es gehört in das Repertoire all jener, die zumindest „migrationskritisch“ eingestellt sind und es zumeist ohnehin schon immer gewusst haben wollen: „Die Zuwanderung ins Sozialsystem muss gestoppt werden!“ Sebastian Kurz forderte es sowieso immer schon – etwa auch 2017

Kurios: Laut VP-Klubobmann August Wöginger wurde die „Zuwanderung ins Sozialsystem“ 2019 von der Türkis-Blauen Regierung sogar gestoppt. Nach dem Ende der Ibiza-Koalition sah das die FP-„Sozial“-Sprecherin 2020 in der Opposition plötzlich wieder ganz anders. Per Entschließungsantrag mit dem originellen Titel „Stopp der Zuwanderung in unser Sozialsystem“ forderte sie eben schon wieder genau diesen. Und sie blieb nicht allein.  Im „Österreich-Plan“, Wahlprogramm des ehemaligen ÖVP-Kanzlers Karl Nehammer, war der „Stopp der Zuwanderung ins Sozialsystem“ schon wieder einer der fünf wichtigsten Maßnahmen. Im Regierungsprogramm von ÖVP, SPÖ und NEOS wird klar unterstrichen: „Einwanderung in unser Sozialsystem lehnen wir ab.“ Auch Agenda Austria-Chef Franz Schellhorn behauptet: „Zugewandert wird nicht in den Arbeitsmarkt, sondern in die Sozialsysteme“. 

Sozialhilfe/Mindestsicherung als unterstes Netz 

Mit „Sozialsystem“ ist landläufig die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung gemeint. Der geforderte „Stopp“ soll durch Kürzungen, Reform der Anspruchsvoraussetzungen und – wenn‘s nach der Kanzlerpartei geht – durch eine Wartefrist für Asylberechtigte erreicht werden.

Auf die Sozialhilfe lässt sich gut schimpfen: Da es Aufgabe der Bundesländer ist, gibt es viele unterschiedliche Regelungen. Daher kann nicht einmal die Frage beantwortet werden, wie hoch sie eigentlich ist. Zumindest nicht ohne mehr über den Ort und die Familienverhältnisse zu wissen. Deshalb lassen sich Einzelfälle medial gut skandalisieren. 

Es ist ein dankbares Thema: Dass 4.600 Euro im Monat viel ist, scheint für viele klar. Was es heißt, in einem neuen Land neu anzufangen und für sieben Kinder sorgen zu müssen, wissen wenige. Dass es exakt 13 Familien in der 2-Millionen-Stadt Wien sind, die darauf angewiesen sind, tritt in den Hintergrund, wenn der Ruf nach Gerechtigkeit durchs Feuilleton flattert.

Bitte anschnallen: Es gibt keinen Beweis für eine Zuwanderung ins Sozialsystem

Die anhand von Ausreißer-Fällen losgetretene Schein-Gerechtigkeitsdebatte lenkt ab. Diese sind kein tauglicher Beleg für den Ausgangspunkt der Diskussion: Die behauptete „Zuwanderung ins Sozialsystem“ wegen dessen angeblich großzügiger Ausstattung.

Die Gesamtanzahl der Sozialhilfe- und Mindestsicherungsbezieher:innen hat in Österreich seit 2017 abgenommen. Im Jahresdurchschnitt von 240.000 auf 197.000 im Jahr 2023. Der Anteil der Bezieher:innen an der Gesamtbevölkerung hat von 2,7% auf 2,2% ebenfalls abgenommen.

In der Debatte wesentlich ist aber natürlich die Entwicklung bei asylberechtigten und subsidiär schutzberechtigten Personen: Die Zahlen der asyl- und subsidiär schutzberechtigen Personen in der Mindestsicherung/Sozialhilfe ist in Österreich von 2017 bis 2023 von 75.000 auf 80.000 Personen österreichweit angestiegen. Während das im Jahresschnitt tatsächlich  5.000 Personen mehr sind, wurden im selben Zeitraum aber 130.000 Schutztitel erteilt. 

Asylberechtigte sind ab der Erteilung des Aufenthaltsstatus mit Österreicher:innen gleichgestellt und daher auch anspruchsberechtigt. Bei subsidiär Schutzberechtigten haben 7 Bundesländer entschieden, diese auch weiterhin wie Asylwerber:innen in der wesentlich niedrigeren Grundversorgung zu behandeln. Nur Tirol und Wien stocken sie auf die Höhe der Mindestsicherung auf.

Das hat nicht primär humanitäre Motive: Es spart Geld. Aufgrund der Anbindung an Communities und leichter erreichbaren Wohnraums in einer Großstadt kommen viele Schutzberechtigte nach Verfahrensabschluss nach Wien. Der Stadt ist klar, dass man mit 165 Euro Mietunterstützung in der Grundversorgung keine nachhaltige Wohnlösung findet. Um Obdachlosigkeit und die Bereitstellung wesentlich teurerer organisierter Unterkünfte zu vermeiden, kommt die Aufstockung auf die Mindestsicherung und Sozialhilfe wesentlich billiger.

Mythos soziale Hängematte

Von den rund 80.000 schutzberechtigten Personen, die im untersten sozialen Netz aufgefangen werden, sind (Stand Ende 2023) rund 80% in Wien (62.000). Davon sind allerdings etwa die Hälfte Kinder, Menschen mit Behinderung oder im Pensionsalter. Von den 30.500 Personen im arbeitsfähigen Alter erhalten nur etwa 11.300 die Mindestsicherung im Vollbezug, der Rest erhält nur Ergänzungsleistungen, weil etwa das Einkommen unter der Mindestsicherungsschwelle ist.

Vom Mythos der Zuwanderung in die soziale Hängematte bleiben nach Betrachtung der nüchternen Zahlen weniger als 1% der Wiener Bevölkerung, die meist erst vor Kurzem einen Schutztitel erhalten haben. Die müssen dem Arbeitsmarkt aber auch zur Verfügung stehen, damit sie die Mindestsicherung bekommen können.

Realitätsfremd und abgehoben

Die mittlerweile jahrelange, überparteiliche Kampagne „Stopp der Zuwanderung ins Sozialsystem“ funktioniert jenseits jeglicher Faktenbasis. 

Das Gesamtbudget für die Sozialhilfe/Mindestsicherung beträgt etwa 1 Milliarde Euro. Das Einsparungspotential, das man durch weitere Kürzungen erreichen kann, ist minimal. Und es wird durch höhere Kosten konterkariert, die durch die Nebeneffekte verursacht werden.

Doch darum geht es nicht: Es ist ein ideologisches Projekt, ein Fetisch. Die immerjunge Erzählung von der „Zuwanderung ins Sozialsystem“ geht rein. Aber auch wenn sie noch so oft erzählt wird: Sie wird deswegen nicht richtiger.

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