Dass über den Sozialstaat nur noch autoritär geredet wird, ist ein demokratisches Versagen

Der Sozialstaat ist eine der großen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Er hat sich nach dem Entstehen des modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert entwickelt. Schon Kaiser, Könige und reaktionär-konservative Kanzler wussten, wie wichtig er für sie ist. Der Sozialstaat ist nämlich der für sie nötige Kompromiss. Gäbe es keinen Sozialstaat, müssten die Herrschenden zurecht fürchten, dass die Bevölkerung irgendwann nicht mehr mitmacht. Der soziale Frieden wäre gefährdet.
Der Sozialstaat wurde, dank der Arbeiterbewegung, ausgebaut und gefestigt, so dass trotz Kapitalismus so etwas wie Umverteilung möglich war. Sozialstaatliche Maßnahmen führen zu gleicheren und damit gerechteren und freieren Gesellschaften. Es ist kein Wunder, dass die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten am besten funktionieren.
Autoritäre Haltung in der Debatte
Doch seit Jahrzehnten spricht man über den Sozialstaat nur noch autoritär. Es wird überlegt, was weg muss oder zumindest weniger werden soll. Nun trifft es in Deutschland wieder einmal die Bürgergeld-Empfänger:innen. Es sind jene Menschen, die bis jetzt durch alle sozialen Netze gerutscht sind und die ganz unten angekommen sind.
So wird es aber nicht diskutiert. Wie in Österreich bei der Mindestsicherung wird so getan, als sei das Bürgergeld das schöne Leben. Aktuell geht man gegen die “Totalverweigerer” vor – also Leute, die nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen. Wer will solche Leute verteidigen? Diese Denke besagt: „Wer nicht mal einen simplen Termin wahrnehmen kann, der kann ja wohl auch nichts mehr von der Gesellschaft erwarten.“
Viel Raum für eine Debatte um fast nichts
Es ist auch absurd, wie wichtig das in der Debatte wird. Denn dieser Vorwurf trifft auf etwa 23.000 Menschen in Deutschland zu – oder 0,6 % aller Beziehenden (und 0,028 % der Gesamt Bevölkerung). Das ist schon bevor man darüber spricht, warum diese Menschen das tun, eine verschwindend kleine Zahl. Auch was das Budget betrifft. Die vollmundig angekündigten Einsparungen von 170 Millionen Euro wären für so ein großes Land weitgehend irrelevant, aber nicht einmal die können damit auch nur ansatzweise erreicht werden.
Zum Vergleich: Steuerhinterziehung kostet Deutschland jedes Jahr 100 Milliarden Euro und Österreich 13 Milliarden.
just sayin‘
— Helena Steinhaus (@helenasteinhaus.bsky.social) October 8, 2025 at 8:57 AM
Rachefantasien statt Lösungen
Trotzdem schießt die hohe Politik auf ein verschwindend kleines Problem. Dabei schaut nichts für den Staat heraus; es wird nur ein emotionales Bedürfnis nach Niedertracht bedient.
Dabei kann es viele gute (und schlechte) Gründe geben, warum Leute etwa Termine nicht wahr nehmen. Es mag die „alles egal“-Haltung geben, aber mehrfach verpasste Termine können auch Anzeichen von Depression, Überforderung und Burnout sein. Mit einer Hilfestellung oder einem Wegweiser im Gesundheitssystem würde sich ein Teil der “Totalverweigerer” vielleicht sogar in Luft auflösen.
Aber so wird nicht einmal mehr diskutiert. Der Sozialstaat wird nicht mehr als Investition in den sozialen Frieden, den Wohlstand und unter dem Strich auch in die Zukunft des Landes besprochen. Er ist nur noch Zielscheibe von, von jeder Realität losgelösten, Rachefantasien an „Nichtleistenden“. Die Krise ist da und an irgendwem muss man sich abreagieren.
Dies führt zu einer generellen Akzeptanz von autoritären Maßnahmen in der Bevölkerung. Wer an sich selbst den Autoritarismus erlebt, ist zu weniger Solidarität bereit. Wer erlebt, dass es akzeptiert ist und Freude macht, nach unten zu treten, ist zu keiner Solidarität mehr bereit.
Wir als Bevölkerung sollten uns das nicht bieten lassen. Es sind unsere Rechte und Freiheiten, die hier ausgehölt werden. Alle demokratischen Parteien täten deshalb gut daran, den Sozialstaat als das behandeln, was er ist: eine zivilisatorische Errungenschaft.