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Arbeitswelt
Ungleichheit

“Kaum eine Erkrankung steht nicht mit Armut oder Benachteiligung in Verbindung“

Armut und Krankheit hängen meist zusammen: Auch in der Corona-Pandemie Foto: Aaron Blanco Tejedor/Unsplash
Das Risiko krank zu werden, hängt auch mit Arbeit, Einkommen und der Wohnsituation zusammen. Was man dagegen tun kann? Der Soziologe Nico Dragano im Gespräch.

In Deutschland, Österreich und anderen Ländern gibt es eine starke Ungleichheit bei Gesundheit und Krankheit, und der Lebenserwartung. Sie ist bei ärmeren Menschen kürzer als bei reicheren. Der Zusammenhang ist nicht neu: Schon seit den 60er Jahren ist in Studien erforscht, dass Armut ein entscheidender Faktor bei Gesundheit ist. 

Auch in Pandemie zeigt sich das: Je weniger Geld, desto größer das Risiko einer Ansteckung mit dem Virus. So haben Langzeitarbeitslose ein 94 Prozent höheres Risiko, mit einem schweren Coronaverlauf im Krankenhaus zu landen, als Menschen mit einer regulären Beschäftigung. Das ist das Ergebnis einer Studie aus Deutschland. 

Einer der Studienautoren ist Nico Dragano. Der Gesundheitssoziologe untersucht, welche Wirkung soziale Phänomene wie Konflikte, Stress und Armut auf die Entstehung von Krankheiten haben. Im Interview mit MOMENT erzählt der Professor für Medizinische Soziologie von gesunden Wohnverhältnissen, Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen und wie armutsbetroffene Menschen besser vor Covid-19 geschützt werden können. 

MOMENT: Gehen Armut und Krankheit immer Hand in Hand? 

Nico Dragano: Man kann es fast so formulieren. Es gibt kaum eine Erkrankung, die nicht mit Armut oder sonstiger Benachteiligung in Verbindung steht. Das beginnt schon bei der Geburt, wo bestimmte Risikofaktoren wie Untergewicht Säuglinge aus armen Familien häufiger treffen. Risikofaktoren stehen eine Stufe unter einer Erkrankung. Das zieht sich dann durch bis ans Lebensende und ist bei allen großen Erkrankungsgruppen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselkrankheiten, Unfallrisiken und auch psychischen Krankheiten beobachtbar. Es gibt in Deutschland also eine ausgeprägte gesundheitliche Ungleichheit. Genauso wie auch in Österreich und in vielen anderen Ländern. 

MOMENT: Das passt auch zu der Studie, die sie zu COVID-19 gemacht haben. Langzeitarbeitslose haben demnach eine 94 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, schwer an COVID-19 zu erkranken als Menschen in Beschäftigung. Das ist eine absurd höhere Wahrscheinlichkeit. Haben Sie dieses Ergebnis erwartet? 

Dragano: Es gab bereits in anderen Ländern Studien, die zeigen, dass schwere COVID-19-Verläufe bis hin zur Sterblichkeit häufiger Menschen treffen, die in ökonomisch schwierigen Lagen sind. Bei unserer Studie haben wir Krankenhausaufenthalte mit COVID-19 als Anhaltspunkt genommen. Im Krankenhaus werden die Menschen behandelt, die einen schweren Verlauf haben. Wir haben uns angesehen, welche Bevölkerungsgruppen das sind. Und es waren besonders Langzeitarbeitslose, aber auch Menschen in Niedriglohn-Jobs, die häufiger eine Covid-Diagnose aus dem Krankenhaus hatten.
 

Menschen die krank werden, verlieren eher ihre Arbeit. Arbeitslosigkeit kann krank machen, aber Krankheit kann eben auch arbeitslos machen.

MOMENT: Was sagen Sie zu Menschen, die sagen, dass Betroffene selbst schuld seien, weil sie nicht auf sich schauen und nicht gesund leben würden? 

Dragano: Die Medizin sollte auf den Bedarf schauen und diese Menschen haben einen höheren Bedarf. Das hat wenig damit zu tun, dass Langzeitarbeitslose sich mit Absicht häufiger anstecken, zum Teil stecken diese sich sogar seltener an. Das Problem ist, dass sie oft mit anderen Krankheiten wie Herzkrankheiten, Übergewicht, Diabetes vorbelastet sind. Wenn sie mit dieser Vorerkrankung eine COVID-19-Symptomatik haben, ist die Prognose schlechter. Die Vorerkrankung kann sich schon über Jahrzehnte vor der Pandemie entwickelt haben.

Das wird häufig nicht gesehen, stattdessen greift der Halo-Effekt. Das heißt, man schließt von dem Label der Arbeitslosigkeit auf negative persönliche Eigenschaften. Doch die Schuldfrage bringt niemanden auch nur einen Millimeter weiter. Hauptgrund sind die gesellschaftlichen Bedingungen.

MOMENT: Welche Bedingungen sind das? 

Dragano: Gesunde Wohnbedingungen sind beispielsweise in Deutschland für Menschen mit wenig Geld schwerer zu bekommen. Oder es hängt auch vom Einkommen ab, ob Sie Sport machen können. Oder ob sie sich gesunde Lebensmittel leisten können. Hinzu kommen psychische Belastungen. Arbeitslosigkeit ist ein massiver Stressor, der unter anderem auch das Immunsystem drosseln könnte, was in einer Situation wie jetzt nicht günstig ist.

MOMENT: Macht arm sein krank oder krank sein arm?

Dragano: Dabei gibt es Rückkopplungen: Menschen, die krank werden, verlieren eher ihre Arbeit. Arbeitslosigkeit kann krank machen, aber Krankheit kann eben auch arbeitslos machen. Als verfestigter Zustand schaukelt sich das hoch und so können dann andere Krankheiten entstehen.

 
Gesundheitssoziologe Nico Dragano

Gesundheitssoziologe Nico Dragano Foto: Privat

MOMENT: Sie haben COVID-Ansteckungen am Arbeitsplatz untersucht. Ein Ergebnis ist, dass die Infektionszahlen vor allem dort steigen, wo viel produziert wird – wo Menschen in der Industrie arbeiten. Welche Rolle spielt der Beruf beim Infektionsrisiko?

Dragano: Wir haben nicht direkt das Infektionsrisiko analysiert, sondern uns Zeitverläufe der Neu-Erkrankungen in bestimmten Gegenden angeschaut und Hinweise auf spezifische Cluster gesucht. Also Hinweise, was Arbeiten vor Ort für das Infektionsgeschehen bedeuten könnte. Das ist eine erste Annäherung. Es gibt zu der Auswirkung von Berufsleben auf das Infektionsgeschehen bislang nur sehr wenige Daten. Trotz allem sieht man auf der regionalen Ebene, die wir untersucht haben: In Regionen, wo viel vor Ort gearbeitet wird, sind die Infektionszahlen hoch.

MOMENT: Und es können ja nicht alle Home-Office machen. 

Dragano: Vermutlich sind Infektionsrisiken in der Arbeitswelt auch sozial ungleich verteilt. Homeoffice steht vor allem AkademikerInnen offen. ArbeiterInnen, BusfahrerInnen und AltenpflegerInnen können nicht einfach zuhause bleiben. Dabei gibt es natürlich auch akademische Berufe, die ein erhöhtes Risiko haben, denken Sie an ÄrztInnen. 

MOMENT: Was könnte man jetzt tun, damit arme Menschen jetzt besser vor einer COVID-19 Erkrankung geschützt werden?

Dragano: Wir müssen als Erstes eine solide Datenbasis schaffen. So können wir sehen, wenn in einem benachteiligten Stadtviertel mehr Ansteckungen passieren. Für die Lösung sind dann Politik, Öffentlichkeit und die Menschen selbst zuständig. Sie müssen auch eingebunden werden. Weiß man von einem spezifisches Problem in einem Stadtteil oder einer Berufsgruppe, kann man genau für dieses Problem Lösungen suchen. Beispielsweise, indem man hinterfragt, wie gut der Arbeitsschutz bei prekär Beschäftigten umgesetzt wird. 

Dann sollten Notfalls-Anpassungen gemacht werden, Tests gefordert, Freiräume geschaffen und Schutzkleidung zu Verfügung gestellt werden – und ärmere Menschen finanziell dabei unterstützt, sich Schutz leisten zu können. Ebenfalls diskutiert und in manchen Städten bereits umgesetzt werden gezielte Impfkampagnen in sozial und gesundheitlich besonders belasteten Stadtteilen. 

Diese Maßnahmen zahlen sich auch finanziell aus. Investiert man in Prävention, zahlt man schlussendlich nicht so viel für die Behandlungen. Jeder Mensch, der nicht erkrankt, ist erstens ein menschlicher Gewinn und ist zweitens auch das, was wir im Gesundheitssystem erreichen wollen. 

MOMENT: Gibt es Länder oder Kommunen, die hier eine Vorreiterrolle haben? Wo das ganz gut funktioniert?

Dragano: Es gibt mittlerweile einige Kommunen, die vorangehen. Ein Beispiel ist Bremen, wo GesundheitsberaterInnen in verschiedene Stadtteile aktiv sind und gemeinsam mit den BewohnerInnen gemeinsam an Lösungen zur Vermeidung von Infektionen arbeiten.

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