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Österreichs schleppende Behindertenpolitik in der Kritik: "Die scheißen auf Behinderte"

Die Behindertenpolitik in Österreich steht in der Kritik. Vor zehn Jahren beschloss die Regierung einen Plan zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Die Umsetzung ist mangelhaft. Aktuell wird an einem neuen Nationalen Aktionsplan gearbeitet.

„Sieben Jahre“, stöhnt Thomas S. – so lange hat es gedauert, bis er einen Platz in einer WG für Menschen mit Behinderungen gefunden hat. Am Wienerwaldsee hat er nun ein Zuhause gefunden, das an seine Bedürfnisse angepasst ist. Barrierefreiheit ist für ihn als Rollstuhlfahrer generell ein schwieriges Thema. „Gerade ältere Gebäude sind oft nicht barrierefrei. Zum Beispiel das Wohnhaus von Oma und Opa“, erzählt er. Dort gibt es zwar einen Aufzug, der ist aber nur über einige Stufen zu erreichen.

Probleme wie diese sollten in Österreich heute eigentlich Geschichte sein. 2008 unterzeichnete Österreich die UN-Behindertenrechtskonvention und verpflichtete sich damit, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen voranzutreiben. Um dieser Verpflichtung nachzugehen wurde der Nationale Aktionsplan Behinderung (kurz NAP Behinderung) ins Leben gerufen. Auf 118 Seiten bekundete das Sozialministerium die Strategie der österreichischen Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Der Aktionsplan lief von 2012 bis 2021. Dass sich für Menschen mit Behinderungen seither viel verändert hat, bestreitet Thomas: „Ich bekomme kaum Geld. Ich darf nicht auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten. Ich verstehe nicht, was die Regierung in den letzten zehn Jahren gemacht hat.“

Behindertenpolitik in Österreich: „Zufriedenstellende“ Lippenbekenntnisse?

Aus dem Sozialministerium heißt es, die Maßnahmen des NAP Behinderung konnten “im Wesentlichen zufriedenstellend abgeschlossen werden.” Von den 250 Maßnahmen seien in etwa drei Viertel vollständig umgesetzt, der Rest bis auf wenige Ausnahmen in einer “zufriedenstellenden Umsetzungsphase.“ 

Über die Anzahl der umgesetzten Maßnahmen lasse sich streiten, so Bernhard Bruckner, Generalsekretär des Österreichischen Behindertenrats. Denn darüber was als abgeschlossen gewertet werden kann, gäbe es unterschiedliche Auffassungen. „Maßnahmen wurden hauptsächlich dort umgesetzt, wo sie einfach waren und wo sie nichts gekostet haben”, hält Bruckner fest. Tiefgreifende, strukturverändernde Maßnahmen blieben zu einem großen Teil unberührt.

„Die scheißen auf Behinderte“

Auch Robert M. steht dem Aktionsplan kritisch gegenüber: „Ein Plan ohne konkrete Meilensteine, keine Ressourcen. Kein Auftragnehmer, der die Prozesse übernehmen soll. Eine vollkommen absurde Geschichte, von Anfang an.” Sein Sohn hat eine kognitive Behinderung, darum setzt sich der Familienvater auf sozialen Medien für eine inklusive Gesellschaft ein. Von den Entwicklungen der letzten Jahre ist er enttäuscht. 

Früher seien Leute für die Rechte von Menschen mit Behinderungen noch auf die Straße gegangen, erinnert er sich. Heute interessiere das Thema niemanden mehr. Auch Thomas zeigt sich frustriert über die österreichische Behindertenpolitik: „Die scheißen auf Behinderte.“

Wissenschaftliche Analyse der Behindertenpolitik

Kritik wird auch in der Evaluierung des NAP Behinderung geäußert. Dafür wurden die Dokumente wissenschaftlich analysiert und Expert:innen innerhalb und außerhalb der Verwaltung befragt. So heißt es unter anderem, dass die Finanzierung der Maßnahmen von Anfang an nicht sichergestellt war. Zudem waren die Bundesländer nicht ausreichend beteiligt, obwohl ein großer Teil der geplanten Maßnahmen in deren Zuständigkeitsbereich fiel. War der Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Die Ergebnisse der Evaluierung lassen dies zumindest vermuten.

Trotz aller Kritik gab es auch positive Entwicklungen. „Einer der größten Erfolge war sicherlich das neue Erwachsenenschutzrecht“, betont Bernhard Bruckner, „außerdem haben viele staatliche Akteure begriffen, dass sie sich mit dem Thema Behinderung beschäftigen müssen. Aber das sind erste kleine Pflänzchen, die man lange und viel gießen muss, damit wirklich eine Blume daraus wird.“ 

Die Lebensrealitäten in Österreich bleiben gleich

Thomas arbeitet in einer Tagesstruktur – so werden hierzulande Werkstätten für Menschen mit Behinderungen genannt. „Ich arbeite von Montag bis Donnerstag, immer von 8 bis 16 Uhr. Dafür bekomme ich ein Taschengeld von einem Euro pro Tag.“ Seinen Lebensunterhalt finanziert er durch staatliche Unterstützungen wie Pflegegeld und eine erhöhte Familienbeihilfe. Eine wirkliche Alternative gibt es nicht, denn für Menschen mit Behinderungen ist es schwierig, einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. 

Über ähnliche Erfahrungen berichtet auch Robert. Es gäbe zwar Institutionen, die behinderten Personen dabei helfen sollen, am Arbeitsmarkt integriert zu werden, doch auch hier wird aussortiert. „Brauchbare“ Personen werden in die Programme aufgenommen, alle anderen landen in der Tagesstruktur, so Robert. „Tagesstruktur heißt: Mein Sohn bleibt sein Leben lang ein Kind. Er bekommt keinen Lohn, keine Sozialversicherung und keinen eigenen Pensionsanspruch.“

Österreich geht aktuell in die zweite Runde

Nachdem der erste NAP Behinderung voriges Jahr ausgelaufen ist, soll heuer eine zweite Version in Kraft treten. Dafür wurden bereits inhaltliche Vorschläge von den Bundesministerien, Bundesländern und Vertreter:innen der Behindertenrechtsorganisationen eingeholt. 

Einige der Kritikpunkte des Vorgängerplans sollen nun berücksichtigt werden. Außerdem soll die persönliche Assistenz ausgebaut und die Inklusion im Schul- und Beschäftigungsbereich verbessert werden. Anders als beim ersten Aktionsplan sollen nun messbare Indikatoren Aufschluss darüber geben, ob geplante Ziele erreicht werden oder nicht. Bis zum Sommer soll der Maßnahmenplan fertiggestellt und im Ministerrat beschlossen werden. Ob es diesmal besser läuft?

Für Bernhard Bruckner ist der NAP Behinderung grundsätzlich ein wichtiges Signal und ein gutes Mittel um vor allem das Bewusstsein für die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen zu schärfen. Ein Punkt, der auch für Robert von zentraler Bedeutung ist: „Es ist wichtig auch jene Personen zu erreichen, die selbst nicht betroffen sind.“ Der Optimismus über die zukünftigen Auswirkungen des neuen NAP Behinderung, der von 2022 bis 2030 laufen wird, hält sich jedoch in Grenzen. „Wenn sich wirklich was verändert, wundere ich mich“, zweifelt Thomas. Bernhard Bruckner fasst es so zusammen: „Am Ende des Tages ist es eine politische Entscheidung. Haben die Politiker den Willen, etwas zu verändern oder nicht?“ 
 

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