Haft mit Seeblick: Warum junge Strafgefangene bei dieser Familie wohnen
„Meine Mutter hat uns vier Kinder über alles geliebt, aber sie war alleine mit uns und da lag die Aufmerksamkeit doch woanders.“ Manuel steht am Ufer des Hainer Sees in Sachsen, Deutschland. Vor ihm das Wasser, hinter ihm Ferienhäuser. „Ich habe Aufmerksamkeit gesucht und sie mir dann auf illegale Weise geholt“, sagt er.
Manuel heißt in Wahrheit anders. Er ist verurteilter Straftäter. Doch statt im Gefängnis verbringt er seit Februar seine Haft im Seehaus, einem alternativen Strafvollzug für junge Männer wie ihn.
Er hat sich geprügelt, mit Drogen gehandelt, Brandstiftung und schweren Diebstahl begangen. Und: Manuel ist ein warmer Mensch, aufmerksam und witzig, ein gewissenhafter Arbeiter.
Im Seehaus in Leipzig sollen die Straftaten in den Hintergrund rücken, der Mensch im Fokus stehen. Statt Gitter gibt es einen strukturierten Tagesablauf. Statt Wächter sorgen sich Hauseltern und Pädagog:innen um Manuel. Er ist 28 Jahre alt und wohnt hier in einer WG mit zwei anderen inhaftierten Männern und einer Familie mit drei Kindern. Seine eigene Jugend war schwierig.
Den Großteil seiner Strafe hat Manuel im regulären Vollzug schon abgesessen. Seit Februar lebt er im Seehaus. Hier bleiben ihm rund zwei Jahre, um sich auf ein Leben nach der Haft vorzubereiten. Er ist der erste Bewohner, der aus dem Erwachsenenvollzug herziehen durfte. Die meisten anderen hier sind deutlich jünger.
Bei seiner ersten Haftstrafe im Jugendvollzug lernt Manuel, sich zu verschließen. „Im Gefängnis musst du zügig lernen, alles abzuriegeln, sonst wirst du schamlos ausgenutzt. Du musst dich jeden Tag neu behaupten.“ Gewalt steht vor allem im Jugendstrafvollzug an der Tagesordnung. Im Gefängnis für Erwachsene gibt es seltener Handgreiflichkeiten, sagt Manuel. Aber wenn es eskaliert, dann richtig.
„Ich sitze zu Recht“, sagt er. „Ich vertrete generell die Meinung, man sollte dafür geradestehen, was man gemacht hat.“ Aber wie soll das aussehen, das „Geradestehen“?
Gewalt und Suizid: Es braucht eine Alternative zum Gefängnis
In einer deutschen Studie gaben zwei Drittel der Gefangenen im Jugendstrafvollzug zu, körperliche Gewalt ausgeübt zu haben. Jugendliche, die nicht zu Opfern werden wollen, werden dort vielleicht zum ersten Mal zu Tätern. Auch in Österreich ist Gewalt in Haft vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet. Die Suizidraten sind hierzulande im Gefängnis achtmal höher als in der allgemeinen Bevölkerung.
Projekte wie das Seehaus gibt es in Österreich nicht. Zwar gilt der Strafvollzug für Jugendliche und junge Straftäter in Gerasdorf, Niederösterreich, als vorbildlich. Trotzdem: „Gefängnisse sind schädlich und das wissen wir alle“, sagt Monika Mokre. Sie ist Politikwissenschaftlerin, hält Kontakt mit Strafgefangenen und hat zahlreiche Besuche in Anstalten hinter sich. „Sehr häufig hängen Straftaten mit anderen Problemen zusammen: kein Job, Gewalt in der Familie, Suchtmittelgebrauch. Diese Menschen brauchen Unterstützung.“
Diese Unterstützung gibt es im Seehaus. Zum Beispiel von Franz und Steffi Steinert. Sie sind Hauseltern für die drei Strafgefangenen in ihrer Wohngemeinschaft. Als sie vor zehn Jahren mit der Arbeit anfingen, war die erste Tochter erst ein paar Wochen alt. Jetzt sind es schon drei Kinder, die in den Insassen große Brüder auf Zeit finden.
Die Strafgefangenen bewerben sich aus dem Gefängnis in Sachsen. Voraussetzung ist, dass sie kein Sexualdelikt begangen haben und sich auf Deutsch verständigen können.
„Bis jetzt hatten wir rund 60 junge Männer bei uns. Mit den meisten bin ich noch in Kontakt“, sagt Franz. Sogar bei einer Hochzeit war die Familie schon eingeladen.
Es ist noch nicht einmal 6:00 Uhr. Der Hainer See funkelt türkis, die Vögel singen, die Männer laufen. Zweimal die Woche gibt es Frühsport. Ihren Mithäftling Danny schieben sie abwechselnd in einer Schubkarre vor sich her. Das ist Tradition, Danny wird am nächsten Tag entlassen. Am Ufer bleiben sie stehen. Eigentlich war auch eine Runde Schwimmen angesagt. Manuel ist der einzige der jungen Männer, der sich ins Wasser traut. Den anderen ist es zu kalt. Mit triefenden Klamotten läuft er barfuß zurück ins Seehaus.
Nach dem Sport wird gemeinsam gelesen. Manuel hat ein Buch über die Hooligan-Szene in der Hand. Ein anderer liest einen Roman von Dan Brown. Dann kommt das Frühstück. Die Männer essen Cornflakes mit Milch und Kakao und schmieren sich Brote für später. Bevor es zur Arbeit geht, wird die gesamte WG geputzt.
Manuel ist Monatsbester
Manuels Tage sind streng durchgeplant. Hausmutter Steffi benotet Pünktlichkeit, Verhalten und wie sorgfältig die Aufgaben erledigt werden. Sind die Noten stetig gut, steigen die Männer auf und bekommen mehr Freiheiten: rauchen gehen ohne Aufsicht, am Wochenende nach Hause fahren, für eine Zeit das eigene Handy benutzen dürfen. Manuel ist in der zweithöchsten Stufe, obwohl er noch gar nicht lange da ist. Sein Porträt ziert die Pinnwand im Stiegenhaus. Darüber steht: „Monatsbester“ und „Wochenbester“.
Manuels Arbeitsplatz ist an diesem Tag der Garten eines alten Ehepaars. Sein Ausbildner geht vor und bespricht, was alles zu tun ist. Das Unkraut gehört weg. Manuel nickt und sagt: „Ich denke, das kriegen wir hin.“
Bald kniet er am Straßenrand und reißt das Unkraut aus dem Boden, das am Zaun wächst. Es fängt an zu regnen, Manuel arbeitet kommentarlos weiter, bis er zur Kaffeepause geholt wird. Die ältere Frau hat das Seehaus schon mehrmals beauftragt. Sie glaubt an das Projekt. Zu Manuel sagt sie: „Nutzen Sie die Chance, die gibt es nur einmal. Machen Sie etwas daraus.“ Manuel nickt. „Werden wir schon hinkriegen.“
Das Seehaus ist ein Ort für junge Männer, die abgeschrieben wurden. Ob von der Familie, der Gesellschaft oder von sich selbst. „Ich habe die Ambition, das zu schaffen“, sagt Manuel. „Aber irgendwie fehlt immer dieser letzte Schritt.“ Eigentlich war Manuel schon im gelockerten Vollzug. Er durfte das Gefängnis regelmäßig verlassen. Draußen kam es zu einem „Vorfall“, der dazu führte, dass ihm die Vollzugslockerung wieder entzogen wurde.
Mittlerweile schüttet es. Manuel will trotzdem wieder raus. Er mag es nicht, herumzusitzen. Dann lieber arbeiten.
Die Arbeit draußen ist wichtig, meint Hausvater Franz. Die jungen Männer sollen in Kontakt mit der Außenwelt bleiben. Für Manuel ist das eine Herausforderung. „Für den Kopf ist es so, man lebt irgendwie in Freiheit. Man fährt zur Arbeit, ist oft draußen, aber man ist trotzdem noch im Vollzug.“
Ausflüge zum Klettern, Grillpartys und Familienabende verbringen Hausfamilien mit den Strafgefangenen. Im Wohnzimmer kommen abends alle zusammen. Ehrenamtliche Mitarbeiter:innen kochen Fisch in der großen Küche. Franz sitzt auf dem Sofa und spielt Gitarre, sein Sohn Tischfußball.
Im Seehaus sollen die jungen Männer offen kommunizieren, ihre Gedanken teilen und den anderen Feedback geben. Nicht einfach für Manuel. „Ich brauche übel lange, bis jemand an mich rankommt.“
Im Gefängnis war manches sogar einfacher für ihn. „Dort konnte ich meinen Haftraum abschließen lassen und hatte meine Ruhe. Vier Jahre lang war ich alleine für mich. Hier ist rund um die Uhr etwas los“, sagt Manuel. Das ist eine große Umstellung.
Franz merkt an, dass sich Manuel an die Strukturen der Anstalten gewöhnt hat. „Wir achten darauf, dass es sich die jungen Männer nicht zu gemütlich machen. Die familiäre Atmosphäre ist das eine, das harte Alltagstraining das andere.“ Das Ziel sei nicht, eine „coole Haftzeit“ im Seehaus zu verbringen, sondern den zu Männern helfen, nach der Haft im Leben klarzukommen.
Resozialisierung – das ist auch das Ziel des modernen Strafvollzugs in Österreich. Nach der Haft sollen sich Straftäter wieder in die Gesellschaft eingliedern und keine Straftaten mehr begehen. Nur funktioniert das so nicht. Ein großer Teil wird wieder straffällig.
Nach einer unbedingten Freiheitsstrafe liegt die Rückfallrate bei 39,4 Prozent. Die überwältigende Mehrheit der Rückfälligen muss nach dem neuen Urteil wieder ins Gefängnis. Noch höher ist die Rate bei jenen, die für die gesamte Zeit im Gefängnis waren, also nicht früher auf Bewährung rausdürften. 46,9 Prozent von ihnen wurde in den folgenden vier Jahren wieder wegen einer Straftat verurteilt.
Ein weiterer Risikofaktor ist das Alter. Jugendliche haben ein deutlich höheres Risiko, wieder verurteilt zu werden. Unabhängig von der Art der Strafe es das bei 57,4 Prozent der Jugendlichen der Fall. Bei den jungen Erwachsenen (18-20) sind es 42,3 Prozent. Deutlich niedriger ist die Quote mit 27,7 Prozent bei den übrigen Erwachsenen.
Die Zahlen wundern Politikwissenschaftlerin Monika Mokre nicht. „Nach der Haft hast du kein Geld, keine Wohnung und wahrscheinlich Familie und Freunde verloren. Wieso sollte das dazu führen, dass du dir leichter tust in der Gesellschaft?“, fragt sie.
Franz und die anderen Mitarbeiter:innen bleiben nicht nur mit den jungen Männern in Kontakt, sie helfen auch langfristig bei der Suche nach Wohnung, Ausbildung und Job. 96 Prozent der Entlassenen konnten vermittelt werden. Alle hatten zum Zeitpunkt der Entlassung eine sichere Wohnsituation.
Ein Allheilmittel ist das Seehaus deswegen aber nicht. Etwa ein Drittel der Strafgefangenen bricht das Programm ab und geht zurück in den normalen Strafvollzug.
„Man weiß nie, wann es klappt“
„Ich habe auch zu den Abbrechern eine emotionale Verbindung und bleibe in Kontakt“, sagt Franz. Die Rate der Wiederverurteilungen ist für ihn zweitrangig. Ob es die Männer draußen wirklich schaffen, ist schwer vorherzusagen. Wenn man sich vorstellt, dass ein junger Mann 20 Jahre lang von schlechten Umständen geprägt wurde, da ist ein Jahr im Seehaus wenig dagegen.“ Manche fallen nach der Entlassung in ein Loch, erzählt er. Die Frage ist, ob und wie sie es schaffen, da wieder herauszukommen. Das Seehaus soll ihnen dafür legale Wege aufzeigen.
Können wirklich alle Menschen früher oder später ein gutes Leben führen? „Es fällt mir schwer, zu sagen: Diese Person ist ein verlorener Fall”, sagt Franz. “Aber man weiß nie, wann es klappt. Wir haben im Seehaus einen ehrenamtlichen Mitarbeiter. Bei dem hat die sechste Suchttherapie geholfen.“
Im Sommer kommen alle Bewohner der WGs frei, nur Manuel muss bleiben. Wer nachkommt, weiß er noch nicht. Was danach passiert, auch nicht. Zu weit in die Zukunft will Manuel nicht planen. „In fünf Jahren will ich draußen sein, Arbeit haben. Vielleicht eine Partnerin. Eine Wohnung. Meine Tochter alle zwei Wochen bei mir haben. Der Rest ist erstmal egal irgendwie.“
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Anmerkung: Die Namen der Strafgefangenen im Artikel wurden geändert.