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Ungleichheit

Drohender "Wohlstandsverlust"? Das Wort verschweigt die dramatischsten Auswirkungen der Krise

Ein neues Wort geistert herum. Es soll uns auf bittere Jahre einstimmen. Der deutsche Finanzminister verwendet es und mit ihm fast alle deutschsprachigen Zeitungen: der Wohlstandsverlust.
 

Wohlstandsverlust ist ein klassischer Euphemismus. Der Begriff überdeckt die eigentliche Drastik der Situation, die er nur andeutet, aber nicht ausspricht.

Die Armut in Österreich – wer ist betroffen?

Nachdem der Begriff auf die ganze Gesellschaft angewandt wird, unterscheidet er nicht nach Betroffenheit. „Wir werden Wohlstandsverluste erleiden“ bedeutet eigentlich, dass es zu Massenverarmungen jener Gruppen kommen wird, die bisher knapp über der Armutsgefährdung leben. Worum es eigentlich geht, das ist Verarmung.

„Wir“ bedeutet in diesem Fall auch nicht „wir“, sondern Menschen, die es jetzt schon schwer haben. Verarmung ist kein gemeinsamer solidarischer Prozess, sondern trifft die ohne Ressourcen ungleich mehr, als die, die es sich vielleicht gut oder auch nur gerade noch richten können.

Deswegen ist es immer wichtig zu fragen, wer hinter dem „wir“ eigentlich steht. Dieses „wir“ wird nämlich gerne bei schlechten und furchtbaren Dingen angerufen, etwa, wenn es um Wohlstandsverlust und Anstrengungen geht. Bei Gewinnen oder großen Vermögen steht aber plötzlich wieder eine einzelne Person im Vordergrund, die durch ganz alleinige, individuelle Anstrengung so reich geworden ist und deswegen auch überhaupt nichts teilen muss.

Vom privatisieren der Gewinne und dem Sozialisieren der Verluste

Denn es sind auch nicht die Allerreichsten der Gesellschaft, die nun fürchten müssen, groß von „Wohlstandsverlusten“ getroffen zu werden. Berechtigt fürchten müssen sich die unteren 50 oder 60 %. Sie kommen aber medial kaum vor.

Durchhalteparolen von oben, die euphemistisch von Wohlstandsverlusten sprechen, sind da nicht hilfreich. Das klingt, als könnte man das Drittauto oder den zweiten Jahresurlaub einsparen. Längst geht es für viele aber um die Frage, wie man Energie- und Gasrechnungen noch zahlen soll oder was man macht, wenn erneut eine Mieterhöhung kommt. Das ist eine Realität, die sich weder kaschieren noch wegtricksen lässt. Es geht nicht um kleine „Schmälerungen“ – auch so ein Euphemismus – sondern um die eigene Existenz.

Nicht „wir“ werden arm werden – sondern „ihr“! 

Eine Demokratie kann nicht funktionieren, wenn weite Teile der Bevölkerung Angst um ihre eigene wirtschaftliche Existenz haben. Mit schönen Worten und individuellen Tipps zum Energiesparen lässt sich das nicht wegdrücken. Auch nicht durch ein pseudosolidarisches „Wir“. Ein „Wir“ gäbe es, wenn die, die mehr als genug haben, denen etwas abgeben würden, die wenig bis nichts haben. Ein „Wir“ gäbe es, wenn harte und essenzielle Arbeit das höchste Einkommen hätte und nicht die, die ihr Geld „arbeiten“ lassen. Jede Anrufung von oben auf ein „wir“ bedeutet eigentlich „ihr“. „Wir werden Wohlstandsverluste erleiden“ heißt also „Ihr werdet arm werden“.

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