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Ungleichheit

Aufstieg in der Wissenschaft: “Von Chancengleichheit für Arbeiterkinder sind wir weit entfernt”

Arbeiterkinder in der Wissenschaft sind selten. Noch mehr, wenn sie Frauen sind. Die deutsche Soziologin Christina Möller im Gespräch zu Chancengleichheit in der Wissenschaft.

Arbeiterkinder in der Wissenschaft sind selten. Noch mehr, wenn sie Frauen sind. Die deutsche Soziologin Christina Möller forscht zu sozialer Ungleichheit und ist Mitherausgeberin des Buches „Vom Arbeiterkind zur Professur“. ProfessorInnen erzählen von ihrem persönlichen Werdegang, Chancengleichheit und dem Spagat zwischen den Welten. Sie alle forschen an deutschen Hochschulen. Die Situation ist aber durchaus mit Österreich vergleichbar.

Möller fordert im Interview: Soziale Herkunft soll kein Tabu mehr sein. Unterschiedliche Lebenserfahrungen von ForscherInnen bringen außerdem neue Blickwinkel, die den Wissenschaften gut tun.

 

MOMENT: Frau Möller, gibt es Chancengleichheit in der Wissenschaft?

Christina Möller: Davon sind wir weit entfernt. Das fängt aber nicht in der Wissenschaft an, sondern im Schulsystem an sich. Die Wissenschaft ist die oberste Spitze, die Selektion nach sozialer Herkunft fängt schon sehr früh an.

MOMENT: Wer hat es besonders schwer in der Wissenschaft aufzusteigen?

Möller: Frauen aus der Arbeiterklasse, aber auch migrantische Gruppen sind in Deutschland in der Professorenschaft stark unterrepräsentiert. Erfolgreiche Frauen und MigrantInnen in der Wissenschaft kommen meistens aus privilegierten Verhältnissen.

MOMENT: Versuchen Arbeiterkinder es gleich seltener oder scheitern sie einfach öfter?

Möller: Sie scheitern auf vielen Wegen. Das deutsche Bildungssystem ist sehr selektiv, das heißt, es gibt viele Übergangsschwellen und auf allen Stufen nachweisbare Selektionen. Viele Arbeiterkinder gehen zum Beispiel nicht auf Gymnasien. Und dann sind es auch nur wenige, die das Abitur machen und studieren. Oft ist auch bei Kindern mit Abitur eine Ausbildung viel naheliegender, weil das praktischer und weniger theoretisch ist.

MOMENT: Was macht es Arbeiterkindern besonders schwer? Was beeinflusst ihre Karriereleiter?

Möller: Neben dem vorhandenen Geld und damit den Unterstützungsleistungen, die den Kindern mitgegeben werden können, geht es auch um das kulturelle Kapital, das in den Familien bereits vorliegt: Also, welche Bildung haben meine Eltern? Können sie mich unterstützen? Welchen Stellenwert hat Bildung? All das ist ausschlaggebend dafür, wie Kinder durch die Familien angeregt werden können und mit welchen Voraussetzungen sie ins Bildungssystem eintreten. Es zählt immer das Verhältnis zu anderen, die privilegierter aufgewachsen sind und mit denen sie dann zu kämpfen haben. Es geht auch um Sprache, also: wie wortgewandt kann ich mich ausdrücken, welchen Dialekt spreche ich. Das sind Themen, die im akademischen Bereich besonders wichtig sind. Gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften kommt es stark auf die Sprache an.

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MOMENT: Manche schaffen es bis zur Professur. Wie haben sie das gemacht?

Möller: Bei den neunzehn Biografien im Buch sind nicht nur Arbeiterkinder dabei, sondern z.B. auch Kinder von Angestellten. Alle sind aus nicht-akademischen Familien und haben die Herausforderungen erfolgreich bewältigt. Viele davon sind Extremaufstiege – vom Arbeiterkind zur Professur, das doch eine sehr hohe Position ist. Der Extremaufstieg ist dabei meistens gar nicht von vornherein gewollt. Das, was meist angestrebt wird, ist, sich zu verändern. Das geht in der Regel über Bildung und nicht von einen Tag auf den anderen. Es sind keine Geschichten wie vom kleinen Rapper zum Millionär oder zum reichen Fußballstar.

MOMENT: Was ist unter den heutigen Bedingungen ausschlaggebend für den Erfolg in den erzählten Biografien?

Möller: Dafür wäre eine breite wissenschaftliche Studie nötig. Daher dazu nur eine kurze Antwort: Ein gewisser Bildungshunger, die Entdeckung neuer Welten und Erkenntnisinteressen ist wesentlich, um aus den Grenzen des Herkunftsmilieus auszubrechen. Also vor allem eine von innen kommende Motivation, die dann eine lange Bildungsbiografie nach sich zieht. Aber auch das Mutmachen durch wohlmeinende LehrerInnen in der Schule und Wissenschaft hilft.

Abgesehen von mehr Förderungen ist es wichtig, dass die Herkunft kein Tabu mehr ist.

MOMENT: Wie kann man die Bedingungen für Arbeiterkinder verbessern?

Möller: Es sollen wirklich die Menschen gefördert werden, die nicht schon die nötigen Strategien von Zuhause mitbringen, um Karriere zu machen. Es wissen einfach viele nicht, was du genau machen musst, um dort und da hinzukommen. Abgesehen von mehr Förderungen ist es wichtig, dass die Herkunft kein Tabu mehr ist.

MOMENT: Müssen sich Arbeiterkinder stark verbiegen, um dann in einer hohen Position zu bleiben oder an die Position zu kommen – vielleicht sogar ihre Herkunft verleugnen?

Möller: Auch hier gibt es sehr große Unterschiede. Manche sind weiterhin sehr harmonisch mit ihrem Elternhaus verbunden und müssen sich nicht großartig verbiegen, manche müssen aber richtig kämpfen. Sie erzählen auch in den Biografien viel vom Spagat zwischen den Welten. Aber auch von einem doppelten Bewusstsein, weil in vielen Familien andere Werte und Gepflogenheiten herrschen als im akademischen Umfeld. Die einen schaffen es ganz gut und die anderen kämpfen ihr Leben lang.

Es kommt dann auch zu Situationen, die mit Scham behaftet sind. Oder wo einige das Gefühl haben, einfach nirgendwo mehr richtig dazuzugehören – weder zum Herkunftsmilieu, noch zum akademischen Milieu. Manche wollen auch nicht dazugehören, weil sie merken, dass sie sich nicht komplett angepasst haben und sozusagen noch “ein Kind ihrer Eltern” sind.

Es gibt viele Überschneidungen zur Integration der Frauen in der Wissenschaft. Früher war der Mensch klassischerweise männlich, weil Wissenschaft fast gänzlich von Männern betrieben wurde.

MOMENT: Was bringt es eigentlich, wenn der soziale Hintergrund von ProfessorInnen durchmischter, größer, breiter ist?

Möller: Die Bevölkerung wird stärker repräsentiert, weil Lebenserfahrung immer in das Forschungsinteresse mit einfließt. Und das gilt nicht nur für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Es werden Sensibilitäten mitgeliefert, Perspektiven und Blickwinkel, die sonst eher einseitig sind oder wo bestimmte Personengruppen einfach kein Interesse daran haben, weil ihnen doch gewisse Erfahrung fehlt. Außerdem würden mehr Rollenvorbilder vorhanden sein, auch das ist wichtig.

Es gibt viele Überschneidungen zur Integration der Frauen in der Wissenschaft. Früher war der Mensch klassischerweise männlich, weil Wissenschaft fast gänzlich von Männern betrieben wurde. Heutzutage werden auch Perspektiven anderer Geschlechter einbezogen. Es ist schön, dass man das jetzt sieht. Dementsprechend ist auch die soziale Herkunft unheimlich wichtig. Man merkt das auch an den Forschungsperspektiven und an den sozialen Engagements, dass AufsteigerInnen in der Regel eher sensibilisiert und kritisch sind.

MOMENT: ProfessorInnen aus Arbeiter- und einfachen Angestelltenfamilien forschen eher in einem sozialen Feld und engagieren sich kritisch?

Möller: Zumindest fast alle, die sich mit sozialem Aufstieg beschäftigen, sind selbst AufsteigerInnen. Das heißt aber nicht, dass sich Akademikerkinder grundsätzlich nicht sozial engagieren, das ist Quatsch. Meist gehen aber wichtige Impulse es von betroffenen Menschen aus, die sich öffnen und versuchen ihre Perspektiven mit einzubringen – und das ist eine Bereicherung für die ganze Gesellschaft. Was noch immer zu wenig einfließt, ist die Lebenserfahrung von migrantischen Gruppen in der Wissenschaft.

 
Christina Möller von der Fachhochschule Dortmund lächelt in die Kamera.

Christina Möller forscht in Dortmund zu sozialer Ungleichheit, Bildungssoziologie und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

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