“Falsche Barrierefreiheit”: Wenn die Welt aus Hürden besteht
Roland Übelbacher ist von Geburt an behindert und sitzt im Rollstuhl. Für ihn kann eine kleine Erledigung zu einer riesigen Hürde werden. Schnell ein Rezept einlösen oder einen kurzen Abstecher zum Supermarkt: “Ich wollte vorher etwas aus der Apotheke abholen. Die hatte zwar keinen barrierefreien Zugang, aber neben den Stufen gab es eine Glocke für Rollstuhlfahrer. Mein Problem: Aufgrund meiner Beeinträchtigung war es mir nicht einmal möglich zu läuten”, erzählt Übelbacher.
Ohne Barrierefreiheit sind viele Menschen in alltäglichen Situationen aufgeschmissen. Ein Leben mit Behinderung erfordert viel Planung: Sind die Toiletten in einem Lokal barrierefrei zugänglich? Passt der Rollstuhl durch die Eingangstür? Gibt es vor dem Geschäft eine Rampe? Selbst wenn ja, ist sie für Rollstuhlfahrer oft ungeeignet, sagt Übelbacher: “Manche Rampen sind viel zu steil und schmal für die meisten elektrischen Rollstühle.”
Foto: equalizent
Das Gesetz schreibt Barrierefreiheit in Österreich vor
Was Roland Übelbacher schildert, sollte eigentlich längst der Vergangenheit angehören. Seit 2006 müssen alle Waren, Dienstleistungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, barrierefrei angeboten werden. Für die Beseitigung der vorhandenen Barrieren gab es eine zehnjährige Übergangsfrist, neue Gebäude müssen barrierefrei gebaut werden. Von tatsächlicher Barrierefreiheit ist Österreich jedoch 15 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch weit entfernt.
Wie barrierefrei ist Wien?
Weniger als jedes zweite Geschäft in Wien ist stufenlos zugänglich. Das zeigt eine Studie des Behindertenverbands ÖZIV aus dem Jahr 2020, welche die Barrierefreiheit in den Einkaufsstraßen erfasst hat.
“Es ist ernüchternd, dass es seit unserer ersten Studie aus dem Jahr 2014 so gut wie keine Fortschritte bei der Barrierefreiheit gibt”, sagt ÖZIV-Präsident Rudolf Kravanja. Dies hat mehrere Gründe. Barrierefreiheit findet sich nicht in den Baugesetzen wieder. “Der ‘Schlupfwinkel’ der ‘Zumutbarkeit’ führt dazu, dass der Ausgang von rechtlichen Schritten höchst unsicher ist.”
Wer angibt, es sei unzumutbar, das Geschäft barrierefrei zu gestalten, muss kaum mit Konsequenzen rechnen. “Es erfolgen keinerlei Überprüfungen der Barrierefreiheit vonseiten der Behörden und es gibt seitens der Politik und des Handels zu wenig Bewusstsein für dieses Thema”, sagt Kravanja. Wer durch eine Barriere zum Beispiel am Einkaufen gehindert wird, kann zwar wegen Diskriminierung klagen – bekommt am Ende aber im besten Fall bloß Schadenersatz. Die Barriere bleibt bestehen, erklärt Kravanja.
“Barrierefreiheit ist nicht gleich Barrierefreiheit”
Bei Roland Übelbacher wurde als Kind eine tetraspastische Parese diagnostiziert, das bedeutet, dass er Arme und Beine nicht bewegen kann. Deshalb sitzt er im Rollstuhl. Zusätzlich hat Roland eine sprachliche Beeinträchtigung und kommuniziert mit seinem Umfeld meist schriftlich. “Trotz meiner Beeinträchtigung teste ich gerne meine Grenzen aus”, schreibt Übelbacher. “Vor einigen Jahren war ich Fallschirmspringen, Paragleiten und bin im Rennwagen mitgefahren.” Zurzeit lebt Übelbacher in Wien und ist Bewohnersprecher von seiner Wohngemeinschaft.
Er wünscht sich, dass Barrierefreiheit in Zukunft vielfältiger wird. Es soll keine “One size fits all”-Lösungen mehr geben, es muss mehr auf die Bedürfnisse der Menschen eingegangen werden. “Aufzüge scheinen auf den ersten Blick als die barrierefreie Alternative zu Stiegen und Rolltreppen. Aber die Hälfte der Zeit sind sie so klein und eng, dass mein Rollstuhl kaum hineinpasst. Und wenn diese Hürde geschafft ist, folgt schon die nächste: In vielen Fällen ist es mir nicht möglich selber die Tasten zu drücken, ohne meinen Arm in unnatürliche Richtungen zu verbiegen”, schreibt Übelbacher. “Außerdem kommt es mir so vor, als wären manche Unternehmen, die Rampen haben, mehr daran interessiert sich einfach nur barrierefrei nennen zu können, als es wirklich zu sein. Das nenne ich falsche Barrierefreiheit.”
Wie kann der Handel Barrierefreiheit ermöglichen?
Für mehr Barrierefreiheit erfordere es laut des Behindertenverbands ÖZIV auch ein Umdenken des Handels: “Am Schönsten wäre, wenn Anbieter von Waren und Dienstleistungen Menschen mit Behinderungen als potenzielle Kund*innen erkennen würden”, sagt Kravanja. Die ÖZIV-Studie zeigt eine weitere Schwachstelle: Service und Personal. “Hier ist eine Sensibilisierung der Mitarbeiter*innen im Umgang mit Menschen mit Behinderung nötig, um Diskriminierungen zu vermeiden.”, sagt Kravanja.
Warum wurde die Umsetzung seitens der Bundesregierung in den letzten Jahren nicht weiter vorangetrieben? Auf Nachfrage gibt das Gesundheitsministerium an, mit Nachdruck am Ausbau der Barrierefreiheit zu arbeiten. Das langfristige Ziel sei es, möglichst lückenlose Barrierefreiheit zu erreichen. Wer sich die Zahlen aus der ÖZIV-Studie für Wien ansieht, merkt jedoch, dass auf diese Worte bis jetzt wenig Taten gefolgt sind.
Menschen wie Übelbacher können sich nicht darauf verlassen, dass sich in naher Zukunft etwas ändert. Da die Politik keine konkreten Schritte für den Ausbau von baulicher Barrierefreiheit setzt, wird er weiterhin darauf hoffen müssen, bei alltäglichen Wegen auf weniger Hürden zu stoßen.