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Demokratie

Wie Belarus Oppositionelle bekämpft: "Sie kamen in seinen Unterricht und nahmen ihn einfach mit"

In Belarus spielt sich vor den Toren der EU ein Flüchtlingsdrama ab. Wir versuchen über Kontakte im Land mehr zu erfahren. Doch plötzlich antwortet niemand mehr. Unser Informant wurde vom Regime festgenommen. Was mit ihm passiert ist? Wir gehen auf Spurensuche. In Belarus kämpft Alexander Lukaschenko seit mehr als einem Jahr gegen die eigene Bevölkerung um seine Macht: mit Gewalt und Tausenden Festnahmen.

Es ist eine menschenverachtende und zynische Machtprobe, die Belarus‘ Machthaber Alexander Lukaschenko an der Grenze zu Polen aufführt. Er benutzt Geflüchtete als Druckmittel, die dort im Niemandsland vor den Toren der EU ausharren müssen: Entweder die EU lockert Sanktionen oder er schickt weitere Menschen an die Grenze.

Die EU kann sich nicht auf einen Deal mit dem Diktator einlassen. Tatenlos zusehen darf sie aber auch nicht, wie Menschen vor ihrer Grenze unter unwürdigen Bedingungen hausen müssen und sogar sterben.

Lukaschenko überließ die Geflüchteten bis jetzt weitgehend ihrem Schicksal. Polen will niemanden hereinlassen. Die Situation eskalierte zusehends. Fast 2.000 Menschen mussten in einem notdürftigen Lager im Freien ausharren. Am Freitag verbrachten belarussische Behörden die Geflüchteten in eine Lagerhalle.

Die Bilder von der Grenze, wo polnische Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern gegen Geflüchtete vorgeht, Fotos davon, wie Menschen in den Wäldern hausen und sich an Lagerfeuern wärmen: Viel mehr Informationen aus Belarus sind derzeit kaum zu bekommen.

Der Kontakt in Belarus: Plötzlich antwortet er nicht mehr

Vor einigen Tagen kontaktierte ich einen Bekannten, der in Hrodna lebt. Die auch Grodno genannte Stadt liegt direkt an der Westgrenze des Landes und in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs, wo das Notlager steht. Ich fragte, was er mir sagen könnte über die Lage vor Ort. Wie könne den Menschen geholfen werden? Wen könnte ich kontaktieren, um mehr Informationen zu bekommen?

Seine Antwort klang resigniert: „Du wirst nicht eine unabhängige Stimme aus Belarus bekommen, die dir mehr Infos darüber geben kann“, schreibt er via Textnachricht. Und: „Was wir jetzt sehen ist das Ergebnis der Manipulationen von seiten des Regimes.“

Was er damit genau meinte? Ich frage nach, bekommen aber keine Antwort mehr. Am Tag darauf erhalte ich von anderen Kontakten im Land die Nachricht: Der Mann, Dozent und Vizerektor einer Privatschule, wurde am Dienstagvormittag festgenommen, schreiben lokale Medien.

Belarus: Land im andauernden Ausnahmezustand

Die Nachricht fährt ein wie ein Schock! Belarus ist seit August 2020 ohne Unterbrechung im politischen Ausnahmezustand. Im vergangenen Jahr explodierte der Zorn der Bevölkerung auf das Regime von Alexander Lukaschenko. Der fälschte so offensichtlich die Präsidentenwahl, dass Hunderttausende auf die Straße gingen. Das Regime knüppelte die Proteste nieder, verhaftete Tausende. Die Proteste liefen monatelang. Doch: Lukaschenko ist bis heute der Machthaber im Land.

Und er geht weiterhin gegen alle vor, die gegen ihn und sein Regime auftreten. Kein Anlass scheint dafür gering genug. Und natürlich frage ich mich als erstes: Trage ich vielleicht Mitschuld an seiner Festnahme, weil ich ihn kontaktiert habe? Wie geht es ihm jetzt und wie kann ich ihn unterstützen?

Ich kontaktiere Ihar Barysau. Er ist Vorsitzender der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei In Belarus. Was weiß er über die Festnahme? Was war der Anlass dafür? Und soll ich darüber berichten oder verschlimmere ich die Lage für den Dozenten noch? Nein, sagt er. „Bitte berichte darüber, es wäre großartig ihn auf diese Art zu unterstützen.“

Oppositioneller Valiantsin Askirka wurde festgenommen

Also: Valiantsin Askirka, seit mehr als 20 Jahren Lehrender für Physik an der staatlichen Universität in Hrodna und internationaler Sekretär des Sozialdemokratischen Partei in Belarus, wurde festgenommen. Laut seiner Schule seien mehrere Männer in zivil in eine seiner Unterrichtsstunden gekommen. Barysau berichtet: „Sie kamen in seinen Unterricht und nahmen ihn einfach mit.“ Einfach so, ohne Erklärung. Seitdem sitzt Askirka in Haft. „Ich habe keine Informationen darüber, wie es ihm geht“, sagt Barysau.

Nur sein Bruder habe ihn gesehen, nachdem er festgenommen wurde. Das war am Tag der Festnahme, als die Sicherheitskräfte mit Askirka zu dessen Haus fuhren und dort alles durchsucht hätten. So erklärt es Barysau im Videotelefonat. Ob reguläre Polizeieinheiten, Kriminalbeamte oder gar Geheimdienstleute das Haus durchstöberten, kann er nicht sagen.

Am Donnerstag dann gab es eine Gerichtsverhandlung – unter Ausschluss von Freund:innen und Verwandten. 10 Tage Haft wurden gegen Askirka verhängt. Warum? „Wir wissen es nicht, das Gericht sagt nur, sie hätten keine Informationen“, so Barysau und fügt an: „Aber natürlich wissen sie Bescheid.“

Belarus führt Liste „extremistischer“ Telegram-Kanäle

Barysau kann nur vermuten, was Askirka vorgeworfen wird: „In der Woche davor gab es einen internen Chat über Telegram mit ihm und Leuten von der Universität, an der er 20 Jahre gelehrt hat“, sagt er. Ende vergangenen Jahres sei Askirka mittels zweier Disziplinarverfahren gezwungen worden, die Hochschule in Hrodna zu verlassen. Er kam in einer privat betriebenen Schule unter.

Was wurde im Chat gesagt, das Anlass sein könnte jemanden festzunehmen? „Nichts, dort werden völlig alltägliche Dinge besprochen“, erzählt Barysau. Aber: „Viele Telegram-Channel werden als extremistisch angesehen. Ich denke, die Polizei kann Aktivisten in solchen Chats verfolgen.“

Es gibt sogar eine Liste von unter Beobachtung stehender Werke und Chat-Kanäle. Der vorletzte Eintrag darin sei der, in dem Askirka Mitglied war, sagt Barysau. Erst wenige Tage vor der Festnahme tauchte er in der „Liste extremistischer Materialien“ auf.

Es ist völlig unvorhersehbar. Was immer du machst, du weißt nie, ob und wie die Polizei reagiert.
Ihar Barysau, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei

„Die Polizei versucht, alle Aktivitäten zu unterbinden“, sagt Barysau. „Es ist völlig unvorhersehbar. Was immer du machst, du weißt nie, ob und wie die Polizei reagiert.“ Die Methode habe ein klares Ziel: „Sie erzeugen damit Angst davor, überhaupt noch etwas zu tun.“ An normale politische Oppositionsarbeit sei nicht zu denken. „Recht und Gesetz existierten nicht mehr“, sagt Barysau.

Viele Gegner:innen des Regimes haben das Land verlassen. Wer geblieben ist, lebt in ständiger Angst vor Verhaftung. Auch Barysau war bereits inhaftiert. „Es war im vergangenen Jahr“, sagt er erst und korrigiert sich schnell: „Ah nein, tut mir leid, es war im März dieses Jahres. Ein Jahr fühlt sich hier an wie zwei oder drei Jahre. Es ist so aufreibend“, sagt Barysau.

Die Zeit hinter Gittern schildert er so:  „Im Gefängnis weiß man nie, was als nächstes passiert, wie lange die Haft geht“, sagt er. Eines Tages sei dort die Zellentür aufgegangen. Ein Mann in Zivil sei hineingekommen und „nahm einen meiner Mitgefangenen nach draußen“, erzählt Barysau. „Erst später erfuhr ich, er wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.“

Askirka musste Uni verlassen – Studierende starteten Petition für ihn

Das könnte nun auch Askirka widerfahren. Barysau beschreibt ihn als einen besonderen Menschen. Seit Jahren sei er an der Universität herausgedrängt worden, habe für das geringst mögliche Gehalt dort gearbeitet, ein Gehalt von dem eigentlich niemand leben könne. „Valiantsin war einer der letzten Oppositionellen, die noch einen Job an der Universität hatten“, sagt Barysau.

Warum er blieb? „Er mochte die Vorlesungen, er mochte die Lehre. Er hat versucht, den Studierenden Alternativen zum Lukaschenko-Regime aufzuzeigen und sie haben ihn dafür sehr gemocht“, sagt Barysau. Nachdem Askirka die Uni verlassen musste, starteten Student:innen eine Unterschriftenaktion dagegen. Es half nichts.

Wie es für Valiantsin Askirka weitergeht? Barysau kann es nicht sagen. Die Liste der politischen Gefangenen in Belarus wird von Tag zu Tag länger. Ein Ende von Lukaschenkos Herrschaft ist nicht in Sicht. „Seine Rethorik gegen Gegner:innen klingt wie Krieg. Es herrscht Angst“, sagt Barysau. Er schätzt, dass Lukaschenko von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnt wird. Umfragen dazu, denen auch zu trauen ist, gibt es natürlich nicht.

Lukaschenko kündigte an abzutreten, davon ist keine Rede mehr

Im Februar 2022 soll über eine Verfassungsänderung abgestimmt werden. Lukaschenko hatte anfangs in Aussicht gestellt, danach seine Macht abzugeben. Davon ist nicht mehr die Rede. Barysau erwartet auch nicht, dass sich für die Bevölkerung viel ändern wird. „Das Referendum kommt auf Druck von Russland. Sie wollen die Führung in Belarus besser kontrollieren“, sagt er. Um mehr Demokratie gehe es sicher nicht.

Die Verfassungsänderung sei aber dennoch nicht unbedingt im Interesse Lukaschenkos. Barysau fürchtet deshalb, dass die Situation in den nächsten Wochen und Monaten noch bedrückender wird. „Das Regime versucht, die Lage weiter zu eskalieren. So könnten sie das Referendum verschieben.“ Bis dahin würden noch mehr Menschen dem Land den Rücken kehren. „Inzwischen fehlt es immer mehr an Fachkräften und sogar an Personal bei der Polizei.“

Eine kleine Hoffnung habe er dennoch: „Etwas wird passieren. Nach dieser neuen Wahl wird die Situation eine andere sein.“ Derzeit gilt seine größte Sorge jedoch Valiantsin Askirka. Über sein Facebook-Profil informiert Barysau ständig darüber, wie dessen Lage ist. Das Profil von Askirka selbst wurde von seinen Mitstreiter:innen temporär abgeschaltet – zu seiner Sicherheit.

 

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