Wie das Bildungssystem Menschen mit Hörbeeinträchtigung im Stich lässt

“Bildung in Gebärdensprache ist keine Sondermaßnahme – sie ist ein Menschenrecht. Sprache ist der Schlüssel zu Bildung, Teilhabe und Selbstbestimmung. Daher muss die ÖGS nicht als Ausnahme, sondern als selbstverständlicher Bestandteil eines inklusiven Bildungssystems gedacht und gestaltet werden.” – Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes.
Die ÖGS ist seit 2005 in der Bundesverfassung als eigenständige, einheimische Minderheitensprache anerkannt. Doch bis heute gibt es kein Gesetz, das sie als Amts- und Unterrichtssprache verankert. Während für Minderheitensprachen wie Burgenlandkroatisch oder Slowenisch konkrete gesetzliche Regelungen gelten, bleibt ÖGS im Schulrecht weitgehend unberührt.
Für Jarmer ist das ein klares Zeichen “fehlender Anerkennung von ÖGS als gleichwertige Bildungssprache”. Was das bedeutet, zeigt sich im Klassenzimmer: Gehörlose und hörbeeinträchtigte Schüler:innen sitzen meistens in Klassen, in denen die ÖGS nicht als Unterrichtssprache verwendet wird. Darunter leidet die Qualität des Unterrichts und der Wissensvermittlung.
Nicht einmal an Schulen speziell für Hörbeeinträchtigte müssen Lehrkräfte die ÖGS beherrschen. Auch dort steht das Erlernen der Lautsprache im Vordergrund. Das Bildungssystem versucht noch immer, die Gehörlosen an das bestehende System anzupassen (Integration), statt das System auch für sie passend zu gestalten (Inklusion).
Diese Integration in ein Bildungssystem, das für hörende Menschen gestaltet wurde, widerspricht dem Recht auf inklusive Bildung, das gehörlosen und hörbeeinträchtigten Menschen zusteht. Und sie richtet auf mehreren Ebenen nachhaltigen Schaden an.
Ein Recht auf Sprache von klein auf
Sprache ist ein zentrales Werkzeug der Kommunikation und Wissensvermittlung – in Österreich findet diese Vermittlung in der Regel auf Deutsch statt. Für gehörlose und viele hörbeeinträchtigte Menschen ist Deutsch allerdings die erste lebende Fremdsprache. Damit Kinder eine Fremdsprache gut lernen können, braucht es eine Basis in ihrer Erstsprache – idealerweise in der ÖGS. Aber hier beginnt bereits der Mangel. Denn ÖGS gibt es nicht einmal als grundlegendes Unterrichtsfach.
Eigentlich bräuchte es das von klein auf. Der Spracherwerb ist in den ersten vier Lebensjahren entscheidend für die Gesamtentwicklung von Kindern. Die Frühförderung sollte eigentlich die Entwicklung von Kindern nach individuellen Bedürfnissen unterstützen. Trotzdem sind Fördermaßnahmen noch immer hör-gerichtet. Sie haben das Ziel Kinder auf die Ausbildung in der Lautsprache Deutsch vorzubereiten.
Die Gebärdensprache wird in der frühsprachlichen Förderung kaum eingesetzt — obwohl sie die Erstsprache von gehörlosen Kindern ist. “Das wirkt sich langfristig auf ihren Bildungserfolg aus” , sagt auch Jarmer. In Österreich haben aus der etwa 10.000 Menschen großen Gehörlosen-Community nur etwa 300 eine Matura und nur etwa 100 ein Studium abgeschlossen.
“Es fehlt oft an qualifiziertem Personal, an geeigneten Unterrichtsmaterialien in ÖGS und an einem durchgängigen sprachlichen Bildungskonzept, das die visuelle Sprache konsequent mitdenkt.”
Auch der grundlegende Anspruch auf eine Förderung ist nicht immer gewährleistet: In der Pflichtschule ist die Förderung beispielsweise nicht an Sprachrechte geknüpft, sondern an den sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF). Nur Kinder mit einem SPF Bescheid bekommen überhaupt das Angebot, entweder in ÖGS oder in Lautsprache gefördert zu werden. Das ist eine bürokratische Hürde, die oft zu verspäteter, ungleicher Unterstützung und emotionaler Belastung führen kann. Außerdem ist die gleichzeitige Förderung von Lautsprache und ÖGS nicht möglich — welche der beiden Optionen gewählt wird, liegt letztendlich bei den Eltern, den Lehrkräften und teilweise bei den Gutachter:innen. Helene Jarmer sagt dazu: “Das ist für mich nicht so ganz in Ordnung (…) ich denke, das Kind soll alles bekommen, also sprachliche Förderung und gebärdensprachliche Förderung. Man weiß ja nicht, wie es sich in Zukunft entwickelt, was das Kind dann einmal brauchen wird.”
Wenn Sprache nicht wirklich inklusiv und strukturell gefördert wird, wird Menschen ein zentrales Werkzeug verwehrt, um sich spontan, differenziert und selbstbestimmt auszudrücken. Diese Einschränkungen verhindern etwa aktives Mitgestalten oder Diskutieren im Unterricht. Aber sie beeinflussen auch die soziale Teilhabe insgesamt. Das verstärkt Isolation und kann das Selbstbewusstsein nachhaltig beeinträchtigen — denn Sprache ist nicht nur Mittel zur Verständigung, sondern auch zur Persönlichkeitsentfaltung.
Baustellen und Lichtblicke
Neben fehlender Nutzung von ÖGS in der Bildung sind auch selbst gehörlose und hörbeeinträchtigte Lehrkräfte in Österreich nach wie vor eine Seltenheit — aktuell gibt es, laut Österreichischem Gehörlosenbund (ÖGLB), in Österreich nur 10 gehörlose Personen, die ein Lehramtsstudium absolviert haben. Nur eine Hand voll arbeitet tatsächlich an Schulen. Außerdem gibt es auch nur eine aktive, schwerhörige Kindergartenpädagogin, die sowohl ÖGS als auch Deutsch beherrscht. Ein Grund dafür: Noch bis 2013 war der Community der Zugang zu pädagogischen Hochschulen aufgrund ihrer Behinderung verwehrt. Diese Diskriminierung wurde inzwischen aufgehoben – doch noch immer sind gehörlose und hörbeeinträchtigte Menschen mit strukturellen Benachteiligungen und fehlender Barrierefreiheit während ihrer gesamten Bildungslaufbahn konfrontiert.
Dieser spezifische Lehrkräfte-Mangel ist nun mehrfach problematisch, denn mit dem Schuljahr 2024/25 gab es einen wichtigen Schritt nach vorne: An Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) kann die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) nun als zweite lebende Fremdsprache unterrichtet und als Maturafach gewählt werden – auch für gehörlose Schüler:innen. Das ist ein bedeutender Schritt für Inklusion, Sichtbarkeit und Anerkennung. Aber: “Jetzt ist die Situation so, dass für diesen neuen Lehrplan gehörlose Lehrkräfte gebraucht werden. Da werden oft auch gehörlose Menschen ohne Ausbildung, ohne Matura, ohne Studium eingesetzt und sie sollen dann das Fach Gebärdensprache unterrichten”, so Jarmer. Die Personen werden oft in Form einer Hilfskraft oder einer Assistenzkraft eingestellt. Aber viele Gehörlose wollen auch gar nicht in den Bildungsbereich zurück — eben, weil sie viele negative Erfahrungen gemacht haben.
Gleichzeitig gibt es aber auch erste Fortschritte in der Ausbildung von Pädagog:innen: Ab 2025/26 startet an der KPH Wien/Krems ein berufsbegleitender Hochschullehrgang für das Unterrichtsfach ÖGS. Zusätzlich existieren spezialisierte Lehrgänge etwa bei equalizent Wien. Dennoch fehlt es weiterhin an einem bundesweiten Ausbildungsweg für zweisprachige Frühpädagogik mit ÖGS – und damit an strukturellen Voraussetzungen für durchgehend barrierefreie Bildung von Anfang an.
Das bestehende fragmentierte Angebot “führt zu Bildungsungleichheit und einer enormen Abhängigkeit vom persönlichen Einsatz einzelner Pädagog:innen oder Institutionen”, sagt die Präsidentin des ÖGLB. Gleichzeitig gibt es aber auch weitere durchaus positive Entwicklungen: Versuche von zweisprachigen Unterrichtsmodellen an einzelnen Schulen und erste Lehrmaterialien in ÖGS.
“Auch der öffentliche Diskurs über Barrierefreiheit und Inklusion hat sich in den letzten Jahren geöffnet – nicht zuletzt durch das Engagement der Gehörlosengemeinschaft selbst.”
Echte Mitsprache
Es ist entscheidend, dass die Gehörlosen- und Hörbeeinträchtigtengemeinschaft aktiv in Entscheidungsprozesse und politische Maßnahmensetzung eingebunden wird. Doch laut Jarmer – selbst früher Parlamentsabgeordnete der Grünen und Absolventin eines Lehramtsstudiums – gibt es in Österreich noch großen Aufholbedarf.
Es ist nach wie vor nicht selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung bei Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, auch mitentscheiden. Viel zu oft wird über sie entschieden – und nicht mit ihnen. Das spiegelt sich in der Maßnahmensetzung und ihrem Vollzug wider.
Eine gute Gelegenheit, um diese Perspektiven kennenzulernen, bietet der diesjährige Bildungskongress mit dem Thema: „Gebärden.Sprache.Bildung – Gebärdensprache stärken, Bildung verbessern“. Der Kongress lädt gezielt auch politische Entscheidungsträger:innen ein, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie der neue Lehrplan für die Österreichische Gebärdensprache in der Praxis umgesetzt werden kann und welche strukturellen Veränderungen es dafür braucht.
Die Erfolge, die erzielt wurden, sind den maßgeblichen Bemühungen der Community selbst zuzuschreiben — es darf aber nicht ihr alleiniger Kampf bleiben. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie muss von allen mitgetragen und im Alltag gelebt werden.