print print
favorites-circle favorites-circle
favorites-circle-full favorites-circle-full
Gesundheit
Ungleichheit

Bildungsforscher El-Mafaalani: “Corona-Krise könnte negative Auswirkungen auf ganze SchülerInnen-Generation haben”

Bildungsforscher El-Mafaalani: “Corona-Krise könnte negative Auswirkungen auf ganze SchülerInnen-Generation haben”
Der deutsche Soziologe, Bildungs- und Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani befürchtet, dass die Corona-Krise den Karriereweg sozial benachteiligter Schüler dauerhaft negativ beeinflussen könnte. Was nun dringend getan werden muss, warum die Sommerferien eine entscheidende Rolle spielen und wie die Schule der Zukunft aussehen könnte, erzählt er uns im MOMENT-Interview.
MOMENT: Alle Forscher sind sich einig, dass sozial benachteiligte Schüler durch die lange Zeit im heimischen Unterricht stark zurückfallen werden. Gibt es schon konkrete Untersuchungen, wie schlimm es ist oder werden könnte?

Aladin El-Mafaalani: Nein, dazu ist diese Zeit noch zu kurz. Aber wir können Analogien von Studien zu den Sommerferien herleiten. In den Ferien wird Ungleichheit vergrößert. Werden SchülerInnen einen Tag vor und dann wiederum einen Tag nach den Sommerferien getestet, so fallen Kinder von unteren Schichten hier messbar zurück, während andere sich sogar weitergebildet haben, weil sie in den Sommerferien etwa viel gelesen, mit ihren Eltern Museen besucht oder auf Reisen Sprachkompetenzen erworben haben. Man kann sich darüber beschweren, dass in der Schule Ungleichheit nicht wesentlich reduziert wird, aber in der unterrichtsfreien Zeit wird sie sogar definitiv vergrößert.

 

MOMENT: In Ihrem Buch “Mythos Bildung” fassen Sie Belege zusammen, dass unsere Bildungseinrichtungen Ungleichheit nicht ausgleichen. Warum ist das so?

El-Mafaalani: Bildung wird oft als Allheilmittel gesehen. Doch so, wie das System derzeit ist, können Ungleichheiten nicht grundlegend ausgeglichen werden. Untersuchungen zeigen, dass etwa Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen auch bei guten Schulleistung seltener von Lehrern für ein Gymnasium empfohlen werden. Zum Beispiel weil sie denken, dass die Familie das Kind beim Lernen nicht so gut unterstützen kann. Und oft sind es die Eltern, die trotz Empfehlung ihr Kind nicht auf ein Gymnasium schicken, weil sie unsicher sind, ob es das wirklich schafft, und sie sich im Falle keine teure Nachhilfe leisten können. Es sind eben viele Faktoren, die indirekt und außerhalb der Schule wirken. Wie eben auch das Beispiel mit den Sommerferien zeigt.

 

MOMENT: Es gibt ja viele Stimmen, die eine Schulöffnung über die Sommerferien fordern, oder eine Verkürzung der Ferien. Alleine, weil viele Eltern ihre Urlaube aufgrund der Corona-Krise bereits aufgebraucht haben und eine Kinderbetreuung brauchen. Glauben Sie, dass das passieren wird?

El-Mafaalani: Ich glaube nicht, dass die Sommerferien verkürzt werden, auch wenn vieles dafür sprechen würde. Ein zentraler Grund ist, dass es zu erheblichen Infrastruktur-Problemen käme, wenn alle Familien in der kurzen Ferienzeit gleichzeitig Urlaub machen möchten. Das ist ja ohnehin ein Problem, trotz gestaffelter Ferienbeginn-Zeiten. 

Ich hoffe aber sehr, dass die Verantwortlichen sich bis zu den Ferien etwas überlegen. Ich lasse mir noch einreden, dass es schwierig ist, bis zum Sommer akzeptable Lösungen hinzukriegen. Aber dann müssen Pläne her! Die Geschäfte sind wieder offen, sogar die Bundesliga spielt bei uns in Deutschland wieder. Nur bei Familien und Kindern geht es in homöopathischen Dosen weiter. Alle sprechen davon, wie wichtig die Wirtschaft sei. Aber wenn es nun keine Lösungen für die Schulen gibt, wird sich die Schere im Hinblick auf soziale Benachteiligung so weit auftun, dass wir sie später nicht mehr schließen können. Dann haben wir nicht nur eine Corona-Krise, sondern eine, die eine ganze Generation betrifft.

 

MOMENT: Was könnte man denn in den Sommerferien anbieten? Und wer?

El-Mafaalani: Kinder und Jugendliche hatte nun eine lange, schwierige Zeit. Es muss ausgeschlossen werden, dass die Sommerferien zu einem zusätzlichen Sommerloch werden. Stattdessen sollten anregende Angebote vorbereitet werden. Volles Programm in den Bereichen Kunst, Sport und Natur. Vor Ort können die Gemeinden das Ganze organisieren. Das Geld muss auch von höherer Ebene kommen. Die Akteure sind ja da. Es gilt, die Sommerferien so anregend für Kinder und Jugendliche zu gestalten wie nur möglich. Die Kinder können ganz ohne Unterricht schöne Erfahrungen machen und Sinnvolles lernen. Und gleichzeitig werden die Familien entlastet.

 

MOMENT: Was könnten die Schulen denn grundsätzlich machen, um vor allem sozial benachteiligte Kinder zu unterstützen?

El-Mafaalani: Bei der ganzen Diskussion rund um Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung geht es im Prinzip immer nur um Quantität: Es soll irgendjemand auf die Kinder aufpassen, damit die Mütter arbeiten können. 

Doch die Qualität der Betreuung ist wichtig, nur so kann wirklich soziale Ungleichheit ausgeglichen werden. Einerseits braucht es ein multiprofessionelles Team von PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und anderen ExpertInnen, die mit den Kindern arbeiten. Lehrkräfte können unmöglich neben dem Unterricht psychosoziale Beratung leisten und sollen es auch nicht. 

Dann gibt es einen Punkt, den ich wichtig finde und der nicht einmal so viel Geld kostet: Es müssen schulfremde Anbieter, Kultur- und Sportvereine integriert werden. Niemand hat sich überlegt, dass die Kinder in der Ganztagsschule nicht mehr an solchen Angeboten teilnehmen können, und die Vereine jammern umgekehrt um den mangelnden Nachwuchs. Hier braucht es aber auch jemanden, der das professionell koordiniert, das kann kein Schulleiter nebenher machen.

 

MOMENT: Sollte es also kostenlosen Musikunterricht und Sportkurse für alle geben?

El-Mafaalani: Unbedingt! Gerade das Erlernen eines Musikinstruments und die Weiterentwicklung in einer Sportart sind ja etwas Großartiges! Die Kinder lernen Durchhaltevermögen und Selbstdisziplin: Sie müssen sich Mühe geben, am Anfang ist alles schwierig, beim Gitarrenspielen tun etwa die Finger weh, aber irgendwann zahlt sich die Quälerei aus. Es gäbe aber auch noch so viele andere, kreative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Botanik und Gartenarbeit zum Beispiel. Ich finde es schade, dass vor allem Kinder aus privilegierten Familien kaum ein Handwerk lernen. Auch hier könnte es tolle Projekte geben.

Es muss einfach mehr Geld in die Hand genommen werden: Kindergärten und Grundschulen müssen Orte werden, in denen die Kinder alles erleben können, was die Gesellschaft zu bieten hat, und dabei hätten alle denselben Zugang zu alldem. Wenn Kinder und Jugendliche denselben Erfahrungshorizont haben, hätte das wahrscheinlich positive Auswirkungen auf den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Zukunft.

 

MOMENT: Wir erkennen also, dass Ungleichheit in der Bildung enorm steigen wird. Glauben Sie, dass ausgerechnet in dieser Wirtschafts-Krise endlich Geld in die Hand genommen wird und Vorschläge wie Ihre auch wirklich umgesetzt werden?

El-Mafaalani: Das glaube ich nicht. Denn neben dem Geld fehlt es auch an Immobilien und vor allem an Personal. In Deutschland wie in Österreich gibt es einen eklatanten LehrerInnenmangel.

Es gibt ja auch die Idee, dieses Schuljahr komplett für alle zu wiederholen, nur so könnte Chancengleichheit wieder hergestellt werden. Das halte ich für komplett abwegig. Denn dann hätten wir viel mehr SchülerInnen im System, und dafür haben wir die LehrerInnen nicht. Da muss es kreative und innovative Lösungen geben und das so schnell wie möglich. Derzeit werden an die Jahrgänge komplett unterschiedliche Leistungsansprüche gestellt. Manche LehrerInnen nehmen viel neuen Stoff durch, andere nicht. Es müsste zumindest ein Konsens her, dass derzeit einfach kein neuer Stoff durchgenommen wird. Kinder müssen ja auch die aktuellen Ereignisse erstmal verarbeiten. Es wird noch lange dauern, bis normaler Unterricht wieder stattfinden kann.

 

MOMENT: Apropos Verarbeiten: Neben den geschlossenen Schulen hat die Corona-Krise noch viele andere Probleme für Familien gebracht, die Delikte an häuslicher Gewalt steigen, Kinder konnten ihre Freunde nicht sehen, mussten erleben, wie ihre Eltern arbeitslos wurden und so weiter. Müssten LehrerInnen nicht auch besser in psychosozialer Kompetenz ausgebildet werden, um solche Belastungen zu erkennen?

El-Mafaalani: Nein, das kann nicht Aufgabe der Lehrkraft sein, die soll sich wirklich nur um den Unterricht kümmern. Da müssen wirklich ExpertInnen ran. Ich war selber Lehrer und dachte immer, dass ich Elterngespräche sehr gut führen kann. Dann habe ich während Forschungsprojekten Menschen dabei beobachten dürfen, die das wirklich können, und musste feststellen, wie schlecht ich das gemacht habe. Im schlimmsten Fall ist dann das Verhältnis zu den Eltern langfristig gestört. 

Aber ja, grundsätzlich sollte die Zusammenarbeit mit Eltern besser funktionieren. Dazu braucht man aber wie gesagt ein Team, das das kann. Gäbe es das schon, so hätten LehrerInnen auch viel besser gewusst, was sie bei welchen SchülerInnen voraussetzen können. Es hat ja zu Beginn der Corona-Maßnahmen oft Wochen gedauert, bis viele Lehrkräfte mitbekommen haben, dass ein Kind zu Hause keinen Laptop hat oder kein eigenes Zimmer und neben den zwei kleineren Geschwistern einfach nicht ungestört lernen kann.

Es sind oft Probleme, die schon lange existiert haben, bislang unbemerkt blieben und eben dazu führen, dass Ungleichheit reproduziert und durch die Corona-Krise wahrscheinlich wesentlich verstärkt wird. Wie gesagt, geschieht das vor allem außerhalb der Schule. Arme Kinder leiden an einer Armut an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und an Gelegenheiten, Kompetenzen und Begabungen weiterzuentwickeln, an einer Armut, Erfahrungen sammeln zu können, um Neigungen und Interessen überhaupt entwickeln zu können. Und deshalb müssen wir die Bildungseinrichtungen endlich so gestalten, dass hier alle Kinder alles erleben können, was die Welt zu bieten hat.

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Kommentare 0 Kommentare
    Kommentar hinzufügen

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Beitrag!