Boykott? Überschreitet die Fußball-WM 2022 in Katar eine Grenze?
Die Fußball-WM in Katar 2022 ist viel in der Kritik. Und das mit guten Gründen. Wohl so viele Menschen wie noch nie zuvor denken über einen Boykott zumindest nach. Für den Sport ist das Problem aber keineswegs neu.
Die Fußball-Weltmeisterschaft geht los. Uns erwartet in den kommenden Wochen ein großes Fest des Sports: ein buntes Treiben auf den Rängen, nobler Sportsgeist auf dem Rasen, eine Feier der Völkerverständigung im Fernsehen. Darauf freut sich die ganze Welt … Moment mal.
Die WM ist da! Also da … auf dieser Halbinsel, die an der arabischen Halbinsel hängt. In Katar.
Katar ist eine Menschenrechtswüste
Katar ist ein autoritäres Land, in dem die Menschenrechte wenig wert sind. Frauen haben weniger Rechte, über LGBTIQ-Rechte darf man ungestraft nicht einmal reden. Wer homosexuell ist, landet bis zu 7 Jahre im Gefängnis – zumindest theoretisch droht sogar die Todesstrafe dafür.
Die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt. Die Medien – darunter auch der internationale Sender Al Jazeera – wurden jüngst etwa “angehalten”, nicht über die aktuellen Proteste gegen das befreundete Regime im Iran zu berichten. Parteien sind in Katar verboten und politische Mitbestimmung stark eingeschränkt.
Die Macht im Land hat der autoritär regierende Emir. Vor 70 Jahren lebten noch 50.000 Menschen im Land, heute sind 2,7 Millionen. So ein bisserl bei manchen Entscheidungen mitwählen dürfen nur 300.000 davon. Die restlichen fast zweieinhalb Millionen Menschen sind von der Staatsbürgerschaft und ihren Vorzügen ausgeschlossen.
Gastarbeiter:innen ohne Rechte und Todeszahlen
Die reiche Gesellschaft funktioniert nicht ohne die Menschen von außerhalb, die die Drecksarbeit erledigen. Bis zu 800.000 Gastarbeiter haben an der Infrastruktur im Land gebaut, die nun auch für die WM genutzt wird. Sie kommen, weil sie hier besser bezahlt werden, als in ihren extrem armen Heimatländern. Aber dafür riskieren sie auch viel. Die Rechte der migrantischen Arbeiter werden in Katar mit Füßen getreten.
Viele sind bei dieser Arbeit sogar gestorben. Wie viele, ist schwer zu sagen. Katar ist die einzige offizielle, aber eben sicher keine vertrauenswürdige Quelle dafür. Staat und FIFA erkennen 3 tödliche Arbeitsunfälle und 40 Todesfälle direkt auf den Baustellen der Stadien an. Fakt ist, dass tausende Menschen in den vergangenen Jahren auf Baustellen gestorben sind. Oft an Herzversagen, das gilt dann als “natürlicher Tod”. Die Hitze und schlechte Arbeitsbedingungen führen aber dazu. Oft wird am anderen Ende der Skala von 15.000 toten Gastarbeiter:innen für die WM gesprochen. Das ist genau genommen wiederum die Zahl aller Menschen, die zwischen 2010 und 2020 in Katar verstorben sind und keine Staatsbürgerschaft hatten.
Klimaanlage im Stadion
Damit im Wüstenstaat die WM stattfinden kann, werden die Stadien mit riesigen Kühlanlagen runtergekühlt. Und weil Katar gar nicht über genug Hotelkapazitäten für so ein Riesenevent verfügt, gibt es Shuttle-Flüge zwischen Katar und Dubai – Klimakrise? EGAL! Aber ohne Mega-Kühlgeräte in den Stadien würden Fans und Fußballer reihenweise kollabieren – obwohl die Weltmeisterschaft eh schon in den Winter verlegt wurde. Das Bier wird diesmal zumindest eher nicht schuld sein. Alkohol ist in Katar legal, aber streng reguliert – erst wenige Tage vor der WM mussten Bierstände vor den Stadien an verstecktere Orte verlegt werden, weil der Bruder des Emirs das so wollte. Für diese WM verärgert die FIFA sogar die Sponsoren aus der Alkoholindustrie weltweit.
Warum vergibt der Weltfußballverband eine WM an so ein Land? Das ist 2010 geschehen, damals wurden zwei Veranstalter gewählt. Der eine wurde Russland, der andere Katar. Viele der stimmberechtigten Funktionäre mussten später unter Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Die FIFA stürzte in eine schwere und schwer verdiente Krise. Katar behielt die WM.
WM ist wichtige Geldspritze für den Fußball
Bei einer WM geht es nicht nur um das Fußballmärchen. Das ist wichtig für die Fans und Spieler. Für die FIFA geht es um Geld. Und zwar gar nicht nur für korrupte Funktionäre, sondern den Fußball allgemein. Die FIFA finanziert mit den Einnahmen aus der WM im Großen und Ganzen die nächsten vier Jahre ihres Tuns. Mitgliedsverbände wie der Österreichische Fußball-Bund bekommen einen Teil davon. Für Austragungsländer sind Sportveranstaltungen längst eher Verlustgeschäfte.
Aber wenn es um Geld geht, dann hat Katar genug – dem Öl und unserem Durst danach sei Dank. Sponsorengelder aus katarischen Quellen landeten in den vergangenen Jahren etwa beim FC Barcelona oder FC Bayern. Bekannte ehemalige Spieler wie Xavi und Pep Guardiola, Raul, Mario Basler und Stefan Effenberg sind irgendwann dem Ruf in die groooße katarische Fußball-Liga gefolgt. Sie alle haben sicher schon als Kind davon geträumt, den prestigeträchtigen Titel in Katar zu gewinnen. Nicht wenige von ihnen haben sich auch für die WM vor den PR-Karren spannen lassen.
WM-Boykott nach jahrelangen Fan-Protesten
Ihren Geldtaschen mag das geholfen haben. Die Vorfreude auf das Turnier gesteigert hat es eher nicht. Selbst – oder gerade – als großer Fußballfan kann man all die Probleme kaum ausblenden. Es wird schwer, sich auf das zu konzentrieren, was am Rasen vor sich gehen wird. Viele Fans protestieren sei Jahren gegen das Turnier, manche wollen es boykottieren und ignorieren. Die Milliarden werden trotzdem fließen.
Privater Boykott funktioniert in den seltensten Fällen. Das heißt nicht, dass er eine schlechte Sache ist. Aber so wie der Verzicht von einzelnen Personen auf einen Flug nicht die Klimakrise aufhält, ändert der Verzicht auf ein paar Fernsehspiele auch nicht die Vergabe von Sportveranstaltungen. Große Probleme brauchen immer gemeinsame Veränderungen durch die Gesellschaft und Politik.
Um Turniere wie diese WM künftig zu vermeiden, werden ein paar ausgeschaltete Fernseher nicht genügen. Dazu müssten sich nicht nur die Welt des Sports ändern, sondern die Welt im Allgemeinen. Es ist deshalb auch okay, wenn Menschen sich in den kommenden Wochen ihren Fußball nicht nehmen lassen wollen, selbst wenn er in Katar stattfindet. Es hätte auch etwas Absurdes, das Flüssiggas und Öl aus Katar zu nehmen, aber die Tore nicht.
Nicht erst die WM 2022: Lange Geschichte des schmutzigen Fußballs
Die WM in Katar ist nach der WM in Russland nur die nächste Erinnerung, dass eine bessere Welt einfach nicht ganz oben am Plan des Sportgeschäfts und seiner Funktionäre steht. Und das noch nie.
Wer spricht denn heute noch davon, dass der österreichische Sieg gegen Deutschland 1978 – das “Wunder von Cordoba” – unter den Augen einer argentinischen Militärdiktatur stattfand?
Oder dass 1982 die Schande eines geschobenen Ergebnisses mit Deutschland nur deshalb im spanischen Gijon stattfand, weil die FIFA die WM einst an das Land unter Langzeitdiktator Franco vergeben hatte? Es wird sich auch so schnell nicht ändern. Die Fußball-WM 2026 würde auch dann in den USA stattfinden, wenn dort wieder Donald Trump an der Macht wäre.
Problem vieler großer Sportarten
Und man muss den Kopf tief in den katarischen Sand stecken, um nur auf den Fußball zu zeigen. Die Leichtathletik und der Handball waren mit ihren Weltmeisterschaften schließlich jüngst schon in Katar. Die Formel 1 begnügt sich jährlich mit Besuchen bei den Nachbarn aus Saudi Arabien und Bahrain. Und der ganze Sport war mit Olympischen Spielen zu Gast bei Adolf Hitler, bei Leonid Breschnew, bei Wladimir Putin und Xi Jinping.
Das Sportgeschäft und seine korrupten Eliten haben sich 2022 nicht zum ersten Mal dazu verschworen, den Sport in den Dienst menschenfeindlicher Politik und Profitgier zu zwängen. Für manche wirkt das wie ein Tabubruch. Aber wenn man sich ehrlich ist, ist es eher eine der echten Traditionen des Geschäfts – und unseres Wirtschaftssystems.