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Gesundheit

Daniel Uy: “Die Menschen in der Ukraine haben neun Monate keine Ärzte gesehen”

Daniel Uy war fast drei Monate für Ärzte ohne Grenzen im Ostern der Ukraine tätig. Foto: Laurel Chor/Ärzte ohne Grenzen
Der Arzt Daniel Uy (32) ist Anfang März aus der Ukraine nach Wien zurückgekommen. Drei Monate war er für die Organisation “Ärzte ohne Grenzen” zwischen den Städten Mykolaiv und Kherson im Einsatz. Er hat dort zwei mobile Kliniken geleitet. Im Interview erzählt er über den Alltag in der Ausnahmesituation.

MOMENT.at: Wie bereitet man sich darauf vor, in ein Kriegsgebiet zu fahren?

Daniel Uy: Du versuchst natürlich, so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Man redet mit Menschen, die dort waren und einem erzählen können, wie es dort abläuft. Vor dem Abflug gibt es jede Menge Briefings, dann nochmal in Kyiv und dann in Mykolaiv. Natürlich muss ich wissen, was ich wie tun muss und wie ich mich in verschiedenen Situationen verhalten muss.

MOMENT.at: Das klingt nach sehr vielen Briefings. Aber ist man dann auch darauf vorbereitet, was einen erwartet?

Uy: Man hat ein ziemlich gutes Bild und es ist auch sehr hilfreich, das alles zu wissen. Aber wenn man dort ist, ist es natürlich trotzdem etwas überwältigend.

MOMENT.at: War für dich die tägliche Arbeit eine Ausnahmesituation oder gewöhnt man sich daran?

Uy: Es pendelt sich schon eine Art Alltag ein. Wir haben an vier Tagen die mobile Klinik gemacht, sind also in die Dörfer zu den Menschen gefahren. Als ich gekommen bin, haben wir 14 Dörfer versorgt, am Ende waren es 24. Mittwochs war Bürotag. Da gab es Inventur, haben Boxen für die nächsten mobilen Kliniken vorbereitet und teilweise Trainings gemacht.

Wir sind auch immer wieder auf sogenannte “Explos” – also Auskundschaften – gefahren, um zu schauen, wie die Lage in anderen Dörfern ist und ob wir dort eine mobile Klinik machen sollen.

MOMENT.at: Wie haben die Leute reagiert, wenn ihr bei solchen Auskundschaften in die Dörfer gekommen seid? Hatten sie Angst?

Uy: Nicht unbedingt Angst. Aber sie waren zu Beginn sehr verhalten, weil sie Ärzte ohne Grenzen nicht kennen. Wir hatten immer jemanden dabei, der herumgegangen ist und mit den Leuten geredet und ihnen erklärt hat, was wir eigentlich machen. Ihnen war nicht klar, dass sie bei uns nichts zahlen müssen. In der Ukraine sind Konsultationen zwar gratis, aber Medikamente nicht.

Der Andrang ist dann mit der Zeit immer größer geworden und unsere Arbeit ist auf sehr viel positive Resonanz gestoßen. Die Leute haben uns immer wieder gesagt: “Danke, dass ihr kommt und nicht auf uns vergesst.” Als die Region unter russischer Militärkontrolle war, ist ein Großteil der Ärzte geflohen. Die Menschen dort haben bis zu neun Monate keine Ärzte gesehen oder eine medizinische Behandlung bekommen.

Wir haben auch versucht, die kleinen Ambulatorien in den Dörfern wieder aufzubauen. Die Arbeitsbedingungen waren dort sehr schwer. Es gab oft keinen Strom, dadurch auch keine Heizung. Teilweise waren die Fenster zerstört, wodurch es noch kälter wurde. Unser Logistik-Team hat das teilweise ausgebessert und etwas gemütlicher gemacht. Wir wollten ja auch, dass die geflohenen Ärzte wieder zurückkommen. Das Ziel war ja, dass das Gesundheitssystem wieder die Kontrolle übernimmt.

MOMENT.at: Hat das funktioniert?

Uy: Teilweise, ja. Zwar nicht die Ärzte, die weiter weg geflohen sind. Aber die aus den Städten in der Umgebung haben zugestimmt, dass sie ihre Kliniken wieder beziehen, wenn sie darin wieder arbeiten können.

MOMENT.at: Wen habt ihr in den Kliniken behandelt? Geht es da um Menschen, die im Krieg verletzt wurden?

Uy: Das war tatsächlich eher selten der Fall bei uns. Hauptsächlich waren es ältere Menschen, die teilweise immobil waren. Weil der öffentliche Verkehr zum Stillstand gekommen ist, konnten die auch nicht mehr in die nächstgrößere Stadt fahren, um sich ihre Medikamente zu holen.

Ganz häufig ging es um die Behandlung chronischer Krankheiten. Es gab etwa viele Menschen, die einen Schlaganfall bekommen hatten während der Besatzung, weil sie ihre Blutdruckmedikamente nicht mehr bekommen haben. 

Es war auch in jeder mobilen Klinik ein Psychologe dabei. Wir haben sehr viele posttraumatische Belastungsstörungen gesehen, genauso wie Angst- und Schlafstörungen. Die Leute haben ja fast die ganze Zeit im Bunker verbracht, weil die Dörfer ständig beschossen wurden. Und viele Personen haben Angehörige, die im ukrainischen Militär dienen.

MOMENT.at: Nimmt Russland Rücksicht darauf, dass ihr vor Ort seid?

Uy: Ärzte ohne Grenzen ist immer bestrebt, mit allen Konfliktparteien zu verhandeln. Die Sicherheit der Teams und der Patient:innen ist natürlich sehr wichtig. Deswegen haben wir auch darauf geachtet, dass wir auf keiner Plattform unsere Position preisgeben.

MOMENT.at: Aus Laiensicht würde man davon ausgehen, dass beide Kriegsparteien von eurem Einsatz wissen. 

Uy: Es geht dabei einfach um Sicherheitsbedenken. Wenn wir wo aktiv sind, zeigt das, dass sich dort größere Menschenmengen aufhalten. Die Dörfer sind wieder belebter. Wobei man sagen muss, dass Raketen- oder Drohnenangriffe viel Geld kosten. Es hat eigentlich keinen Mehrwert, wenn man so kleine Dörfer mit Raketen beschießt. 

MOMENT.at: Hast du von den Kampfhandlungen noch etwas mitbekommen?

Uy: In der Region, in der wir waren, befand sich die Frontlinie. Das russische Militär hat sich aber am 11. November über den Fluss Dnepr zurückgezogen. Eines der Dörfer, das wir versorgen, war aber nur 10 Kilometer davon entfernt. Es gab auch Überlegungen, ob wir unsere Aktivitäten auf Kherson erweitern sollen. Unser Projektkoordinator war einmal dort, die Stadt wurde ständig beschossen. Es war unmöglich, da etwas aufzubauen.

MOMENT.at: Es herrscht immer noch Krieg in der Region. Wie gefährlich waren eure Einsätze in der Umgebung?

Uy: Es gab für uns zwei Hauptgefahren. Einerseits waren das die Luftangriffe, wobei die natürlich nicht immer für uns bestimmt waren. Viele Raketen sind über uns in Richtung Kyiv geflogen. Für uns gab es dann jedes Mal einen Luftalarm. Es gab einen Einschlag in Mykolaiv, wo unser Büro war.

Die Hauptgefahr war aber eine andere. Als sich das russische Militär zurückgezogen hat, wurde das Gebiet großteils vermint. Auf den Hauptstraßen finden sich zwar keine Minen mehr, dafür aber auf den kleinen Straßen, die in die Dörfer führen. Wenn du irgendwo gefahren bist und Reifenspuren gesehen hast, war das ein gutes Zeichen. Wenn nicht, standest du vor der Entscheidung, ob du weiterfährst.

MOMENT.at: Sind diese Gefahren ständig präsent oder treten die in den Hintergrund?

Uy: Teilweise tritt das in den Hintergrund. Man bekommt auch eine gewisse Routine. Wenn etwa ein Luftalarm war, hat das Logistik-Team versucht herauszufinden, woher die Raketen sind. Man wusste oft relativ schnell, ob es notwendig ist, sich in Sicherheit zu begeben oder nicht.

Genauso mit Minen. Man kennt viele Strecken ja schon halbwegs, da weiß man es. Aber einmal ist eine Mine relativ nahe bei uns explodiert. Da ist die Gefahr auf einmal sehr schnell wieder im Kopf.

MOMENT.at: Du bist jetzt noch nicht so lange wieder zurück. Wie schwierig war es, sich wieder auf die Normalität einzustellen?

Uy: Ich muss zugeben, schwieriger als gedacht. 

Wenn du dort einen Jet siehst, weißt du, dass du dich in Sicherheit bringen musst. Und wenn du dann bei der Rückreise wieder Flugzeuge siehst, ist das schon unangenehm. Genauso wie mit großen Menschenmassen. Im Einsatz hat man normalerweise ja sehr wenige Leute gesehen. Wenn es laut wurde, war das kein gutes Zeichen. Schön langsam kommt aber wieder mehr das Gefühl von Zuhause auf.

MOMENT.at: Was war deine persönliche Motivation für den Einsatz?

Uy: Ein wichtiger Aspekt für mich war, dass ich viel weniger Ressourcen zur Verfügung habe. Ich arbeite hier in einer Allgemeinarztpraxis. Da kannst du eigentlich alle Untersuchungen machen. Und trotzdem hat man oft das Gefühl, dass man auf die einzelnen Menschen nicht so den Impact hat. Das war dort ganz anders. Man hat viel weniger und muss viel mehr auf sein eigenes Können vertrauen. Und teilweise muss man auch kreativ sein. Aber trotzdem sieht man, dass man viel bewirken kann. 

Und was mich persönlich tief beeindruckt hat, waren unsere ukrainischen Mitarbeiter. Die waren enorm motiviert, trotz der schwierigen Bedingungen. An manchen Tagen fährt man halt zwei Stunden in ein Dorf, arbeitet sechs Stunden in einem kalten Raum und fährt dann wieder zwei Stunden zurück. Dazu kommt das Sicherheitsrisiko. 

Aber es hat nicht einmal jemand gejammert oder sich beschwert, wie schwierig alles ist. Genauso war es bei unseren Patienten. Trotz allem, was sie erlebt haben und was noch auf sie zukommen könnte. Sie haben sich immer einen Hoffnungsschimmer bewahrt.

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