KI, Profite & Überwachung: „Was heute mit Daten passiert, ist eine Form von Kolonialismus“
Daten sind in aller Munde. Manche wollen sie schützen, andere können gar nicht genug von ihnen bekommen. Die Professoren Ulises A. Mejias (New York) und Nick Couldry (London) beschreiben im nun auf Deutsch erschienenen Buch “Datenraub – Der neue Kolonialismus von Big Tech und wie wir uns dagegen wehren können” das Konzept des Datenkolonialismus. Im Gespräch mit MOMENT.at reden sie über das Phänomen und was man dagegen tun kann.
MOMENT.at: Was ist Datenkolonialismus?
Ulises A. Mejias: Es wirkt vielleicht komisch, wenn wir diese zwei Wörter zusammenführen. “Daten” verbinden wir mit dem Jetzt und mit der Zukunft, “Kolonialismus” verbinden wir mit der Vergangenheit. Aber was heute mit Daten passiert, kann als eine neue Form von Kolonialismus betrachtet werden.
Nick Couldry: Daten werden genommen und fließen jetzt in die Entwicklung „Künstlicher Intelligenz“. Das ist klarerweise auch kapitalistisch motiviert. Aber das erfasst nicht das vollständige Bild. Nur ein Modell kann das wirklich erklären: Kolonialismus. Für die letzten 500 Jahre galt die Idee, dass vor allem Eliten aus dem globalen Norden einfach alles zu ihrem Vorteil nehmen können.
MOMENT.at: Warum will man denn Daten sammeln?
Couldry: Sie sind eine Möglichkeit, menschliches Leben in den Kapitalismus einzubinden. Dafür braucht man einen kolonialen Datenraub. Bevor digitale Plattformen entwickelt wurden, konnten wir uns miteinander unterhalten, ohne dass jemand zugehört hat. Das hat sich geändert. Wir können auf Plattformen nichts tun, ohne Daten zu hinterlassen, mit denen Gewinn erzeugt werden kann. Normalerweise geht es dabei um Geld. Aber wir sollten nicht unterschätzen, dass auch Staaten an Daten interessiert sind. In China hat der Staat geholfen, Plattformen zu errichten und hat zu den Daten privilegierten Zugang.
Mejias: Ein gutes Beispiel haben wir während der Pandemie gesehen. Das war eine Zeit der wirtschaftlichen Krise für die meisten Personen, viele Firmen und Regierungen. Big Tech ging es aber gut. Der Grund dafür: während dieser Zeit der Isolation wurde Technik, die uns Leben, Bildung und Arbeit online ermöglicht, vermehrt genutzt. So konnten Unternehmen mehr Daten extrahieren, und die Profite sind gestiegen, während der Rest von uns gelitten hat.
MOMENT.at: Wer sind die Big Player im Datenkolonialismus?
Mejias: „Big Tech“! Im Westen denken wir an Google, Apple, Meta, Amazon. Microsoft spielt momentan in Sachen KI eine größere Rolle. Aber westliche Firmen stehen auch im Wettkampf mit ihren Gegenstücken in China. Wir betrachten das Silicon Valley und die Kommunistische Partei Chinas als die Machtzentren dieser Ordnung. Chinesische Firmen haben in vielen Fällen gleich große Zielgruppen wie Firmen im Westen. Sie haben viele Ressourcen, haben die Unterstützung des Staats. Dann gibt es noch Hersteller von Hardware, smarter Geräte, kleinerer Plattformen, etc.
Couldry: Um ein unerwartetes Beispiel zu ergänzen: Supermärkte – beispielsweise Walmart in den USA. Sie arbeiten eng mit Sozialen Medien zusammen, um deren Input für Kundenmodelle zu sammeln.
MOMENT.at: Wer kommt denn durch Datenkolonialismus zu Schaden?
Mejias: Betroffen sind alle oder die meisten von uns: wenn man ein Handy benutzt, das Internet, einen Computer. Aber die Auswirkungen sind nicht gleich verteilt. Manche Menschen zahlen einen höheren als Preis als andere. Wenig überraschend sind das dieselben Bevölkerungsteile, die auch in der Vergangenheit stärker unter Kolonialismus gelitten haben: Schwarze Personen, Frauen, Arme und andere. Deren Arbeit wurde ausgebeutet, deren Stimmen wurden unterdrückt. Dieselben Muster sehen wir beim Datenkolonialismus. Die negativen Konsequenzen tragen verstärkt die erwähnten Gruppen.
MOMENT.at: Wir bekommen viele der Services kostenlos und geben dafür unsere Daten her. Ist das nicht ein fairer Tausch?
Couldry: Das wird gerne behauptet. Wir nennen das eine zivilisierende Geschichte. So etwas gibt es im Kolonialismus seit Jahrhunderten. Die sagen: “Ihr mögt vielleicht nicht, was wir tun, aber es ist okay, weil … .” Früher war das zum Beispiel Zivilisierung oder Bekehrung zum Christentum. Heute dreht sich eine dieser Geschichten um Bequemlichkeit. Es ist bequem, auf einer Plattform zu sein, weil unsere Freund:innen dort sind. Wirkt wie ein guter Deal. Aber ein paar Dinge sind komisch daran: wenn unsere Daten einmal weg sind, sind sie für immer weg. Die Plattformen benutzen wir aber vielleicht nur für ein paar Monate. Da besteht ein Ungleichgewicht.
Mejias: Wir geben die Daten, dafür können wir im Internet recherchieren oder Plattformen benutzen. Teil der Erzählung ist, dass das ein fairer Tausch ist. Wenn wir aber an der Oberfläche kratzen, wird das Problematische schnell ersichtlich. Wir haben uns zum Beispiel nicht dafür angemeldet, damit sämtliche Inhalte gescannt und für das Training künstlicher Intelligenz verwendet werden.
MOMENT.at: Kolonialismus hat unfassbares Leid verursacht. Datenkolonialismus hat nicht annähernd so drastische Folgen. Ist das Label fair?
Couldry: Diese Phase von Kolonialismus ist anders als andere Phasen – das ist uns bewusst. Wir sehen diese Unterschiede und betonen sie. Aber wir fokussieren uns auf ein Merkmal, das sie gemeinsam haben: die Idee, alles zu nehmen. Der Datenraub, der dem ursprünglichen Landraub folgt.
Mejias: Wenn wir das Label Kolonialismus nur einem System umhängen sollen, das für gleich viele Tote wie frühere Formen des Kolonialismus gesorgt hat, dann nein. Wir sind daran interessiert, Kontinuitäten zu erkennen; wie das heutige System das Vermächtnis eines vergangenen Systems weiterführt. Die Kontinuität ist der Akt der Extraktion.
MOMENT.at: Was können wir gegen Datenkolonialismus tun?
Couldry: Zum Beispiel kennen wir alle Liefer-Apps. Diese beuten die Arbeiter:innen gravierend aus: Ihnen werden oft unmögliche Aufgaben gestellt, Bewertungen können sehr unfair sein, et cetera. In New York haben lateinamerikanische Arbeiter:innen sich organisiert, um Arbeitsbedingungen zu bekämpfen, und hatten sogar Erfolg. Es ist natürlich schwierig, aber es gibt erfolgreiche Wege.
Mejias: Das sind komplizierte Probleme und wir werden keine einfachen Antworten geben können. Von Aktivist:innen können wir lernen, klug und simultan auf verschiedenen Stufen zu handeln.
Wir müssen im System, gegen das System, und außerhalb des Systems arbeiten. Innerhalb des Systems zu arbeiten, heißt Mainstream Politik zu machen, Druck auf Regierungen zu machen. Gegen das System zu arbeiten funktioniert durch Proteste verschiedener Art. Außerhalb des Systems zu arbeiten, bedeutet, kreative und neuartige Ansätze zu finden.