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Ungleichheit

Delogierung wegen Corona-Mietschulden: "Es schreit nicht wer umsonst nach Hilfe"

Vor der Coronakrise hat Kellner Paul gut verdient. Dann verlor er seinen Job und häufte Mietschulden an. Es kam die Räumungsklage und jetzt die Delogierung. Er ist kein Einzelfall. Volkshilfe, Arbeiterkammer, Immobilienwirtschaft fordern einen Mieter-Hilfsfonds, um massenhafte Delogierungen wegen Corona-Mietschulden zu vermeiden. Für Paul käme das wohl zu spät. Denn die Regierung lässt sich Zeit.

Der junge Mann mit der in die Stirn gezogenen Baseballkappe ist ein hoffnungsloser Fall. „Heute habe ich die Delogierung bekommen“, sagt er. Danach lacht er kurz, aber es ist kein fröhliches Lachen. Paul, 28 Jahre alt, verheiratet, ein Kind, sitzt im Büro der Volkshilfe Wien. Die berät und unterstützt Menschen, denen Mietschulden über den Kopf gewachsen sind und denen die Delogierung droht.

Seit die Coronakrise ausgebrochen ist, klopfen bei der Volkshilfe immer mehr Menschen an – so wie Paul. Der konnte sich nie vorstellen, einmal hier zu sitzen. Vor der Krise hat er gut verdient, sehr gut sogar: Als Kellner in einem Wiener Innenstadt-Lokal brachte er monatlich 3.000 bis 3.500 Euro nach Hause. Großzügige Trinkgelder des Publikums dort und viele spendable Touristinnen und Touristen machten das möglich. Das reichte, um die Familie als Alleinverdiener gut durchzubringen. Seine Frau konnte sich darauf konzentrieren zu studieren.

Plötzlich hatte ich nur 980 Euro im Monat. 800 Euro muss ich für meine Wohnung zahlen.
Paul, von Delogierung bedrohter Mieter

„Mit Corona habe ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten können“, sagt Paul im Gespräch mit MOMENT. Er will nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden. Sein Chef habe nur die altgedienten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter behalten und sie in Kurzarbeit geschickt. Paul musste gehen, offiziell einvernehmlich und mit der Aussicht wieder eingestellt zu werden, wenn alles vorbei ist. Der erste Gang führte ihn zum AMS: „Plötzlich hatte ich nur 980 Euro im Monat. 800 Euro muss ich für meine Wohnung zahlen“, sagt er.

Mit der zweiten Welle kamen die Mietschulden

Das ging nicht lange gut. Die Ersparnisse seien bald aufgebraucht gewesen. Als nach dem ersten Lockdown im Sommer 2020 das Land wieder aufgesperrt wurde, bekam er den alten Job aber nicht zurück. Er fand in einem anderen Lokal eine Stelle, weiter entfernt vom Stadtzentrum, weniger Gehalt, weniger Touristinnen und Touristen, viel weniger Trinkgeld. Doch es reichte erstmal.

Dann kam im Herbst die zweite Welle und für Paul ging es bergab: Wieder war der Job weg, doch Ersparnisse hatte er keine mehr. Erstmals konnte er seine Miete nicht pünktlich zahlen, konnte sie gar nicht zahlen. „Eine Miete blieb offen“, sagt Paul. Seinem Vermieter habe er einen Vorschlag gemacht: „Ich zahle im nächsten Monat einfach zwei Mieten gleichzeitig.“ Das Geld bis dahin aufzustellen, gelang ihm nicht. Wie auch?

Die Vermietung sagte: Wenn jetzt jeder bei uns stunden würde, stehen wir auch blöd da.
Paul

„Da hab ich mich überschätzt. Ganz schnell war das nächste Monat da und ich konnte das nicht zahlen“, sagt er. Er habe dem Vermieter nur einen geringen Teil der ausstehenden Mieten anbieten können. „Sie haben gesagt, das geht nicht, sie können sich das auch nicht leisten.“ Er bat darum, die Miete zu stunden, also ihm die Möglichkeit zu geben später zu zahlen. „Sie sind dann mit dem Schmäh gekommen: Wenn jetzt jeder bei uns stunden würde, stehen wir auch blöd da“, berichtet Paul.

Recht auf Mietstundung in Corona-Gesetz hilft nichts

Das war im Dezember. Dann kam schon Post vom Gericht. Paul war geschockt. „Mich hat enttäuscht, dass sie sofort mit der Räumungsklage reagiert haben.“ Vier Jahre habe er in der Wohnung gelebt und immer pünktlich die Miete gezahlt.

Das COVID-19-Maßnahmengesetz schaffte eine Regelung für Menschen, denen die Coronakrise den finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen hat: Wer wegen der Krise seine Miete in den Monaten April bis Juni 2020 nicht zahlen konnte, der durfte sie zunächst schuldig bleiben, ohne von der Vermietung geklagt werden zu können. Im April dieses Jahres lief das Gesetz endgültig aus: Säumige Mietzahlungen dürfen jetzt eingeklagt werden. Delogiert werden dürfen Bewohnerinnen und Bewohner bis Ende Juni 2022 aber nicht.

Doch Paul und vielen anderen Menschen hilft das gar nichts. Sie haben keine Mietschulden aus den ersten drei Monaten der Coronakrise. Denn da ging es sich für die meisten noch irgendwie aus. Bernhard Sell von der Wiener Schuldnerberatung warnte schon im vergangenen August: „Wenn ich jetzt die Miete nicht zahlen kann, kann ich delogiert werden.“

Kein Einzelfall: Mietschulden drücken immer mehr Menschen

So wie Paul jetzt. Mitte Juni muss er, Stand jetzt, aus seiner Wohnung raus. „Der Fall ist abgeschlossen, leider zu seinen Ungunsten“, sagt Robert Blum von der Volkshilfe Wien. “Von rechtlicher Seite gibt es nichts mehr, was noch verhandelt werden kann“, sagt er zu MOMENT. Wolle sich die Vermietung nicht mit Paul einigen, „dann wird exekutiert und delogiert“, sagt der Sozialarbeiter von der Fachstelle für Wohnungssicherung.

Leider ist der repräsentativ. Ich würde gern was Besseres sagen, aber es ist so.
Robert Blum, Fachstelle Wohnungssicherung der Volkshilfe

Ist Paul ein Einzelfall? „Leider ist der repräsentativ. Ich würde gern was Besseres sagen, aber es ist so“, sagt Blum. Dabei klingen die Zahlen derzeit noch wenig dramatisch: Im vergangenen Jahr wurden knapp 36.000 Räumungsklagen eingebracht und Räumungsexekutionen beantragt. Im Jahr 2019 waren es mit 53.000 viel mehr. Vollzogen wurden 4.106 Räumungsexekutionen. Dem gegenüber standen 5.618 Delogierungen im Jahr 2019. Das geht aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung des Justizministeriums hervor (Link zum pdf).

Mietstundung, Ratenzahlung? Das geht nur eine Weile gut

Aber was heißt das schon? Wohnungsverlust wegen Mietschulden sei „ein Thema, das nicht sofort schlagend wird“, sagt Blum. „Es gibt Stundungen, es gibt Delogierungsstopp, man vereinbart Ratenzahlungen, borgt sich was von Freunden aus.“ Vor allem Frauen lebten oft in prekären Wohnverhältnissen. Sie kämen bei Freundinnen oder Verwandten unter. Das gehe eine Weile gut. Dazu hätten die Gerichte im vergangenen Jahr wegen der COVID-19-Pandemie nur eingeschränkt gearbeitet. „Das verschiebt alles in die Zukunft“, sagt Blum und warnt: „Ich würde sagen, dass wir jetzt knapp vor dieser Zukunft stehen.“ Er erwartet den Höhepunkt “im Herbst oder spätestens im Frühjahr 2022”.

Der Satz von koste es, was es wolle, ist bei der Wohnungssicherung sehr gut aufgehoben.
Tanja Wehsely, Geschäftsführerin Volkshilfe

Um die Folgen zu dämpfen, brauche es jetzt Gegenmaßnahmen: Die Volkshilfe fordert wie die Arbeiterkammer und auch der Verband der Immobilienwirtschaft einen Mieter-Hilfsfonds. Mit 100 Millionen Euro gefüllt sollte er helfen, das Schlimmste für Betroffene zu verhindern: wohnungslos auf der Straße zu stehen. “Der Satz von koste es, was es wolle, ist bei der Wohnungssicherung sehr gut aufgehoben”, sagt Tanja Wehsely, Geschäftsführerin der Volkshilfe.

Schätzung: Bis zu 17.000 von Delogierung betroffen

Ein Topf mit 100 Millionen Euro sei “gut investiertes Geld”, sagt sie zu MOMENT. Denn wenn immer mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, “wird das wahnsinnig teuer, auch für die öffentliche Hand und die Vermietungen. Delogierungen kosten ja auch was”, sagt Wehsely. Auf die Frage von MOMENT an das Sozialministerium, ob ein solcher Fonds kommen soll, kam bis Redaktionsschluss keine Antwort. Das Finanzministerium, das die Mittel dafür letztlich freigeben müsste, verwies darauf, auf eine Rechtsansicht des Justizministeriums zu warten. Das Justizministeriums sagte MOMENT, es sei dafür gar nicht zuständig.

Jetzt wird es kritisch für Leute, die wenig Rücklagen haben.
Thomas Ritt, Arbeiterkammer

Die Arbeiterkammer schätzt, dass wegen der Coronakrise bis zu 17.000 Mieterinnen und Mieter von Delogierungen betroffen sein könnten. Mietschulden in Höhe von 83 Millionen Euro könnten sich auftürmen. “Aus den Beratungsstellen hören wir, dass es jetzt kritisch wird für Leute, die wenig Rücklagen haben”, sagt Thomas Ritt, Leiter der Abteilung Kommunalpolitik und Wohnen der Arbeiterkammer. “Ich halte es für realistisch, dass sich in diesem Jahr die Zahl der Delogierungen verdoppelt”, sagt er.

Paul arbeitet wieder: Der Kellner schleppt Schutt am Bau

Delogierungen, wie sie Paul jetzt droht. Dabei zahle er seine Miete inzwischen wieder zuverlässig, sagt er. „Die Rückstände habe ich bezahlt, auch mit der neuen Arbeit.“ Paul ist jetzt im Straßenbau tätig. Der Kellner schleppt Schutt auf Baustellen. „Ich habe nach einer Woche erstmal schlapp gemacht, weil mein Körper das nicht gewohnt war“, sagt er. Doch er biss sich rein. Inzwischen arbeite er sieben Tage in der Woche, neben dem Job als Bauhackler fährt er Essen aus. „Aber es ist nicht mehr das, was es mal war“, sagt Paul. Damit meint er nicht nur die Arbeit, sondern auch sein Leben.

Zu seinem zweiten Geburtstag war es schwer, meinem Sohn etwas zu kaufen. Ich hatte nichts.
Paul

Früher schaute er nicht auf den einzelnen Euro, leistete sich Annehmlichkeiten. „Teures Essen, spontan etwas im Internet bestellen. Ich musste nicht auf den Preis schauen, wenn ich eingekauft habe“, sagt Paul. Im Supermarkt habe er sich nicht entscheiden müssen, „ob ich jetzt Bio nehme oder das 08/15“. Inzwischen kenne er alle Produkte der billigen Eigenmarken der Handelsketten und deren Preise. Das Schlimmste sei, dass er auch bei seinem Sohn sparen müsse. „Zu seinem zweiten Geburtstag war es schwer ihm etwas zu kaufen. Ich hatte nichts“, sagt Paul In dieser Zeit „war ich sehr enttäuscht und wütend auf mich selber, weil ich dastand und nicht arbeiten konnte, was ich gelernt habe“.

In eine günstigere Wohnung ziehen? Nichts zu machen

Dass es für Menschen wie ihn Hilfe gibt, „wusste ich gar nicht. Von so etwas wie Mietbeihilfe hatte ich noch nie gehört“. Inzwischen drücken Paul noch 3.000 bis 4.000 Euro Schulden, genau beziffern kann er es nicht. Es ist Geld, dass Paul sich privat geliehen hat. Ob er nicht versucht habe, in eine günstigere Wohnung zu ziehen? Ja, sagt er. Paul sei zu Wiener Wohnen gegangen. Diese verwaltet die rund 220.000 Gemeindewohnungen der Stadt.

Er weiß: Für seine 54 Quadratmeter große Wohnung im 3. Bezirk zahlt er eigentlich zu viel. „Bei der Gemeinde hätte ich möglicherweise eine günstigere Wohnung bekommen können“, sagt Paul. „Aber die haben mich beinhart abgelehnt. Für die war ich kein Härtefall“, sagt er. Paul ist enttäuscht, dass ihm die Gemeinde nichts anbieten konnte. Er sagt: „Man sollte zuhören und jeden Fall genau anschauen. Es schreit nicht wer umsonst nach Hilfe.“

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