Der Wiener Gemeindebau: Brennpunkt oder leistbares Wohnen für alle?
„Die soziale Durchmischung war immer einer der großen Vorzüge des Wiener Gemeindebau. Jeder vierte Wiener, beziehungsweise jede vierte Wienerin lebt im Gemeindebau – daraus ergibt sich automatisch eine gute Mischung“, sagt Renate Billeth, Pressesprecherin von Wiener Wohnen.
„Armutsproblem“ im Gemeindebau
Stimmt das wirklich?
„Der Gemeindebau hat ein Armutsproblem“, sagt Martin Orner. Er ist Leiter des gemeinnützigen Wohnbauträgers EBG. „Soziale Durchmischung findet dort nicht mehr statt.“
In hundert Jahren hat sich viel getan. Früher war der Gemeindebau für viele eine Verbesserung, ein Aufstieg zu besseren Wohnbedingungen.
Luxus im Karl-Marx-Hof
„Damals war die Situation in den Gründerzeitbauten schrecklich“, sagt Andrea Schaffar, die zum Gemeindebau forscht. „Das ist der historische Grund für die Gemeindebauten. Armut war weit verbreitet, die Menschen lebten unter schlechten hygienischen Bedingungen auf kleinem Raum. Oft ohne Bad, Klo und Wasser am Gang“, sagt die Forscherin. Für die Menschen waren Gemeindebauten wie der Karl-Marx-Hof Luxus: gut gebaute, günstige Wohnungen mit eigenem Bad und grünem Hof.
Heute wird der Gemeindebau oft als Abstieg, als „sozialer Brennpunkt“ wahrgenommen. Das ist oft Code für: Dort wohnen arme Menschen, von denen viele nicht aus Österreich kommen.
Früher gab es in den Altbauten der Stadt noch viele billige Wohnungen unter dem allgemeinen Standard, die C- und D-Kategorien. Die meisten davon wurden mittlerweile saniert und werden entsprechend teuer vermietet. Das bedeutet für die ärmere Bevölkerung, dass der Gemeindebau die letzte Chance auf leistbaren Wohnraum ist. Und die Stadt vergibt Wohnungen an die Menschen, die sie am dringendsten brauchen. Macht das den Gemeindebau zum „Brennpunkt“?
“Es kommt darauf an, über welchen Gemeindebau wir sprechen”, sagt Schaffar. Bei denen entlang des Gürtels stimme es. Während am Gürtel die ärmeren Familien ein dringend nötiges Zuhause finden, lebt im Karl-Marx-Hof auch der Mittelstand.
Wer in den Gemeindebauten wohnt, darauf hat die Stadt nur begrenzten Einfluss. Sie weiß zwar, wie es ums Einkommen steht, wenn die Familie einzieht – ob es dann bergauf oder bergab geht, weiß sie einfach nicht. So kommt es, dass beispielsweise Politiker Peter Pilz jahrzehntelang trotz Abgeordnetengehalts in einer extrem günstigen Gemeindewohnung in Kaisermühlen gelebt hat.
“Die soziale Durchmischung ist politisch gewollt”, sagt Forscherin Schaffar. “Die Stadt will verhindern, dass gewisse soziale Gruppen konzentriert an bestimmten Orten leben. Deswegen wurden in den 1920er Jahren gezielt in bürgerlichen Bezirken Gemeindewohnungen gebaut. Auch wenn es von den Reichen Widerstand gab.”
Nachbarschaftskonflikte
Bauträger-Leiter Orner hat als Hausverwalter die Erfahrung gemacht, dass es weniger Konflikte gibt, wenn unterschiedlichste Menschen zusammen wohnen. „Das stärkt das Verständnis“, sagt er. „Die Leute kommen besser miteinander aus, sie halten zusammen. Keine soziale Durchmischung heißt im gemeinnützigen Wohnbau, dass nur arme Menschen zusammenwohnen und die haben größere Sorgen, als irgendwelche Nachbarschaftskonflikte auszudiskutieren.“
Der Gemeindebau hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Wegen der Explosion der Mieten in den letzten 15 Jahren ist er vermehrt für die ärmsten Menschen in Wien da, sodass die soziale Durchmischung in vielen Anlagen zurückgeht. Dennoch ermöglicht er innerhalb des Bezirks und Grätzls das Zusammenleben von Reichen und Armen. Denn auch in Döbling und in Hietzing stehen Gemeindebauten, also in Bezirken, die für Geringverdienende sonst unerschwinglich sind.