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Kapitalismus
Ungleichheit

Die Ideologie der kaputten Brücken bedroht Europa

Vor zwei Jahren stürzte eine der wichtigsten Brücken Italiens ein: am Dienstag wurde der Rohbau der neuen fertig. Hoffnungsschimmer? Zu früh gefreut

Vor nicht ganz zwei Jahren stürzte eine der wichtigsten Brücken Italiens ein: die Morandi-Brücke in Genua. Der Kollaps riss 43 Menschen in den Tod, denen wortwörtlich die Straße vor den Füßen wegbrach. Eine wesentliche Zufahrtsstraße mit vormals über 1000 LKWs pro Tag zum bedeutendsten Hafen Italiens stand eingebrochen in der Landschaft. Die Bilder aus Italien gingen um die Welt.

Am Dienstag wurde innerhalb von sieben Monaten im Rekordtempo der Rohbau der neu gebauten Brücke fertig gestellt. Für das schwer von Euro-Krise, Sparpolitik, und Corona gebeutelte Land ist es ein Hoffnungsschimmer am Horizont, der den Beginn der „Wiederauferstehung“ des Landes nach Corona signalisieren könnte. 

Doch zu früh gefreut. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die großen Probleme des Landes nicht verschwinden. Denn die Bedingungen, die die zum Einsturz der Brücke beitrugen, sind noch immer die gleichen. Italiens Infrastruktur verfällt weiterhin. Die Europäische Union – allen voran Deutschland und seine sieben Sparefroh-Zwerge (unter anderem Österreich und die Niederlande) – schreibt „Bella Italia“ ein kontraproduktives Sparregime vor. Überbordende Budgetregeln führen sogar so weit, dass Italien nicht einmal die Mittel aufwenden kann, wenn ein Investitionsvorhaben nur die Hälfte kostet, weil die Europäische Union den Rest bezahlt.  

Die Infrastruktur wird kaputt gespart 

Für 2020 wurde das Sparregime von der Europäischen Zentralbank mit günstigen Finanzierungen zwar abgesagt. In Zeiten von Corona wäre das allzu unpassend. Doch für die Zeit danach kann es wieder losgehen, wenn es nach konservativ-liberalen VertreterInnen geht, die auch in Österreich und Deutschland den Ton vorgeben. Natürlich ist es keine rein parteipolitische Frage. Manch SozialdemokratIn, vor allem aus den Niederlanden, ist auch fleißig dabei, genauso wie manche Grünen die Positionen toleriert.  

Es ist auch keine geographisch abgegrenzte Frage, die nur den „Süden“ Europas betrifft. Eurostat-Daten zeigen: Der öffentliche Kapitalstock verfällt seit Jahren in allen vier großen Ländern der EU: Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Unter dem sperrigen Wort „öffentlicher Kapitalstock“ versteht man übrigens Brücken, Schulen, Kindergärten, Universitäten, Amtsgebäude, Polizeistationen, Feuerwehren, Krankenhäuser. Ein Verfall, der vor zehn Jahren noch gänzlich undenkbar schien. Mit Corona könnte er beschleunigt werden. 

Das Problem hat eine ideologische Wurzel 

Das vordergründige Infrastrukturproblem hat sein weitergehendes Übel in einer übertriebenen Ideologie, die lautet „Mehr Privat, weniger Staat“. Nulldefizite, ausgeglichene Budgets, Steuerquoten auf unter 40% – all das sind Schlagworte einer libertären Sichtweise, die prinzipiell nicht daran glaubt, dass der Staat etwas für die Gesellschaft Nützliches tun kann. Darum solle man ihn klein halten und wo es nur geht privatisieren. Das schadet fast immer den „Vielen“, der breiten Mehrheit der Gesellschaft, und nützt nur einigen wenigen Reichen finanziell – denen aber umso mehr.  

Der Brückeneinsturz Genuas ist dafür ein Paradebeispiel. Die private italienische Autobahngesellschaft Autostrade, Betreiberin der 2018 eingestürzten Brücke, wusste vier Jahre zuvor schon, dass die Brücke einsturzgefährdet war. Seit der Privatisierung 1999 verlangt die Gesellschaft mit die höchsten Autobahngebühren Europas, wie alle benzingetriebenen Italien-Urlauber jeden Sommer schmerzlich miterleben müssen. Instandsetzung hingegen kostet Geld, weswegen es privatwirtschaftlich sinnvoll ist, die Kosten dafür zu minimieren und notwendige Erhaltungsprojekte nach hinten zu schieben. Wer profitiert davon? Autostrade gehört einer zwischengeschalteten Luxemburgischen Holding-Gesellschaft, die wiederum zum größten Teil der überreichen italienischen Familie Benetton gehört. Doch nicht nur das. Autostrade schlägt über die Kontrolle der Auftragsvergabe im wenig wettbewerbsfreundlichen italienischen Baurecht eigenen Tochterfirmen auch noch Bauaufträge zu. All das mit dem Ziel, die Familie Benetton noch reicher zu machen.  

Vorbild für Österreich und Deutschland 

Nicht ganz zu Unrecht fordern deutsche Liberale daher eine Vermögensabgabe in Italien, damit der Staat einen Teil der Staatsschulden abträgt und jene einen Beitrag leisten, die ungebührlich von zu niedrigen Steuern in der Vergangenheit profitiert haben. Wenig sinnvoll scheint dabei aber die Belastung aller ItalienerInnen, vor allem jener, die lediglich ihr eigenes Heim bewohnen. Aber grundsätzlich könnte die Idee, zugeschnitten auf die Reichen, auch als Vorbild für Deutschland oder Österreich taugen. Zumindest nachdem sich die Volkswirtschaft unmittelbar vom Corona-Schock erholt hat und die Bezahlung der Krisenkosten ansteht. 

Der ideologische Vorreiter des „ausgeglichenen Budgets“ Deutschland mag dem äußeren Schein nach zwar finanziell vorbildlich wirken. Doch auch in Deutschland wurden die Steuern für die Menschen mit viel Vermögen und hohem Einkommen systematisch gesenkt, wie Ulrike Herrmann (hier im MOMENT-Gespräch zur Krise) in ihrem neuesten Buch rekonstruiert.  

Kaputte deutsche Kommunen 

Mitgeholfen beim ausgeglichenen Budget haben auch deutsche Kommunen, Ländern und der Bund, indem sie die deutsche Infrastruktur jedes Jahr ein wenig mehr kaputtgehen ließen – denn das spart Geld. In einem reichen, wachsenden Land würde man eigentlich Neuinvestitionen erwarten – jedes Jahr etwas mehr Geld für die staatliche Infrastruktur, damit öffentliche Güter mit dem Niveau des privaten Wohlstands und den Erwartungen der BürgerInnen mithalten können.  

Tatsächlich reicht das veranschlagte Geld seit Jahr nicht einmal mehr für sogenannte Ersatzinvestitionen. Die sind einzig dazu nötig, damit der Verfall an bestehenden Gebäuden durch Renovierungen oder Neubauten ausgeglichen wird. Also statt einer bald einsturzgefährdeten Schule eine neu renovierte Schule im Dorf steht. 

Dunkle Wolken am österreichischen Horizont 

Österreich hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zumindest mehr investiert als Deutschland – die Infrastruktur ist in weiten Teilen noch in einem besseren Zustand. Doch die Corona-Krise könnte das verschlimmern. Die wegbrechenden Steuereinnahmen durch die Betriebsschließungen stellen Ländern und Gemeinden vor Probleme, die nicht so einfach und günstig wie die Bundesregierung neue Kredite aufnehmen können. Einige GemeindevertreterInnen haben schon bekannt gegeben, dass sie ihre Investitionen wie die Renovierung des örtlichen Altenheims, Kindergartens oder Schwimmbads auf das nächste oder übernächste Jahr verschieben werden. Viele Gemeinden hatten auch in den Jahren zuvor aufgrund mangelnder Einnahmen nur mehr das nötigste getan.  

Eine Statistik des Gemeindebunds bestätigt das: Die Investitionen der Gemeinden hatten nach der letzten Krise 2010 fast ein halbes Jahrzehnt gebraucht, um sich auf das Vorkrisenniveau zu erholen. Nach drei weiteren Jahren Stillstand erreichten sie erst 2017 wieder ausreichende Steigerungsraten.  

Die Gefahr der Blümel-Politik 

Mit einer Rückkehr zur Sparpolitik und einer Abgabenquote von 40%, wie sie Finanzminister Blümel nach Corona anstrebt, wird sich eine Wiederholung der rezenten Geschichte nicht vermeiden lassen. Der Verfall der Infrastruktur wird sich damit auch in Österreich verschlimmern. Vielleicht wäre „etwas mehr Staat“ als Lehre aus der Corona-Krise nicht die allerdümmste Idee. Doch aus der Geschichte lernen gerade Leute, die die eigenen finanziellen Pfründe schützen wollen, bekanntlich zumeist nicht. 

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