Die Krise ist nicht für alle schlecht – aber für Ärmere schlechter
Nicht alle Menschen leiden unter der Pandemie. Manche können sogar an der Krise wachsen. Für ärmere Menschen ist die Situation schlechter - aber man kann dafür sorgen, dass auch sie profitieren, sagt Christiane Eichenberg.
Foto: Christiane Eichenberg
MOMENT: Warum ist die Pandemie denn für viele Menschen belastend?
Christiane Eichenberg: Weil mehrere Belastungsmomente zusammenkommen. Wir können beispielsweise tödliche Bedrohungen erleben, wenn wir oder Angehörige an Covid-19 erkranken. Oder wir können ökonomische Aspekte und Ängste erfahren: die Kurzarbeit, der Arbeitsplatzverlust, die Schwierigkeiten für Selbstständige. Damit hängen dann auch Einschränkungen in der Lebensführung zusammen: das Reisen, das Home-Office, das nicht von jedem frei gewählt wurde, Quarantänemaßnahmen und die Abstände, die eingehalten werden müssen. Das ist alles neu für uns und geht mit Befürchtungen und Unsicherheit einher.
Was bedeutet gerade dieses Abstandhalten?
Christiane Eichenberg: Stellen Sie sich vor, um ein extremeres Beispiel zu nennen, man verliert einen geliebten Menschen. Man kann ihn jetzt sowieso nur noch mit sehr wenigen, allerengsten Nächsten zu Grabe tragen. Und was hilft in solchen Situationen typischerweise? Dass die Hand gehalten wird, dass umarmt wird. Der körperliche Kontakt ist eine ganz wesentliche Ressource und die ist nun plötzlich eingeschränkt. Plötzlich wird das Gegenüber zum potenziellen Virenträger und der Körperkontakt zur Ansteckungsgefahr. Damit fallen auch unsere Alltagsrituale weg.
In unserer Kultur schütteln wir uns die Hand, in Wien begrüßen wir uns mit Bussis. Jetzt müssen wir uns plötzlich umgewöhnen und auf wichtige Ressourcen verzichten: Durch die Masken fehlt viel von Mimik und Gestik, weil man nur noch einen bestimmten Ausschnitt vom Gesicht sieht. Das sind soziale Hinweisreize, an denen wir uns üblicherweise orientieren. Also braucht es jetzt eine ganz andere Wahrnehmung, eine Feinabstimmung. Heute muss ich auf die Augen schauen um zu sehen, ob jemand lächelt. Das ist eine riesige Umstellung und auch ein großer Verlust für uns.
Riesige Umstellungen und Verluste werfen die Frage danach auf, wie Menschen damit umgehen. Mit Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland und Österreich haben Sie begonnen, das menschliche Verhalten während der Pandemie zu erforschen. Was konnten Sie dabei feststellen?
Christiane Eichenberg: Genau, wir haben über 3.000 Menschen befragt, die Studie war allerdings nicht repräsentativ. Es waren mehr Frauen und vor allem solche mit einem hohen Bildungsniveau. Bei denen haben wir bemerkt, dass eine hohe Bereitschaft bestand, sich an die gesetzlich angeordneten Schutzmaßnahmen zu halten. Dadurch, dass die Menschen eingesehen haben, dass die Maßnahmen notwendig sind und sich freiwillig daran gehalten haben, waren die damit verbundenen emotionalen Belastungen relativ gering. Allerdings zeichnet sich ein anderes Bild ab, wenn man sich die allgemeinen Belastungen durch die Krise anschaut.
Da gab es Unterschiede?
Christiane Eichenberg: Da gaben doch deutlich größere Gruppen an, emotional belastet zu sein. Die Bevölkerung reagiert nicht einheitlich auf die Krise. Es gab Unterschiede darin, wie gefährlich die Situation und das eigene Erkrankungsrisiko eingeschätzt wird und wie die vorbeugenden Maßnahmen umgesetzt werden. Wir konnten dabei vier Typen der Reaktion bilden: sorglose Bagatellisierer, ressourcenstarke Verantwortungsbewusste, ängstliche Compliant (Anm. d. Red.: auf Deutsch bedeutet Compliant ungefähr das “Fügsame”) und Angstabwehrer.
Es gibt also verschiedene Reaktionstypen auf die Pandemie. Von einer Belastung für die ganze Gesellschaft kann man demnach nicht sprechen?
Christiane Eichenberg: Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Wir gehen von einem Risikogruppenkonzept aus. Es wird letztlich sogar eine Gruppe geben, die gestärkt aus der Krise hervorgeht, das nennen wir “Posttraumatisches Wachstum”. Die werden dann die Erfahrung gemacht haben, dass man eine Krise meistern kann. Das stärkt personale Ressourcen. Es wird aber natürlich auch eine Gruppe geben, die sehr belastet und mit psychischen und körperlichen Folgen aus der Krise hervorgeht. Nicht jeder Mensch erlebt diese Folgen. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Welche Faktoren sind das?
Christiane Eichenberg: Wir schauen uns biologische, psychische und soziale Aspekte an. Daraus zusammen steigt dann das Risiko pandemischer Stressfolgen. Dazu gehören beispielsweise Vorbelastungen oder Vortraumatisierungen. Dann gibt es bestimmte Umweltfaktoren und Persönlichkeitsfaktoren, die eher anfällig für Stressfolgen machen. Fühle ich mich zum Beispiel durch soziale Medien oder durch soziale Angebote und Hilfspakete der Regierung hinreichend informiert oder eher im Ungewissen gelassen? Habe ich eine tödliche Bedrohung erlebt? Habe ich Existenzängste? War ich bereits lange in Quarantäne? Wie hoch ist meine psychische Widerstandsfähigkeit? Wie ängstlich bin ich?
Gerade für Menschen, die mehr zu Angst neigen, ist es besonders schwierig, sich zu orientieren und zu stabilisieren. Wir wissen aus verschiedenen Studien auch, dass einkommensschwache Personengruppen durch die Corona-Krise besonders belastet und verunsichert sind. Hilfsmaßnahmen müssen diese Gruppe daher unbedingt berücksichtigen und ebenso gezielt adressieren.
Mit welchen Hilfsmaßnahmen könnte belasteten Menschen denn geholfen werden?
Christiane Eichenberg: Unsicherheit würde reduziert, wenn diese Gruppe erlebt, vonseiten der Politik wahrgenommen und entsprechend unterstützt zu werden. Das dadurch reduzierte Ohnmachtserleben in dieser Krise würde gleichzeitig die Selbstwirksamkeit stärken. So könnten vor allem die Schwächeren in unserer Gesellschaft in der Krise die Chance erhalten, sie selbständig zu meistern. Dabei ist wichtig, dass es nicht nur finanzielle Unterstützung gibt, sondern auch beispielsweise psychosoziale Hilfsangebote.
Wir wissen, dass die Lebenssituation der Einkommensschwächsten häufig durch mehrere Problemlagen belastet ist. Ein Beispiel dafür sind beengte Wohnverhältnisse, die familiäre Belastungen generell, aber vor allem in Phasen von Lockdowns, verstärken. Solche Stressbelastungen zeigen sich häufig zeitversetzt. Daher ist es wichtig, die Angebote längerfristig anzubieten.
Werden solche Angebote bereits umgesetzt?
Christiane Eichenberg: Im Rahmen der Krise wurden bestehende psychosoziale Hilfsangebote ausgebaut: Chatangebote und Helplines, wie die Telefonseelsorge zum Beispiel. Dabei muss natürlich darauf gedachtet werden, dass solche Angebote auch entsprechend öffentlich gemacht werden. Im ersten Lockdown kannte jeder die Nummer 1450, aber viele wussten nicht von den psychosozialen Hilfsangeboten. Vor allem müssen diese Möglichkeiten aber auch vom Stigma befreit werden. Es bestehen ja immer noch Hürden, psychosoziale Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Es ist normal, dass man in einer Krise belastet ist und es ist ok, sich dann Hilfe zu suchen.