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Gesundheit

Eine Kinderärztin spricht: "Kinder sind katastrophal unterversorgt"

Elisabeth Rüth-Dressel ist Kinderärztin im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Sie ist 64 Jahre alt und geht im März in Pension. Für ihre Kassenstelle findet sie aber keine Nachfolge. In ganz Österreich fehlen 26 Kassenstellen für Kinderheilkunde. Deshalb hat die “Frau Doktor beim Riesenrad” eine breite Initiative für eine bessere Kindergesundheit gestartet, den „Kindertisch beim Riesenrad“ - denn bereits jetzt sind Kinder “katastrophal” unterversorgt und es droht, noch schlimmer zu werden.

Moment: Sie gehen Ende März in Pension und können keinen Nachfolger finden. Warum ist das so schwer?

Elisabeth Rüth-Dressel: Ich wollte eigentlich schon letztes Jahr meinen Ruhestand antreten und habe ihn um fast ein Jahr verschoben. Ich habe auf ein Wunder gehofft, dass doch noch jemand meine Ordination übernimmt. Kinderärzte werden einfach innerhalb der Fachärzteschaft am schlechtesten bezahlt. Bereits als ich in Ausbildung war, wurde mir gesagt, dass ich als Internistin viel mehr verdienen würde. Für mich war Geld sekundär – es geht mir um die Freude an meiner Tätigkeit. Finanziell werde ich das jetzt in der Pension zu spüren bekommen, aber dafür gehe ich mit einem Gefühl der Zufriedenheit in den Ruhestand.

Warum werden KinderärztInnen schlechter als andere ÄrztInnen bezahlt?

Weil wir uns für die Kinder und deren Eltern viel Zeit nehmen müssen. Das wird aber nicht entsprechend entlohnt. Ich muss im Quartal mindestens 900 Krankenscheine lösen, sonst komme ich finanziell nicht über die Runden. Das sind 60 bis 70 kleine Patienten täglich, die mit ihren Eltern kommen, die eine Beratung brauchen. Bis Ende 2020 werden die Kassentarife um 30 Prozent erhöht worden sein, dann kann man pro Quartal und Kind einmalig rund 90 bis 100 Euro abrechnen. Das ist unabhängig davon, wie oft das Kind zu mir kommt. Das ist aber noch immer viel zu wenig. Die Kinder kommen in der Regel mehrmals. Bei 30 Prozent darf ich ein sogenanntes “therapeutisches Gespräch” verrechnen, also wenn ich mir länger Zeit nehme. Dann bekomme ich eben die 100 Euro. Aber was ist mit den anderen 70 Prozent? Für die darf ich mir keine Zeit nehmen? Das mache ich dann um „Gottes Lohn“, also gratis für das Kindergesundheitssystem. Ist das das Fundament unserer zukünftigen Gesellschaft?

Warum wurde der Tarif nicht schon längst erhöht, beziehungsweise andere Maßnahmen beschlossen, um diesem FachärztInnenmangel entgegenzuwirken? Droht nicht durch die Pensionswelle ein noch schlimmerer Engpass in der Kinderheilkunde?

Es ist nicht mehr fünf vor Zwölf, sondern bereits fünf nach. Es kommen zum Beispiel jetzt noch immer Mütter mit ihren Babys zu mir in die Ordination, weil sie nirgends aufgenommen werden. Ich sage ihnen, dass ich in einem Monat in Pension gehe, aber sie müssen Mutter-Kindpass-Untersuchungen machen. Sonst wird ihnen das Kinderbetreuungsgeld gekürzt. Wer es sich leisten kann, geht zu WahlärztInnen, aber auch die haben oft schon so viele PatientInnen, dass sie gar keine neuen mehr aufnehmen!

Wo gehen dann all diese Eltern mit ihren Kindern hin?

Zu AllgemeinmedizinerInnen, von denen es aber auch zu wenige gibt und die – wegen der inzwischen drastisch verkürzten Ausbildung von nur noch drei Monaten Kinderheilkunde – einfach zu wenig Fachwissen haben können. Oder sie gehen in die Spitalsambulanzen, wo es aber auch inzwischen zu wenige Kinderärzte gibt und dort warten sie dann bis zu acht Stunden.

Es gibt ja nicht nur zu wenig KinderärztInnen, sondern auch zu wenig Kinder- und JugendpsychiaterInnen. Überhaupt gibt es auch zu wenige Kassenplätze für Ergo-, Logo- oder Psychotherapie. Wie schlimm ist es für Kinder, wenn sie zu spät behandelt werden?

Auch diese Versorgungslücken sind seit Jahren bekannt. Das ist natürlich fatal! Stellen Sie sich vor: ein Kind mit vier oder fünf Jahren hat einen Sprachfehler, es lispelt. Bis zur Diagnose vergeht ein Jahr und dann dauert es nochmals, bis es eine Therapie erhält. Dann ist es aber bereits in der Schule! Das ist dann natürlich katastrophal.

Warum sind Kinder so schlecht versorgt?

Das Problem sagt sehr viel über die Werte in unserer Gesellschaft aus. Wir sehen ja kaum mehr Kinder auf der Straße. Eltern sind grundsätzlich gestresst, beide arbeiten in der Regel. Schon die Suche nach einem Kindergartenplatz ist eine Herausforderung. Ich habe das Gefühl, dass die Lust darauf, ein Kind großzuziehen, schon sehr geschmälert wird. Mich wundert es nicht, dass die jungen Menschen immer weniger Babys bekommen. Kinder haben einfach keinen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Die Aussicht auf Rückhalt in Gesellschaft und Politik, auf Solidarität ist bedrückend minimal. Das Bewusstsein, welchen menschlichen, kulturellen und ökonomischen Wert Kinder repräsentieren, ist kaum mehr vorhanden. Im unmittelbaren Kontakt sieht das zum Glück ganz anders aus! Wenig Menschen können sich der Wirkung entziehen, die Kinder auf sie ausüben. Das hat für mich viel mit Herz, Lebendigkeit und Lebensfreude zu tun. Diese für jeden einzelnen Menschen essenziellen Grundlagen finden in unserer Welt allgemein zunehmend weniger Platz.

So wie Frauen?

Genau, das gilt vor allem auch für Frauen. Es gibt nicht nur zu wenig KinderärztInnen, sondern auch zu wenig Kassenstellen für Gynäkologie. Also für rund zwei Drittel der Gesellschaft, nämlich Frauen und Kinder, ist die öffentliche Versorgung schlecht. Ist das Zufall? Ich glaube nicht. Grundsätzlich sind alle Berufe, bei denen Menschen mit Menschen arbeiten, deutlich schlechter bezahlt – Jobs die oft von Frauen ausgeübt werden. Wir haben ähnliche Diskussionen ja auch in der Pflege und anderen Sozialberufen. Die Soziologinnen Edit Schlaffer und Cheryl Benard nannten sie auch “Schattenarbeit”, also Arbeit, die erst sichtbar wird, wenn sie nicht gemacht wird.

Aber sind Kinder nicht ein Wirtschaftsfaktor?

Es ist paradox. Es gibt zig Studien, die belegen, dass sich Investitionen in Kinder extrem lohnen. Wir wollen ja gesunde und gut ausgebildete Menschen für die Zukunft! Doch die politische Realität sieht anders aus. Es gibt zwar eine im Parlament beschlossene Alterssicherungskommission, wo mehrere Ministerien zusammenarbeiten, um die Pensionen für die Zukunft zu sichern. Aber ich finde, dass es da vorher eine Kindersicherungskommission braucht! Denn wer wird in Zukunft arbeiten gehen, Steuern zahlen und damit die Pensionen?

Was sind also Ihre konkreten Forderungen – was muss getan werden?

Da gibt es viel. Einerseits sollen wir neue Primärversorgunszentren für Kinder gründen, bei denen mehrere KinderärztInnen zusammenarbeiten, wo es auch andere ExpertInnen wie zum Beispiel LogopädInnen gibt. Als öffentliche Einrichtungen, wohlgemerkt. Andererseits muss die Ärztekammer handeln, die Ausbildung reformieren und dafür sorgen, dass wieder mehr Studierende in die Kinderheilkunde gehen wollen. Dafür gibt es Lehrpraxen. Auch ich habe ausgebildet, das hat mir Spaß gemacht. Doch dann wurde das nicht mehr finanziert. Ich hätte diese JungärztInnen selbst bezahlen sollen. Nach Kollektivvertrag hätte ich 2.400 Euro bezahlen müssen, mein Steuerberater hat mir gesagt, dass ich mir das nicht leisten kann, ich habe ja selbst nur 3.000 Euro verdient! So musste ich das leider sein lassen. Das hat sich inzwischen verändert. Andere Kinderärzte haben diese jungen KollegInnen vollwertig arbeiten lassen, konnten so mehr Scheine lösen und haben dann auch mehr verdient – aber das fand ich für mich nicht praktikabel. So viel Verantwortung für die Auszubildenden konnte und wollte ich nicht übernehmen. Und die meisten Eltern erwarten für ihre Kinder persönliche, nicht laufend wechselnde Ansprechpersonen.

Sie gehen ja jetzt in Pension und ihnen könnten diese Zustände eigentlich egal sein. Warum engagieren Sie sich so?

Wie gesagt, ich war immer begeistert von meinem Beruf. Und ich habe eine Vision. Es gab und gibt weit mehr als hundert Initiativen, die seit Jahrzehnten all diese Probleme aufzeigen, konkrete Vorschläge erarbeitet haben und sich stets bemühen, dass diese von Verantwortungsträgern aufgegriffen werden. Im Juni wird es etwa eine Enquete oder – wieder eine Vision – einen „Gesundheitstag“ für Kindergarten- beziehungsweise Schulkinder geben. Doch die meisten dieser Bemühungen verlaufen im Sand. Viele äußerst engagierte Fachleute sind frustriert. Ich bin eine, die nicht aufgibt. Zum Beispiel möchte ich gerne eine große Veranstaltung organisieren, wo sich all diese Initiativen, Vereine und Experten mit Eltern und Kindern direkt und unmittelbar begegnen, also vernetzen – wie auf einem Jahrmarkt, einem „Indoor-Market“. Dann vielleicht sogar zum Bundeskanzleramt oder zum Bundespräsidenten aufbrechen, um diese Anliegen medienwirksam und direkt an höchster Stelle zu deponieren. Irgendwann muss die Bevölkerung ja aufwachen. Immerhin gibt es in Österreich über 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die alle auch Eltern und betreuende Fachleute haben. Es betrifft also einige Millionen Menschen. Irgendwann werden sie diese Missstände nicht mehr hinnehmen – und ich warte auf diesen Moment, dieses allgemeine Aha-Erlebnis! Ich glaube an eine Zeit, in der wieder viel Raum für Kinder und deren zauberhafte Qualitäten sein wird.

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