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Ungleichheit
Klimakrise

Fluchtursachen: Warum die reichen Länder die Verantwortung tragen

Anstatt Fluchtursachen zu bekämpfen, gibt Europa Milliarden dafür aus, sich vor Geflüchteten abzuschotten. Das Resultat: Zehntausende Tote. Dabei sind wir zu einem großen Teil verantwortlich dafür, dass Menschen aus ärmeren Ländern wegen Armut, Krieg und Klimakatastrophe flüchten müssen.

Es ist schwer zu ertragen: Die Bilder von überfüllten, kenternden Schlauchbooten, vom Überlebenskampf Hunderter Menschen auf hoher See im Mittelmeer, die Bilder von reglosen Kindern an Europas Stränden. Mehr als 22.000 Menschen ertranken seit 2014 im Mittelmeer. Allein im vergangenen Jahr wurden fast 10.000 Geflüchtete illegal an der türkisch-griechischen Grenze zurückgedrängt.

Auf der anderen Seite: Ebenfalls seit 2014 steckte die EU 2,36 Milliarden Euro in ihre Grenzagentur Frontex und gab 3,8 Milliarden Euro für Grenzabschottung aus. Für fast eine Milliarde Euro wurden Grenzmauern und -zäune gebaut, fast 700 Millionen Euro kosteten Einsätze auf der See.

Abschottung: Europas Grenze “eine der tödlichsten der Welt”

Das viele Geld, das Europa in die Grenzabschottung steckte und im Glauben daran ausgab, damit Migrationsbewegungen zu stoppen, habe nichts bewirkt – aber Folgen: „Die europäische Grenze ist heute eine der tödlichsten der Welt“, heißt es in einer jetzt veröffentlichten Studie der Arbeiterkammer zu Fluchtursachen und Europas Verantwortung dabei.

Unter dem Titel „Das Recht, nicht gehen zu müssen“ fordert die Studie, die Ursachen für Flucht zu bekämpfen. Der sogenannte Globale Norden sei zu einem großen Teil verantwortlich dafür, dass Menschen im sogenannten Globalen Süden wegen fehlender Lebensperspektiven und Armut und vor Gewalt, Terror und Krieg flüchten müssen.

Klimakatastrophe: Verantwortet vom Norden, Fluchtursache im Süden

Denn, so die Studie: Die Klimakatastrophe wirkt sich in ärmeren Ländern besonders stark aus. Verantwortlich dafür sind aber vor allem die reichen Länder. So erzeugt das reichste Prozent der Weltbevölkerung mit seinem Wirtschafts- und Lebensstil doppelt so viele klimaschädliche Gase wie die ganze ärmere Hälfte.
 

Die reichen Länder zerstörten wichtige Ökosysteme: Die EU sei der weltweit zweitgrößte Zerstörer von Tropenwald. Konzerne aus Industriestaaten verbrennen Land für Palmölplantagen. Der Raubbau des Globalen Nordens im Süden erinnere noch heute an koloniale Ausbeutung.

Tausende Geflüchtete aus einem der reichsten Länder Afrikas

Beispiel Nigeria, eine der reichsten Volkswirtschaften Afrikas: Das Land ist verantwortlich für 78 Prozent der Wirtschaftsleistung Westafrikas. Dennoch lebt der Großteil seiner Bevölkerung in bitterer Armut, die Hälfte von ihnen muss von weniger als umgerechnet 1,60 Euro am Tag leben.

Viele flüchten innerhalb des Landes, in Nachbarländer und einige nach Europa: 2017 waren Nigerianerinnen und Nigerianer mit 18.200 die größte Gruppe, die über das Mittelmeer nach Europa flüchtete.

Vom Reichtum profitieren Konzerne und die Elite

“Warum ist das so?”, fragt die Studie. Vom Ölreichtum des Landes kommt kaum etwas in der Bevölkerung an – abgesehen von den schlechten, gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und den ökologischen Katastrophen. Den Menschen wird Land weggenommen, damit europäische Unternehmen dort Öl fördern. Nur die Eliten des Landes profitieren. „Eliten, die sich oft nur durch Unterstützung aus dem Globalen Norden an der Macht halten können“, sagt Olaf Bernau von der Organisation Afrique-Europe-Interact.

Unfaire globale Handelsverträge verhinderten, dass Nigeria eigene Betriebe aufbaut. Absurd: „So muss Nigeria sogar den Großteil seines Benzins aus Europa importieren“, so die Studie.
 

„Wir fanden Öl und wurden zu abhängig davon“, klagte 2013 Akinwumi Adesina, Nigerias Landwirtschaftsminister. Andere Sektoren seien vernachlässigt worden: Das Land gebe inzwischen Milliarden dafür aus, Grundnahrungsmittel wie Weizen, Reis, Zucker, und Fisch zu importieren.

Wie EU-Agrarsubventionen Fluchtursachen verstärken

Mit den Preisen der hoch subventionierten Produkte der EU-Landwirtschaft könnten lokale Betriebe nicht mithalten. Das Ganze in einem Land, in dem 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten.

Die Bevölkerung Nigerias leidet unter der Gewalt der Terrorgruppe Boko Haram. Untersuchungen der Vereinten Nationen zeigten: Junge Menschen schlössen weniger aus religiösen Motiven Boko Haram an, sondern wegen Armut, Arbeitslosigkeit und fehlenden Lebensperspektiven. Die Terror-Organisation verspreche ihnen dagegen Arbeit und Auskommen.

Gewalt und Kriege als Folge der Klimakatastrophe

Nicht zuletzt die Klimakatastrophe verschärfe die Situation dramatisch, etwa durch Extremwetter-Ereignisse: Dürren machen Landwirtschaft unmöglich, während Überschwemmungen Ernten vernichten. Weil der Meeresspiegel steigt, werden Küstengebiete überschwemmt, Böden geschädigt.

Die Folge: Menschen in den betroffenen Gebieten müssen flüchten. Wo sie hinkommen, geraten sie in Konflikt mit den dort Lebenden. „Das wird dann manchmal als religiöser Konflikt verschiedener Volksgruppen beschrieben. Dabei entsteht diese Gewalt wegen des Klimawandels. Es sind Klima-Kriege“, sagt Umweltschützer Nnimmo Bassey in der Studie.

Konzerne und Regierungen verteidigen Wirtschaftssystem zu Lasten vieler

Kleinste Alltagshandlungen, etwa der tägliche Kaffee zum Mitnehmen, hätten heute globale Auswirkungen. Unter welchen Bedingungen werden die Bohnen gepflückt? Wie viel CO2 entsteht dabei, den Becher zu produzieren? Wurden Kinder zur Arbeit gezwungen, um den Zucker für den Kaffee herzustellen? Oft scheine es „unmöglich, das Richtige zu tun“, so die Studie.

Sie betont aber: „Die Schuld dafür bei den Einzelnen zu suchen, hilft nicht weiter.“ Denn es seien Regierungen und Konzerne, „die ein solches Wirtschaftssystem zu Lasten vieler Menschen auf der Welt aufrechterhalten“. Die Autorinnen und Autoren bezeichnen das als „imperiale Lebens- und Produktionsweise“.

Globale soziale Rechte: So können wir Fluchtursachen bekämpfen

Das zu ändern hieße: „Reiche Staaten müssen sich ändern.“ Die Arbeiterkammer listet zahlreiche Hebel auf, für die wir eintreten können, um Fluchtursachen zu bekämpfen. So gelte es, „für ein Recht, nicht gehen zu müssen, zu streiten: Es braucht globale soziale Rechte, die menschenwürdige und gute Lebensbedingungen für alle und überall garantieren.“

Es dürfe keine ungerechten Handelsabkommen mehr geben, „die die Staaten von den reichen Industrienationen abhängig machen“. Auch mit Waffen aus Europa würden zahlreiche Konflikte angeheizt. „Deswegen ist ein konsequentes Verbot – zumindest des Exports von Rüstungsgütern – erforderlich.“

Lieferkettengesetze für Menschenrechte und gute Arbeitsbedingungen

 

Wirksame Klimapolitik sei „zu einer Frage des Überlebens geworden“. Klimabewegung und die Gewerkschaften sollten gemeinsam für einen sozial gerechten und ökologischen Wandel kämpfen. Um Menschenrechte, gute Arbeitsbedingungen und Umweltschutz global zu ermöglichen, sollte es Lieferkettengesetze geben. „Unternehmen dürfen sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen und müssen haften, wenn Mensch und Natur durch ihre Aktivitäten Schaden nehmen,“ fordern die Autorinnen und Autoren der Studie.

Ein kleiner Teil der Menschen könne derzeit auf Wohlstand und Ressourcen zugreifen – auf Kosten der ganzen Welt. Doch das „kann überwunden werden“. Fluchtursachen seien „eng miteinander verwoben. Und fast immer hängen sie mit der zunehmenden globalen Ungleichheit von Reich und Arm zusammen“, heißt es in der Studie.
 

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