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Ungleichheit

Wohnungslose Frauen und Mütter sind oft nicht sichtbar: “Hilfe wird meist männlich gedacht”

Wohnungslose Frauen und Mütter sind oft nicht sichtbar: “Hilfe wird meist männlich gedacht”
Im Mutter-Kind-Haus Luise leben aktuell 15 Mütter mit 19 Kindern - vom Neugeborenen bis zu Teenagern. Foto: Symbolfoto Pixabay
Wer an Wohnungslosigkeit denkt, hat meist das Bild von einem betroffenen Mann im Kopf. Frauen - insbesondere Mütter mit Kindern - die auf der Straße stehen gibt es auch, aber sie sind oft unsichtbar. Das führt auch dazu, dass Angebote für sie fehlen. Im Haus Luise finden diese Frauen und ihre Kinder seit knapp 15 Jahren ein Dach über dem Kopf.

“Ich seh’s eigentlich wie eine normale eigene Wohnung, mit Nachbarinnen und Privatsphäre”, sagt Emel. Sie lebt mit ihrer fünfjährigen Tochter seit letztem Sommer im Haus Luise. In der Einrichtung der Caritas können Frauen mit Kindern unterkommen, wenn sie wohnungslos sind.

Das kann schnell gehen. Emel ist 35. Bevor sie ins Haus Luise zog, verkaufte sie Versicherungen und verdiente gut. Dann wurde ihre Mutter krank und Emel pflegte sie Vollzeit. Nach dem Tod der Mutter konnte sie die gemeinsame Wohnung nicht übernehmen, weil sie darin nie gemeldet war. Die Hausverwaltung wollte sich auch gerichtlich nicht einigen. Übergangsweise sollte es zu einem Familienmitglied gehen. Doch im Umzugschaos läuft ihre Tochter unbeaufsichtigt auf die Straße. “Plötzlich stand dann die Polizei vor der Tür”, erinnert sich Emel. Was folgt? Eine Anzeige wegen verletzter Aufsichtspflicht. Weil nicht direkt klar ist, wie es mit den Wohnverhältnissen der beiden weitergeht, wird das Jugendamt eingeschaltet. 

Emel denkt nicht gern an die Zeit. “Fünf Wochen war die Kleine dann im Krisenzentrum, das war wahnsinnig hart für mich. Und meine erste Reaktion war natürlich: Ich bin doch eine gute Mutter, warum nehmen sie mir mein Kind weg?”. Es hat eine Zeit gedauert, aber dann habe sie eingesehen, dass die Sozialarbeiter:innen nicht gegen sie arbeiten, sondern unterstützen wollen. Im August zieht sie in die Mutter-Kind-Einrichtung der Caritas. Nur wenige Straßen, von ihrer alten Wohnung entfernt.

Verdeckte Wohnungslosigkeit 

In Österreich sind offiziell rund 20.000 Menschen wohnungslos, 60 Prozent davon leben laut der Caritas in Wien. Bei dieser Zählung werden alle berücksichtigt, die im Laufe des Jahres mindestens einmal in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe gemeldet waren. Die wahre Zahl der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen wird aber doppelt so hoch geschätzt. Unsichtbar bleiben dabei vor allem Frauen. Sie leben viel öfter als Männer in verdeckter Wohnungslosigkeit. 

Der Grund? Frauen gehen anders mit ihrer Situation um als betroffene Männer. Sie zögern es meist lange hinaus, sich offizielle Hilfe zu holen. Das hat mehrere Gründe, liegt aber auch daran, dass niederschwellige Angebote der Wohnungslosenhilfe hauptsächlich auf die Bedürfnisse von Männern ausgerichtet sind. Fehlen etwa getrennte Schlafsäle, ist das oft keine Situation, die sich für Frauen sicher anfühlt. 

Ein sicherer Ort zum Wohnen 

Im Mutter-Kind-Haus Luise ist das anders. Aktuell leben dort 15 Mütter mit 19 Kindern – vom Neugeborenen bis zu Teenagern. Das unscheinbare, sandfarbene Haus im 15. Bezirk hat rund um die Uhr geöffnet und bietet einen fixen Wohnplatz für Frauen, die aktuell keine eigene Wohnung haben. Es ist immer voll belegt. Je nach Notlage können wohnungslose Frauen zwischen acht Wochen und zwei Jahren unterkommen. 

Das soll zuerst einmal eine Verschnaufpause ermöglichen. Sozialarbeiter:innen und ein Betreuungsteam geben den Bewohnerinnen die Möglichkeit, Ruhe zu finden und das weitere Vorgehen zu ordnen. Im Keller des Altbauhauses gibt es einen Spielraum für die Kinder, am großen Tisch im Dachgeschossraum wird oft zusammen gegessen. Pädagog:innen finden in Einzelgesprächen heraus, was die nächsten gemeinsamen Schritte sind. Daneben sollen Kochkurse, ein Chor oder Bastelabende die Frauen aus ihrer Einsamkeit holen. 

“Gerade in der Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind Frauen besonders verletzbar”, sagt Claudia Ferner-Unger. Sie ist seit 20 Jahren bei der Caritas und hat das Haus Luise mit aufgebaut, heute ist sie Leiterin der Einrichtung. Es ist die einzige Mutter-Kind-Einrichtung in Wien, die einen 24-Stunden-Dienst hat. Zu jeder Tages- und Nachtzeit ist eine Fachkraft vor Ort, die weiß, wie man mit traumatisierten Frauen umgeht. Das sei wichtig, denn viele Frauen würden sich erst spät an Hilfsangebote wenden. Ferner-Unger weiß: “Bevor die Frauen vor unserer Tür stehen, ist schon viel passiert, unsere Einrichtung muss darauf reagieren können.”

Strukturelle weibliche Benachteiligung 

Laut Markus Hollendohner, Leiter der Wiener Wohnungslosenhilfe, sind die Ursachen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit bei Frauen ebenso vielfältig wie bei Männern. Es zeigt sich aber, dass gerade wohnungs- oder obdachlose Frauen spezielle Angebote brauchen. Bei verdeckter Wohnungslosigkeit sind es vor allem die strukturellen, spezifisch weiblichen Armutsrisiken: Weniger Lohn, Unterbrechung der Erwerbsarbeit und unbezahlte Haus- und Familienarbeit. “Die Lebenshaltungskosten steigen ständig, für Alleinerziehende ist die Erwerbsarbeit dann nicht mehr mit Kinderbetreuungszeiten zu vereinbaren”, sagt Hollendohner. Aber auch Gewalterfahrungen im Zusammenleben mit Männern führen sehr häufig dazu, dass Frauen wohnungslos werden. 

Gleichzeitig versuchen Frauen öfter als Männer, ihre Notlage zu verbergen, um die soziale Anerkennung nicht ganz zu verlieren. Das stellte eine Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fest. „Viele Frauen gehen davon aus, dass ihre Armut und ein Verlust der Wohnung als persönliches Versagen und Schande gilt”, erklärt Ferner-Unger im Gespräch. Wenn Frauen einen vermeintlichen Fehler machen, würden sie gesellschaftlich immer härter bestraft werden als Männer. 

Das führe dazu, dass Frauen nach einem Wohnungsverlust häufig in unsicheren Verhältnissen leben. Sie kommen bei Freund:innen, bei Verwandten oder männlichen Zufallsbekanntschaften unter. Eine Zweckpartnerschaft mit Männern würde oft den Anschein der Normalität wahren. In vielen Fällen erwarten Männer dafür aber Gegenleistungen. Das führt zu neuen Abhängigkeiten und bringt oft Schwierigkeiten und Gewalt mit sich. Diese nehmen viele in Kauf, um so lange wie möglich nicht aufzufallen und ohne institutionelle Hilfe auszukommen. Mütter haben die große Sorge, dass ihnen ihre Kinder abgenommen werden. “Das begleitet alle unsere Bewohnerinnen”, sagt Claudia Ferner-Unger. 

Wen die Wiener Wohnungslosenhilfe auffängt 

Wird der Partner gewalttätig, muss es oft sehr schnell gehen. Raus aus der Wohnung, aber wohin dann? Das System der Wiener Wohnungslosenhilfe hat verschiedene Anlaufstellen: Tageszentren, Notschlafstellen und Chancenhäuser sollen betroffene Frauen auffangen. Vermittelt wird man durch Beratungsstellen der Stadt, die Notquartiere der Einrichtungen stehen zu jeder Uhrzeit offen.

Die Grundidee in der Wohnungslosenhilfe war lange ein Stufenmodell, sagt Markus Hollendohner. Personen sollten schrittweise unterstützt werden, um schließlich (wieder) ein eigenständiges Mietverhältnis eingehen zu können. Die Theorie hat sich als nicht mehr zeitgemäß erwiesen. Mittlerweile wird vor allem auf das Housing First Konzept gesetzt. Hier wird Betroffenen zuerst in eine eigene Wohnung verholfen, alle anderen Probleme werden dann in Angriff genommen. Dabei zeigt sich: Das Konzept spricht Frauen in verdeckter Wohnungslosigkeit besser an. In Notquartieren liegt der Frauenanteil nur bei 20 Prozent, bei Housing First-Angeboten sind es knapp 50 Prozent. 

Dennoch: Im Haus Luise braucht es oft Betreuung ab der ersten Minute, weiß Leiterin Ferner-Unger. “Manche Frauen kommen überhastet zu uns und haben weder ihre Unterlagen dabei, noch das Lieblingsspielzeug der Kinder”. Da sei die Aufregung erst einmal groß. “Da geht es dann darum, zu beruhigen, einen sicheren Schlafplatz zu geben und sozialarbeiterisch zu schauen, was braucht es jetzt.” 

Alltag im Haus Luise

Emel ist froh über die Unterstützung, die sie im Mutter-Kind-Wohnen bekommt. “Die Kleine und ich sind jetzt beide in Therapie”. Das sei gut so, denn “im letzten Jahr sind einfach Dinge passiert, die nicht der Norm entsprechen”, sagt die Alleinerziehende. Seit kurzem hat sie einen neuen Teilzeitjob. Ihre Arbeitszeiten lassen sich mit denen des Kindergartens vereinbaren. “In meinen Alltag kommt wieder eine Routine.” 

So sehr sich das Team im Mutter-Kind-Haus bemüht, es sind immer noch fast 40 Menschen, die sich auf eher engem Raum ein Leben teilen. “Wie in allen sozialen Gefügen gibt es auch bei uns Streit und Konflikte”, sagt Leiterin Ferner-Unger. Um das abzufedern, fährt das Team mit den Frauen und Kindern auf Urlaub – zum Beispiel an einen See. Für die meisten ist es der erste Urlaub in ihrem Leben. “Wenn wir weitab vom Alltagsgeschehen sind, lernen sich die Mütter oft nochmal auf einer anderen Ebene kennen, dadurch entstehen Freundschaften”. 

Anders als in den meisten Mutter-Kind-Häusern in Wien arbeiten im Haus Luise auch Männer. Ferner-Unger erklärt es so. “Wir glauben, es ist wichtig, auch männliche Bezugspersonen im unmittelbaren Umfeld der Frauen und Kinder zu haben.” Viele Bewohnerinnen würden aus Verhältnissen kommen, in denen Beziehungen mit Männern nie auf Augenhöhe geführt wurden. “Wir wollen ihnen und vor allem auch den Kindern dadurch vermitteln, dass es auch ein positives Männerbild geben kann, viele haben das nie kennengelernt.”

Hilfe für alle, die sie brauchen? 

Die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe werden gefördert durch den Fonds Soziales Wien. Einrichtungen wie das Haus Luise stehen aber nur “anspruchsberechtigten Personen” offen. Das heißt Menschen, die bestimmte Förderkriterien erfüllen. Das sind unter anderem: Einkommen in Höhe einer Mindestsicherung, die österreichische Staatsbürger:innenschaft oder eine Gleichstellung dazu und einen Lebensmittelpunkt in Wien. 

Das Problem dabei: In Notsituationen sind diese Ansprüche oft nicht direkt klar. “Es braucht schon einiges an Unterstützung, dass man alle Unterlagen zusammen hat”, sagt Ferner-Unger. Wenn sich herausstellt, dass eine betroffene Person nicht anspruchsberechtigt ist, müssen andere Lösungen gefunden werden. “Das Haus Frida zum Beispiel nimmt Frauen auf, die (noch) keinen Anspruch haben”. 

Dennoch: Plätze gibt es nirgends genug. Claudia Ferner-Unger runzelt bei dem Thema die Stirn. “Wir bekommen jährlich konstant um die 250 Anfragen von Müttern mit ihren Kindern für einen Notplatz.” Viel mehr als wir aufnehmen können. Markus Hollendohner weiß um die begrenzten Plätze. Die gestiegene Nachfrage ist aber gewissermaßen erfreulich: “Auf den ersten Blick klingt es schlecht, dass es in den Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe mehr wohnungslose Frauen gibt, als noch vor ein paar Jahren”. Konkret heiße das aber: “Wir sprechen betroffene Frauen erfolgreich mit unseren Angeboten an und holen sie so aus der verdeckten Wohnungslosigkeit.”

Wohnen ist ein Menschenrecht

Erfahrungen und einzelne Angebote zeigen: Sobald es ein Angebot besonders für Frauen gibt, wird es auch von Betroffenen in Anspruch genommen. “Wir informieren in unseren Einrichtungen sowie online über die verschiedenen Hilfsangebote”, sagt Claudia Ferner-Unger über das Haus Luise. Viel werde auch durch Bekannte und Freundinnen weitergegeben. “Es hilft sehr, dass wir eng mit den anderen Wiener Frauenhäusern vernetzt sind”. Das oberste gemeinsame Ziel: Wohnungslosigkeit soll nur ein vorübergehender Zustand bleiben.

“Unsere Frauen hören oft, was sie schlecht machen, wo sie versagt haben. Als Mutter, als Frau, als Partnerin, als Tochter. Wir wollen ihnen ein neues Selbstbewusstsein mitgeben und zeigen: Sie sind nicht selbst schuld. Niemand entscheidet sich freiwillig dafür, arm zu sein oder auf der Straße zu stehen”, sagt Ferner-Unger. 

Emel will bis zum Sommer so viel angespart haben, dass sie wieder in eine eigene Wohnung ziehen kann. Bis dahin ist sie froh, “noch nicht alleine dazustehen”. Auch in Bezug auf das Jugendamt. “Lieber soll alles fix abgeklärt sein, als dass die mich dann wieder an der Tür überraschen”. Im Haus Luise könnte sie noch ein weiteres Jahr bleiben, aber das ist ihr zu lang. Im Oktober wird ihre Tochter sechs Jahre alt. Ein Neustart für beide wäre quasi das Geburtstagsgeschenk.

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