Bleib immer bequem auf dem Laufenden mit unseren gratis E-Mail-Newslettern!
Jetzt anmelden
Es ist ein schwüler Dienstagmorgen im Juli, als Thomas Bauer die Räume der Haftentlassenenhilfe zum vorerst letzten Mal betritt. Bauer ist 55, trägt ein graues T-Shirt, kurze Hose und Plastikschlapfen. Seit er vor einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er jeden Monat hier, in diesem Wartezimmer, das mit dem Gummiboden und den weißen Wänden an eine Arztpraxis erinnert. Er wartet einige Minuten, dann kommt eine junge Frau den Gang entlang und begrüßt Bauer freundlich. „Heute sehen wir uns das letzte Mal“, sagt er mit ruhiger Stimme, die nicht erahnen lässt, ob er sich freut oder traurig ist. Ab heute ist Bauer, der in Wirklichkeit anders heißt, wieder ganz auf sich allein gestellt.
Um die 9.000 Menschen kommen dem Sicherheitsbericht des Justizministeriums zufolge jährlich aus österreichischen Gefängnissen frei. Viele werden schon vor dem regulären Ende ihrer Haftstrafe entlassen und zu Bewährungshilfe verpflichtet. Knapp 40 Prozent der rechtskräftig verurteilten Gefangenen, sitzen ihre gesamte Haftstrafe ab und werden dafür ohne weitere Verpflichtungen entlassen. Für viele bedeutet das aber auch, von einem Tag auf den anderen alleine dazustehen, ohne Wohnung, Job oder soziales Umfeld.
Um den harten Aufprall abzufedern, bietet der Verein NEUSTART, der auch die Bewährungshilfe organisiert, die freiwillige Haftentlassenenhilfe an. Das Programm unterstützt Menschen nach ihrer Entlassung unter anderem bei der Suche nach einem Wohnort und einer Anstellung. Regelmäßige Gespräche mit Sozialarbeiter:innen sollen den Betroffenen außerdem helfen, nicht erneut straffällig zu werden. 3.400 Personen nutzten das Angebot allein im vergangenen Jahr.
Dass es nicht immer leicht ist, aus der Kriminalität auszusteigen, zeigt die Geschichte von Thomas Bauer. Eigentlich sei sein Leben vor der ersten Haft in Ordnung gewesen, sagt der 55-jährige. Abgesehen von den finanziellen Problemen eben. Am Ende des Monats habe ihm oft das Geld gefehlt, deshalb sei er in den Supermarkt gegangen und habe gestohlen, was er zum Leben brauchte. „Die scheiß Geldnot treibt dich in den Wahnsinn“, sagt Bauer.
Immer wieder wurde Bauer danach für Diebstähle verurteilt. Wie oft er insgesamt im Gefängnis saß, weiß er spontan selbst nicht mehr genau: „Ich glaube, sieben oder acht Mal.“ 109 Monate, also rund neun Jahre, seien es jedenfalls gewesen. Zuletzt verbrachte er vier Monate in einer Wiener Justizanstalt.
Sein Fall steht stellvertretend für viele andere. Laut dem aktuellen Sicherheitsbericht des Justizministeriums wird knapp ein Drittel der Haftentlassenen innerhalb von fünf Jahren erneut verurteilt. Vor allem bei Vermögensdelikten wie Diebstählen und bei Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz begehen Täter:innen häufig immer wieder dieselben Straftaten. Das Ministerium spricht dann von einer “Justiz-Karriere”.
Gründe, wieso Menschen nach abgesessener Haft erneut straffällig werden, gibt es viele, erklärt die Kriminalsoziologin Veronika Hofinger von der Universität Innsbruck: „Die Menschen werden mit der Inhaftierung aus ihren sozialen Bezügen gerissen, verlieren oft den Job, die Wohnung, die Partnerin und haben wenig Kontakt zu ihrer Familie“. Häufig habe das Gefängnis keinen resozialisierenden Effekt. Im Gegenteil: „Wenn man mit anderen schwierigen Menschen auf engstem Raum zusammengesperrt ist, hat das eher negative als positive Auswirkungen“, sagt Hofinger. Nach der Entlassung müssten viele wieder bei null anfangen.
Auch Thomas Bauer hat wenig Gutes über seine Zeit im Gefängnis zu sagen. Fragt man ihn nach der Situation hinter Gittern, beginnt er, der sonst nur kurz angebunden antwortet, plötzlich wild gestikulierend zu erzählen. Von offenem Drogenmissbrauch, Vergewaltigungen, Suiziden und der ständigen physischen und psychischen Gewalt unter den Mitinsassen, die er erlebt habe. „Das sind alles Verrückte dort drüben“, sagt er über eine Justizanstalt, in der er für einige Zeit inhaftiert war. Auch er glaubt nicht an die resozialisierende Wirkung der Haft: „Im Gefängnis wirst du noch ärger.“
Bauers Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Recherchen verschiedener Medien kritisieren allerdings seit Jahren die Situation in österreichischen Gefängnissen. Amnesty International nannte die Bedingungen „mitunter erniedrigend„, das Anti-Folter-Komitee des Europarats bemängelte in einem Bericht insbesondere die gesundheitliche Versorgung der Gefangenen.
Als Grund dafür wird vor allem der gravierende Personalmangel im Justizsystem genannt. Österreichweit blieben im vergangenen Jahr rund 250 Stellen im Justizvollzug unbesetzt. Gleichzeitig kommen die Gefängnisse immer öfter an ihre Kapazitätsgrenzen. 23 der 28 österreichischen Justizanstalten hatten 2024 zumindest zeitweise mit Überbelegung zu kämpfen. In zehn davon saßen sogar ganzjährig mehr Personen ein als vorgesehen.
Über den Tag seiner Entlassung sagt Bauer: „Das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“. Schon am Tag zuvor sei er jedes Mal unruhig: „Du hast schon alles zusammengepackt, den Kollegen alles gegeben, was du nicht mehr brauchst.“ Dann geht es endlich nach draußen. Schön sei das allerdings nur, wenn da jemand sei, der auf einen warte, sagt Bauer. So wie seine Familie auf ihn. Bauer hat eine Beziehung, Kinder und mittlerweile auch Enkelkinder. Zu seinen Eltern und der Schwester pflegt er ein gutes Verhältnis. Am Tag seiner Entlassung seien sie zusammen einkaufen gefahren, erzählt er lächelnd, abends gab es Schweinsbraten mit Knödel und Kraut.
Die wenigsten Häftlinge werden nach ihrer Entlassung so gut aufgefangen wie Bauer. Auf viele wartet niemand außerhalb der Gefängnismauern. Umso wichtiger sind Anlaufstellen wie die Haftentlassenenhilfe, gerade für jene, die nicht auf Bewährung freikommen und daher auch keine Bewährungshilfe bekommen. Jenen also, die laut den Gerichten die schlechtesten Chancen auf eine erfolgreiche Resozialisierung haben. „Genau für diese Leute wäre an sich auch ein verpflichtendes Unterstützungsangebot sinnvoll“, sagt Spiros Papadopoulos, der die Wiener Zweigstelle von NEUSTART leitet. Bislang werden diese Menschen nach ihrer Entlassung allerdings sich selbst überlassen. Ohne ein unterstützendes Umfeld landen viele von ihnen innerhalb weniger Jahre erneut im Gefängnis.
Das Wichtigste sei, eine Perspektive zu haben, sagt Papadopoulos. Ohne ein Ziel im Blick sei die Resozialisierung nur schwer zu bewältigen. Um sein Ziel dann auch zu erreichen, brauche es ein „Grundnetz“ aus Arbeit, einer stabilen Wohnsituation, einer geordneten Tagesstruktur und einem stabilen sozialen Umfeld.
Entscheidend sei außerdem die Auseinandersetzung mit dem Delikt, sagt Papadopoulos. Die Ex-Häftlinge müssten Verantwortung übernehmen und verstehen, wie es zur Tat kommen konnte. Warum habe ich mich provozieren lassen? Wieso habe ich den Raub begangen? Was bedeutet das eigentlich für das Opfer? Es sind Fragen wie diese, die die Menschen in der Haftentlassenenhilfe mit ihren Sozialarbeiter:innen besprechen. Ziel ist es, einen Handlungsplan für kritische Situationen zu entwickeln, der verhindert, dass die Person erneut straffällig wird. „Das hat mir wirklich viel geholfen“, sagt Thomas Bauer über die Termine mit seiner Sozialarbeiterin, „dass ich nicht wieder Stehlen gehe.“
„Es gibt kein one-size-fits-all Programm zur Resozialisierung“, sagt die Kriminalsoziologin Veronika Hofinger, „für manche ist eine Suchttherapie wichtig, für andere die Bewährungshilfe“. Jeder Mensch brauche individuelle Unterstützung, um nicht wieder straffällig zu werden. Es wäre sinnvoll, diese Betreuung schon während der Haft zu bieten. In den chronisch überlasteten Gefängnissen ist das allerdings kaum möglich.
Mehr Ressourcen für die Justizanstalten könnten die Situation verbessern. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Gefängnis überhaupt der richtige Ort für die Resozialisierung ist. Wenn die wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Resozialisierung ein intaktes soziales Umfeld und gesellschaftliche Teilhabe sind: Ist es dann nicht fast naiv, Täter:innen aus sämtlichen Strukturen zu reißen und auf Besserung zu hoffen?
„Haft ist in vielen Fällen der falsche Weg“, sagt Spiros Papadopoulos vom Verein NEUSTART. Mehr Personal in den Justizanstalten, vor allem für den pädagogischen, sozialarbeiterischen und therapeutischen Bereich, würde allerdings schon Besserung bringen.
„Die Freiheitsstrafe sollte aufgrund der Schäden, die sie anrichtet, wirklich ultima ratio sein“, sagt auch Veronika Hofinger. Insgesamt könne man mit deutlich weniger Haftstrafen auskommen. Das zeigt ein Blick nach Deutschland oder in die Schweiz. Beide Länder verhängen deutlich weniger Freiheitsstrafen pro Kopf als Österreich.
An Alternativen zur Haftstrafe mangelt es nicht. Beim elektronisch überwachten Hausarrest (eüH) beispielsweise findet die Haft in den eigenen vier Wänden statt. Mittels elektronischer Fußfessel wird der Standort der verurteilten Person überwacht. Den Wohnort darf sie nur zu bestimmten Zwecken wie der Arbeit verlassen. Der große Vorteil: die Betroffenen werden nicht aus ihren sozialen Beziehungen gerissen, sondern können ein vergleichsweise normales Leben führen, das den Übergang nach der Haft erleichtert. Bislang wird diese Möglichkeit allerdings kaum genutzt, auch weil der eüH an strenge Voraussetzungen geknüpft ist.
Das österreichische Justizsystem bietet außerdem die Möglichkeit, bestimmte Delikte außergerichtlich zu bearbeiten. Beim Tatausgleich etwa erarbeiten Täter:in und Opfer gemeinsam eine Einigung, die den Konflikt auf persönlicher und materieller Ebene löst. Beide Maßnahmen führen zu niedrigeren Wiederverurteilungsraten als die Haft. Das ist allerdings auch auf die Auswahl der Personen zurückzuführen. Wessen Chancen auf Resozialisierung das Gericht als schlecht einschätzt, dem bleiben diese Türen verschlossen.
Hinter diesen innovativen Formen des Strafvollzugs stecken grundsätzliche Fragen zur Wirkweise unseres Justizsystems. Klar ist: Ein Staat, der sich Gesetze gibt, benötigt Mittel und Wege, für deren Durchsetzung zu sorgen. Aber was wollen wir als Gesellschaft durch die Bestrafung von Gesetzesbrechern konkret erreichen?
Geht es uns um Rache? Oder darum, ein Exempel zu statuieren und für Abschreckung zu sorgen? Denn dazu scheint die Haft nicht das richtige Mittel zu sein. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein hohes Strafmaß alleine nicht zur Abschreckung dient“, sagt Papadopoulos. Menschen würden nicht abwägen, wie hoch die Strafe ist, bevor sie eine Tat begingen. Die österreichische Justiz hat die Rache-Logik auch eigentlich hinter sich gelassen. Bereits in den 70er Jahren verabschiedete man sich unter Justizminister Christian Broda, der viele Reformen anstieß, vom Rachegedanken der Strafjustiz.
Oder geht es uns um Wiedergutmachung und darum, dass sich die Tat nicht wiederholt? Auch diesen Zweck erfüllt die Haft nur schlecht, das zeigen die hohen Wiederverurteilungsraten. Die Haftentlassenenhilfe wirkt hier mehr wie ein Pflaster, das der Herausforderung kaum gerecht werden kann. Ihre Teilnehmer:innen werden nur geringfügig seltener erneut straffällig.
Kaum jemand möchte, dass Vergewaltiger:innen und Mörder:innen frei herumlaufen. Bei kleineren Vergehen könnte der Verzicht auf Freiheitsstrafen jedoch zu besseren Ergebnissen führen und nebenbei das überforderte Haftsystem entlasten. Dadurch würden dort Ressourcen frei, um die Bedingungen für die verbliebenen Insass:innen zu verbessern und diese besser auf ihre Entlassung vorzubereiten, sagt Veronika Hofinger. Denn Haftstrafen sind kein kostengünstiges Unterfangen. 183 Euro kostete ein durchschnittlicher Hafttag 2024. In diesem Jahr veranschlagt der Bund insgesamt 735 Millionen Euro für die Justizanstalten.
Thomas Bauer schaut mit gemischten Gefühlen in seine Zukunft. Am liebsten würde er direkt in Pension gehen, sagt der 55-jährige. Er sei zu 70 Prozent invalide, auf Jobbewerbungen bekomme er nur Absagen. Außerdem müsse er Rückzahlungen für seine Diebstähle und ausstehende Unterhaltszahlungen leisten. Dadurch habe er Schulden im sechsstelligen Bereich angehäuft, die er selbst mit einer Anstellung kaum bewältigen könne. Fürs Erste konzentriert sich Bauer daher auf sein Familienleben. Nach seinem letzten Termin bei NEUSTART schwingt er sich aufs Rad. Der Enkel muss aus dem Kindergarten abgeholt werden.