Junge Wohnungslose in Österreich: Mangelhaft unterstützt und unsichtbar
„Mit 17 Jahren hat mich meine Mutter hinausgeworfen. Ich habe dann bei verschiedenen Freund:innen geschlafen, bis ich irgendwann keine mehr hatte. Manche Nächte habe ich auch auf der Straße verbracht. Speziell das war keine sehr schöne Zeit, ich möchte nicht weiter darüber reden“, erzählt Caro. Wer zufällig neben ihr bei der Bim-Station steht, würde auch nicht im Traum darauf kommen, dass die Mittzwanzigerin keinen eigenen festen Wohnsitz hat, seit sie 17 Jahre alt ist.
„Mit 18 war ich leider nicht sehr intelligent“, erinnert sie sich zurück, wie es so weit kommen konnte, „Da habe ich begonnen, beispielsweise Handyverträge für Freunde zu machen. So konnte ich bei ihnen schlafen, aber ich habe die Schulden am Hals. Ich habe über Jahre Briefe einfach nicht mehr geöffnet, es hat mich alles überfordert. Irgendwann hatte ich wieder Kontakt zu meiner Mutter, sie hat mir das Juca empfohlen.“
Jung und wohnungslos ist keine Seltenheit
Es geht bedauerlicherweise sehr ‚leicht‘, so wie Caro noch vor dem richtigen Start ins Erwachsenenleben große Probleme zu bekommen, die einen Weg mit Ausbildung, Job, Wohnung und Co. erschweren. Sie ist eine von wenigen jungen Erwachsenen, die überhaupt über ihre Wohnungslosigkeit sprechen wollen, aber keinesfalls alleine.
Das Haus Juca bietet einen fixen Wohnplatz für insgesamt 95 Menschen. Sie sind zwischen 18 und 27 Jahre und haben keine eigene Wohnung. Sozialarbeiter:innen und ein Betreuungsteam bieten den Bewohner:innen die Möglichkeit, sich zu stabilisieren, Ruhe zu finden, Skills zu erarbeiten und das Leben zu ordnen. Die jungen Menschen bekommen dort eine Perspektive, um einen Weg zurück in ein Leben zu finden, wie es andere in ihrem Alter führen.
Es gibt laut Statistik Austria (2021) knapp 20.000 Menschen in Österreich, die entweder keine eigene Wohnung haben oder gänzlich auf der Straße nächtigen; also wirklich obdachlos sind. Fast 60 Prozent von ihnen leben in Wien, ein Drittel dieser ist unter 30. Wer sind sie?
Wohnungslosigkeit kann in der Jugend beginnen
„Die Bewohner:innen kommen seltenst aus guten Verhältnissen“, erklärt Maria Theresa Kienzer, seit elf Jahren im Haus, heute Leiterin der Einrichtung. „Bei uns im Haus haben mehr als 80 Prozent einen Kinder- und Jugendhilfe-Background.“ Das heißt, dass sie entweder aus Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe kommen oder vor ihrem 18. Geburtstag Kontakt mit dieser hatten. Betroffene kommen also oft aus in irgendeiner Form schwierigen familiären Verhältnissen. In Wien ist das die Magistratsabteilung 11 (MA11).
„Sobald sie volljährig werden, sagt die Gesellschaft: Ok, du bist erwachsen, geh arbeiten, tu halt was.“
Für die Kids und Jugendlichen, die nicht bei ihrer Familie wohnen können, ist der Staat verantwortlich und hat die Obsorge. Mögliche Gründe dafür sind etwa Gewalt durch Erziehungsberechtigte oder Eltern, die ihren Betreuungspflichten nicht mehr nachkommen können. Als Sozialarbeiterin meint sie: „Bei vielen zeichnet es sich aufgrund der Biografie bereits mit 15, 16 Jahren ab, dass sie mit 18 Jahren noch nicht alleine auf eigenen Füßen stehen können, obwohl das Gesetz sie dann als erwachsen ansieht.“ Dann endet aber die Zuständigkeit der MA11 und der Fonds Soziales Wien, der die Wohnplätze zuteilt, kommt ins Spiel.
Mit 18 plötzlich selbst verantwortlich
„De facto sind auch schon unter 18-Jährige auf der Straße. Doch sobald sie volljährig werden, sagt die Gesellschaft: Ok, du bist erwachsen, geh arbeiten, tu halt was“, ärgert sich Kienzer, „Es fehlt das Verständnis, dass man da noch lange nicht bereit ist, alles alleine zu stemmen.“
Das belegen auch Zahlen. Im Schnitt ziehen junge Österreicher:innen laut Eurostat (2021) mit 23 bis 27 Jahren aus. Kein Wunder, dass da der oder die eine oder andere es nicht schafft, mit 18 ganz allein nicht sofort ein „normales“ Leben zu führen.
„Junge Menschen – und das legt die Gesellschaft ihnen auf – haben schon die Vorstellung, Job, Familie und Eigenheim zu haben“, so Kienzer, „Das kann sich mit ihrem Ausbildungsstand, dem Einkommen und den Rahmenbedingungen nicht für alle ausgehen. Und wohnungslose Jugendliche sieht man kaum, weil sie sich schämen und ihre Situation oft verstecken. Sie wollen nicht, dass es die Familie erfährt oder wollen es auch selber nicht wahrhaben.“
Die Hilfe im Juca
Aus all diesen Gründen braucht es stationäre Betreuungsangebote wie das Juca – ein ganz normales Haus in einer Wohngegend in Wien-Hernals. Da fällt man als junge wohnungslose Person eben nicht weiter auf und kann sich den Herausforderungen ohne Beschämung stellen.
Immerhin: Die Stadt Wien hat das Problem mit der neuen 2022 aufgelegten Wiener Wohnungslosenhilfe Strategie 2022 grundsätzlich erkannt, in der Wohnungslosenhilfe hat sich viel verändert. Man verfolgt den Grundsatz „Housing First“, also zuerst dauerhaft ein Dach über den Kopf bekommen; wenn es eben ein größeres Haus sein muss, setzt man auf möglichst viel Privatsphäre.
„Es ist ein Realismus in der Wohnungslosenhilfe eingezogen.“
Früher, als Kienzer angefangen hatte, war das Leben in Einrichtungen auch noch anders. Damals war das Hauptziel, die jungen Erwachsenen möglichst in eine Ausbildung zu bringen. Vieles hat sich geändert. Und während quasi ‚alle‘ anderen jungen Menschen sich in allen verschiedenen Lebensbereichen ausprobieren, gab es im Juca etwa keine Möglichkeit, im Haus ein Bier zu trinken, mit 18 die 17-jährige Freundin als Besuch zu empfangen oder Haustiere zu haben.
Was eine eigene Wohnung für junge Menschen bedeutet
„Der Anspruch ist schon, dass sie schnellstmöglich eine eigene Wohnung haben“, stellt die Leiterin klar. Manche würden das trotz mehrmaliger Versuche nicht schaffen, aber es brauche eine realistische Perspektive. Das heißt bei vielen, einfach einmal zur Ruhe zu kommen, Stabilität zu finden, mit wenig Geld zu überleben.
„Wir wollen einen Rucksack mit Möglichkeiten füllen. Es ist ein Realismus in der Wohnungslosenhilfe eingezogen”,sagt Kiezner. Es müsse ja individuell für die Betroffenen funktionieren. “Es trägt viel zu Stabilität von obdach- und wohnungslosen Menschen bei, wenn das Haustier mitkommt, man Besuch empfangen kann – wenn man Dinge tun kann, die man in der eigenen Wohnung auch tun würde.” Das betrifft etwa auch den gemäßigten Umgang mit Alkohol. “Wenn ich bei mir zu Hause in Bier trinke, wird sich daran niemand stoßen, solange ich niemanden störe. Das ist ein wichtiger Lernprozess für die Jugendlichen.“
So sehr sich das Team im Juca bemüht, es sind noch immer fast hundert Menschen, die sich auf eher engem Raum ein Leben teilen. Keine leichte Aufgabe.
Hinaus schaffen
Denn Menschen unter 25 Jahren bekommen gerade einmal 790 Euro Mindestsicherung. Davon Miete, Energiekosten, Telekommunikation, Lebensmittel und nicht selten eben auch Schulden abzuzahlen, erscheint fast unmöglich – sogar mit den rund 1.000 Euro, die die Älteren bekommen.
Die Möglichkeiten zu arbeiten, sind ohne Ausbildung aber gering. Vor allem deshalb, weil viele einen 40-Stunden-Job in ihrer Situation schlicht und einfach nicht über einen längeren Zeitraum schaffen würden.
Es gibt in ganz Österreich spannende Best-Practice-Beispiele. Aber die Mühlen arbeiten langsam, die Strukturen sind nicht einfach zu vereinheitlichen. Zuständig sind nämlich die Bundesländer. Sprich: Neun Länder, neun verschiedene rechtliche Rahmenbedingungen. Bis es wirklich eine gute Lösung für diesen Übergang von der staatlichen Obsorge in die „Freiheit“ mit 18 Jahren gibt, dauert es noch. Leider zu lange für Caro.
Hürden der Bürokratie
„Als ich hergekommen bin, war ich sehr schüchtern. Auch jetzt mache ich alles in kleinen Schritten, sonst bin ich komplett überfordert“, erzählt sie, „wir machen eine Liste mit dem, was ich abbezahlen kann, aber ich bekomme eben nur das Minimum vom Minimum.“ Das ist exakt das Problem, ein Strudel: Kein guter Start, wenig Geld, Schulden und so weiter. Viele Fehler darf man sich als Jugendliche in einer solchen Situation nicht leisten.
Und da macht es der Föderalismus es Caro auch schwer. Sie hat Anspruch auf eine Gemeindewohnung mit Unterstützung. Irgendwann darf sie die dann übernehmen. Aber ihr Freund, mit dem sie bald wieder durchstarten will, ist noch nicht lange genug in Wien gemeldet. „Wenn das nicht funktioniert, müssen wir schauen, wie wir weitermachen. Wir möchten auf jeden Fall zusammenziehen und unsere Schulden abbezahlen.“
Dank der Hilfe des engagierten Teams im Juca kann sie den Blick nach vorne richten. „Wir wollen nicht, dass es von vorne losgeht. Ich bin seit zwei Jahren arbeitslos und kann ja auch nicht den ganzen Tag herumsitzen“, ihr Blick hellt sich auf, „Ich möchte eine Ausbildung bei der Caritas machen und suche derzeit etwas im Einzelhandel.“