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Demokratie

Du nicht: Wie chronisch kranke Kinder vom Kindergarten ausgeschlossen werden

Kinder können in Österreich aufgrund einer Krankheit oder Behinderung plötzlich den Kindergartenplatz verlieren oder gar nicht erst genommen werden. Das Recht auf einen Platz gibt es nicht. Eine Besuchspflicht ab fünf Jahren aber schon. Wie passt das zusammen?

Die 5-jährige Viktoria* besucht seit ihrem ersten Geburtstag gerne den Kindergarten. Sie liebt ihre Freund:innen und Pädagoginnen und blüht in der Gruppe richtig auf. Im April letzten Jahres bekommt sie die Diagnose Diabetes Typ 1. Zunächst ein Schock und folglich eine große Umstellung für sie und die ganze Familie. 

Auch der Kindergarten muss sich auf die neue Situation einstellen. Wer sorgt dafür, dass sie bei Unterzuckerung einen Traubenzucker isst? Wer hat die Insulinpumpe im Auge und tippt den Wert der Kohlehydrate beim Mittagessen ein? Sechs Pädagoginnen stimmen schriftlich zu und werden von Profis auf die Bedürfnisse des Mädchens eingeschult. 

Dann darf Viktoria den Kindergarten nur mehr halbtags besuchen. Begründung: Es müssen immer zwei Pädagoginnen anwesend sein, die auf Viktorias Situation geschult sind. Geht sich das nicht aus, weil eine Erzieherin krank ist, darf das Mädchen an diesem Tag nicht in den Kindergarten kommen. Viktorias Mutter ist an solchen Tagen verständnisvoll und behält sie zuhause. Das ist nur möglich, weil sie mit ihrem zweiten Kind in Karenz ist. Arbeiten gehen könnte sie mit diesen spontanen Ausfällen nicht. 

Viktoria verliert den Kindergartenplatz

Neun Monate lang klappt das, dann wird die Mutter in den Kindergarten gerufen. Eigentlich wollte sie ihren nahenden Arbeitsantritt dieses Jahres besprechen. Nun sitzen ihr die Chefin des Kindergartens und eine zuständige Regionalleiterin des Magistrats (MA 10) gegenüber, das für die Kindergärten verantwortlich ist. Viktoria verliert ihren Kindergartenplatz. Pünktlich zu ihrem fünften Geburtstag und damit mit Beginn der Kindergartenpflicht. Der Kindergarten beteuert, wie überfordert man mit der Betreuung des chronisch kranken Kinds sei. Man habe sich das einfach anders vorgestellt.

Viktorias Mutter wird vor vollendete Tatsachen gestellt: “Niemand hat davor auch nur ein Wort gesagt. Ich hätte natürlich Nachschulungen organisiert oder wäre ihnen irgendwie entgegengekommen.” Laut den Geschäftsbedingungen der Kleinkindergruppe und Kindergärten der Stadt Wien ist der Rauswurf erlaubt. Wird eine Behinderung bzw. chronische Krankheit erst während des Kindergartenbesuchs festgestellt, kann der Kindergartenvertrag gekündigt werden. 

Auf Anfrage heißt es aus der zuständigen MA 10: “Oberste Priorität hat die sichere Betreuung der uns anvertrauten Kinder. Wenn Mitarbeitende signalisieren, dass sie sich dies aufgrund einer besonderen Situation nicht zutrauen, dann ist dies vonseiten des Arbeitgebers aber auch im Sinne der Kinder ernst zu nehmen. Natürlich wird dann nach einem alternativen Platzangebot für das betroffene Kind gesucht.“

Von der Leitung und den Pädagoginnen, die Viktoria vier Jahre lang betreut haben, hört die Mutter nie wieder ein Wort. Die Regionalleiterin entschuldigt sich, die Gesetzeslage sei aber leider so, wie sie ist. Sie ist dennoch bemüht, Viktoria einen neuen Kindergartenplatz zu besorgen. 

Der Vorschlag: Zuerst in einen neuen Kindergarten, im September in den nächsten und dann in einen anderen Bezirk. In unter einem halben Jahr müsste die 5-Jährige also dreimal den Kindergarten wechseln. Dreimal eingewöhnen, dreimal Personal einschulen, dreimal Vertrauen fassen. Eigentlich niemandem der Beteiligten zumutbar. 

“Wir unterstützen hier die Familien und suchen Standorte, an denen das Personal sich diese medizinische Maßnahme zutraut und dementsprechend übernimmt. Leider kann hier aber nicht immer dem Wunschstandort oder der Wohnortnähe entsprochen werden”, sagt die MA 10. Gerade für Familien und Kinder mit besonderen Bedürfnissen ein zusätzlicher Stressfaktor. Die Familie schreibt dem Wiener Bildungsstadtrat Wiederkehr. Ein paar Tage später bekommt Viktoria einen Kindergartenplatz zugesagt – im Bezirk, wo die Familie auch lebt.

Wie im alten Kindergarten hat das Personal sich dazu bereit erklärt, die medizinische Unterstützung zu leisten. Eingeschult wurden sie von der Mobilen Kinderkrankenpflege auch schon. Trotzdem muss Viktorias Mutter jeden Tag dabei sein, bis “Routine gefasst wurde.” Somit verbringt sie nun jeden Tag vier bis fünf Stunden im neuen Kindergarten, ihr zweites Baby mit dabei. Fast jeden Tag, denn auch in diesem Kindergarten wird sie bei Personalmangel gebeten, Viktoria zuhause zu lassen. 

Wie passen Freiwilligkeit und Pflicht zusammen?

Das Mädchen fragt oft nach dem alten Kindergarten. Sie vermisst ihre Freund:innen und Pädagog:innen. Sie denkt, sie musste gehen, weil zu wenig Personal da war und alle Kinder, die zu Hause bleiben können, das tun. “Ich hab’s nicht übers Herz gebracht. Ich kann ihr nicht sagen: ‘Sie nehmen dich nicht, weil du diese Krankheit hast.’ Sie macht schon genug mit. Ich befürchte aber, sie bekommt mit, was passiert und tut uns zuliebe so, als würde sie nicht begreifen, was los ist”, sagt ihre Mutter mit einem Kloß im Hals.

Kindergärten müssen Kinder also nicht aufnehmen. Wie passt diese Freiwilligkeit aber mit der Kindergartenpflicht zusammen? Das liegt mitunter daran, dass es in Österreich keinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt. In Deutschland gibt es den Anspruch ab drei Jahren – und das schon seit 1996. Bereits 2021 ist im Österreichischen Nationalrat eine Petition für den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung eingegangen. Ein solcher Rechtsanspruch könnte gerade Kindern mit besonderen Bedürfnissen zugutekommen. Doch auch dieser löst keine strukturellen Probleme wie Personalmangel in der Elementar- und Sonderpädagogik. Die Pädagog:innen sind damit eingedeckt, die Kinder unverletzt durch den Tag zu bringen – für mehr Betreuung oder gar Förderung fehlen zunehmend die Ressourcen. 

Aus der MA 10 heißt es zur Petition, die Versorgungsquote bei den 3- bis 5-Jährigen läge in Wien bei rund 102%. Für die 3- bis 5-Jährigen gäbe es also mehr Plätze als Kinder. So sei “für Familien ein gewisser Spielraum bei der Auswahl der elementaren Bildungseinrichtung gewährleistet.”

Wo sollen die Kinder hin?

Für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ist dieser Spielraum aber stark eingeschränkt. “Kinder mit chronischen Erkrankungen brauchen nicht zwingend einen Integrationskindergartenplatz oder einen heilpädagogischen Platz”, sagt die MA 10. Integrationskindergärten würden sich aber zumindest theoretisch eignen. Der Betreuungsschlüssel ist hier geringer, die Gruppen kleiner und die Pädagog:innen auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen eingestellt. Doch auch hier basiert die Betreuung auf Freiwilligkeit. Die Pädagog:innen können gewisse Betreuungsaufgaben und damit Kinder annehmen oder auch ablehnen. “Wo sollen Kinder mit besonderen Bedürfnissen denn sonst hin, wenn nicht einmal da?”, fragt sich Viktorias Mutter. Die Besuchspflicht kann unter bestimmten Umständen wie Erkrankungen oder Beeinträchtigungen ausgesetzt werden. 

In der Schule läuft das anders: Fürs Lehrpersonal gehören ärztliche Tätigkeiten seit 2017 zu den Dienstpflichten. Die Freiwilligkeit der einzelnen Lehrenden bleibt bestehen, aber es gibt ein gesetzliches Recht auf diese Art der Betreuung. Kommen Schüler:innen bei einer ärztlichen Tätigkeit zu Schaden, haftet die Republik Österreich.

Für Elementarpädagog:innen gilt dieses Gesetz nicht. Denn die Gesetzgebung für Schulen liegt beim Bund, für das Kindergartenwesen bei den Ländern. Auf die Frage, wer haftet, wenn ein Kind zu Schaden kommt, sagt die MA 10: “Sowohl die Stadt als Träger so wie auch die Pädagog:in können haftbar gemacht werden.” 

Dass die Kindergartenpädagog:innen persönlich haften, bekommt auch Viktorias Mutter zu hören. So steht auch im Krisenleitfaden für elementare Bildungseinrichtungen, dass Mitarbeiter:innen die Verantwortung “freiwillig und eigenverantwortlich” zu übernehmen haben. Wenn man für das Leben eines Kindes eigenverantwortlich ist, zögert man zusätzliche Verantwortung zu bereits überfordernden Arbeitsbedingungen zu übernehmen. 
So weit, so verständlich. 

Wer haftet denn jetzt für die Kinder?

Nur stimmt das womöglich nicht ganz, sagt Kinderlobbyistin Irene Promussas. “Sie haften nicht selbst. Sie haben eine Berufshaftpflichtversicherung.” Über den Dienstgeber bekommen sie diese laut MA 10 jedenfalls nicht. Uns liegt auch ein Schreiben der Gewerkschaft für Pädagog:innen vor, die explizit davor warnt: Die Wiener Kindergärten haben für ihre Mitarbeiter:innen eine Betriebsversicherung, keine Berufshaftpflichtversicherung. Geht bei einem Spaziergang mit den Kindern eine Vase bei einem Blumenladen kaputt, ist das versichert. Weiteres nicht. Eine Berufshaftpflichtversicherung gibt es laut Schreiben nur für Gewerkschaftsmitglieder. 

Wir wenden uns erneut an die MA10 und fragen, wie es möglich ist, dass die Stadt als Arbeitgeber ihre Pädagog:innen nicht entlastet. Plötzlich heißt es: ”Nach Einschätzung der Stadt Wien–Kindergärten erfolgen die Ausübungen einzelner medizinischer Maßnahmen durch Pädagog:innen im ausschließlichen Interesse der Dienstgeberin und im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit für die Stadt Wien. Somit sind diese de facto als Dienstpflichten zu bewerten und die Mitarbeiter*innen folglich schon durch die Regelungen des Dienstnehmerhaftpflichtgesetzes sowie des Wiener Verzichtsgesetzes hinsichtlich eventueller Schadenersatzforderungen geschützt.”
Wir fragen auch etliche Pädagog:innen, wie sie denn nun versichert sind und ob sie persönlich haften würden: Einige bestätigen uns, dass ihnen der Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung in der Ausbildung sehr nahegelegt wird. Die meisten wissen es aber schlicht nicht. Die Verwirrung ist groß.

Dabei müsste in einem Feld mit so hoher Verantwortung doch glasklar sein: Wer haftet, wenn Kinder zu Schaden kommen? Die Verwirrung rund um die Versicherungsfrage trifft vor allem die Eltern und Kinder, die auf einen Kindergartenplatz angewiesen sind und keinen bekommen oder verlieren.

Inklusion ist das keine

“Inklusion ist die Abbildung der Gesellschaft und das, was hier abläuft, ist kein gutes Zeugnis. Wir wollen für unsere Kinder das gleiche wie für alle anderen Kinder: dass sie ganz normal am Leben teilnehmen können. Und das ist derzeit nicht der Fall”, sagt Irene Promussas von Lobby4 Kids. Sie arbeitet in ihrem Verein seit 20 Jahren mit Familien, deren Kinder keinen Kindergartenplatz bekommen und hilft ihnen, diesen zu beschaffen. Auch sie selbst war aufgrund der chronischen Krankheit ihrer Tochter betroffen und weiß, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Kind “keiner haben will.” 

Am häufigsten betrifft es Kinder mit Diabetes, Autismus oder ADHS. Krankheitsbilder, die keinen Ausschluss aus der Gesellschaft bedeuten müssen. Wie viele Familien es betrifft, ist schwierig zu beziffern. Daten erhebt die MA 10 dazu keine. Promussas selbst betreut derzeit 12-15 Familien im Monat alleine in Wien. “Um Einzelfälle handelt es sich hier sicher nicht. Es ist ein strukturelles Problem und der Personalmangel scheint die Situation zu verschärfen.”

Auch die zuständige MA 10 sagt: “Derzeit kann der Ausbau leider nicht in dem Ausmaß wie vonseiten der Stadt Wien – Kindergärten gewünscht vorangetrieben werden, da das dafür entsprechende Fachpersonal am Arbeitsmarkt nicht ausreichend zur Verfügung steht.” Hier bezieht man sich auf die Sonderpädagogik. Doch auch in der regulären Pädagogik mangelt es an Fachkräften. Auch wenn die Versicherungsfrage geklärt ist: Ärztliche Tätigkeiten lassen sich nur dann sicher durchführen, wenn die Rahmenbedingungen vorhanden sind. 

Ohne Kindergartenplatz geht es nicht

Doch ohne Kindergartenplatz geht es für die meisten Familien nicht. Für Kinder bedeutet das: kein Aufwachsen mit Gleichaltrigen, kein Platz in der ersten Bildungseinrichtung und soziale Ausgrenzung – ein ungewollter Sonderstatus. “Was mit ‘sonder’ beginnt, geht mit ‘sonder’ weiter. Wenn sie nicht andocken können, bleiben sie gefangen und kommen nie woanders hin – weder auf die Regelschule, noch auf den Arbeitsmarkt”, sagt Promussas. Auch die Eltern können nicht ankommen: “Vor allem alleinerziehende Mütter sind sozial isoliert, können nicht arbeiten gehen und landen in der Armutsfalle. Keinen Kindergartenplatz zu bekommen, ist ein existenzielles Problem.” 

Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Fonds Soziales Wien beschäftigt sich mit dem Projekt “inklusives Wien 2030” und dem Ausbau von Kindergartenplätzen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Für Kinder wie Viktoria irrelevant, denn eine Diabeteserkrankung erfordert keine Sonderpädagogik. Wie der Fachkräftemangel in der Elementarpädagogik generell gelöst werden soll, steht in den Sternen. Promussas bleibt jedenfalls skeptisch: “Ich schaue mir das seit zwei Jahrzehnten an. Getan hat sich kaum etwas.” 

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