Kündigungen bei Lieferando: Zurück zum Branchenstandard Ausbeutung
Aus dem Straßenbild großer Städte sind sie kaum mehr wegzudenken: Sogenannte Rider flitzen auf zwei Rädern hin und her zwischen Restaurants, Haustüren und Büros. Ob bei Hitze oder Kälte, in Schnee oder Regen: Die Fahrer:innen liefern bestelltes Essen ab, und erhalten dafür ziemlich wenig Lohn. Auf dem Rücken tragen sie Würfelboxen in leuchtenden Farben. Orange steht für Lieferando, rosa für Foodora. In Österreich sind sie die Platzhirschen auf dem umkämpften Markt der Lieferdienste.
Das Orange von Lieferando stand dabei seit 2023 auch für: etwas weniger schlimm für die Beschäftigten. Denn die meisten der Rider waren im Unternehmen angestellt. Mit Kollektivvertrag. Das ist jetzt vorbei. Am Dienstag kündigte Lieferando an, ihre Zusteller:innnen zu kündigen und demnächst nur noch freie Dienstnehmer:innen zu beschäftigen.
“Das ist ein großer Schock”, sagt Robert Walasinski von Riders Collective. Sie ist eine gewerkschaftliche Initiative, in der sich Beschäftigte von Zustelldiensten vernetzen und über ihre Rechte informieren können. Er spricht von 966 angestellten Fahrer:innen, die nun ihre Anstellung verlieren werden. “Das war für sie eine Lebensgrundlage, die jetzt weg ist”, sagt er zu MOMENT.at. “Es war die Flucht aus dem ausbeuterischen System von Foodora, das ist vorbei.”
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Lieferando habe den Angestellten mitgeteilt, dass ihre Dienstverhältnisse mit 30. Juni enden würden, so Walasinski. Das Unternehmen selbst spricht von “nur” 600 Kündigungen. Betroffen sind aber alle. Wer nicht gekündigt wird, dessen Vertrag läuft aus und wird schlicht nicht verlängert. Dazu kommen noch rund 70 Angestellte in Büros und Verwaltung von Lieferando. Das sei eine Anpassung an “den österreichischen Branchenstandard”, so das Unternehmen.
Freie Dienstnehmer:innen mit wenig freier Wahl
Der Branchenstandard für die rund 5.000 Bot:innen auf Fahrrädern und E-Mopeds heißt: Arbeit als freie Dienstnehmer:inner mit nur sehr wenig freier Wahl. Entlohnt wird pro Auftrag. Wer einen nicht annimmt, erhält den nächsten möglicherweise nicht oder weniger Bezahlung. “Wer sich das frei einteilen möchte, der wird etwa von Foodora massiv sanktioniert”, sagt Walasinski.
Anspruch auf Urlaubsgeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt es nicht. Als freier Dienstnehmer für Foodora oder Lieferando zu arbeiten, ist für die Lieferant:innen die schlechteste aller Welten. Das Machtgefälle zwischen den multinationalen Konzernen und ihren Ridern ist sehr groß. “Du hast als Fahrer keine Verhandlungsbasis”, sagt Walasinski.
Lieferando in „schlechterer Marktposition“
Lieferando drängt seine Beschäftigten nun wieder zurück in die Scheinselbstständigkeit. “Wir haben jahrelang davor gewarnt, dass das passieren wird, wenn man freie Dienstnehmer in dieser Branche zulässt”, sagt Walasinski. “Denn dann hat derjenige, der Personen anstellt, definitiv eine schlechtere Marktposition”.
Das sieht auch das Unternehmen so. Dass kein Mitbewerber nachgezogen und seine Beschäftigten ebenfalls angestellt hat, habe zu wesentlichen Wettbewerbsnachteilen geführt, so Lieferando. Fragen von MOMENT.at danach, wie groß diese Wettbewerbsnachteile waren und was die Gründe dafür waren, jetzt alle angestellten Fahrer:innen zu kündigen, beantwortete das Unternehmen bis Redaktionsschluss nicht.
Doch eigentlich sollte es in die andere Richtung gehen: zu besseren Arbeitsbedingungen für die sogenannten Plattform-Arbeiter:innen. Das sind Beschäftigte, die davon abhängig sind, dass ihnen ein Online-Dienstleister Aufträge vermittelt. Lieferando und Foodora für Essenslieferungen, Uber für Taxifahrten. Der Sektor boomt: Arbeiteten im Jahr 2022 EU-weit noch 28 Millionen Beschäftigte so, soll ihre Zahl in diesem Jahr auf 43 Millionen steigen.
Plattformarbeit boomt: Immer mehr arbeiten prekär
Im April 2024 stimmte das EU-Parlament für die Richtlinie zur Plattformarbeit. Der heikelste Punkt darin: Sind die Menschen, die für diese Apps und Dienste arbeiten, Selbstständige und “freie” Dienstnehmer:innen? Oder handelt es sich um Scheinselbstständigkeit, die einem ordentlichen Arbeitsverhältnis gleicht? Und sollten Beschäftigte dann auch die gleichen Rechte und Schutz bekommen wie Arbeitnehmer:innen, wenn sie schon die Pflichten haben?
Die Richtlinie führte eine gesetzliche Vermutung über ein Arbeitsverhältnis ein. Wenn selbständige Plattform-Arbeiter:innen vor Gericht geltend machen, sie seien eigentlich wie Angestellte des Unternehmens zu behandeln, dann muss die Plattform beweisen, dass das nicht zutrifft. Kann sie das nicht, muss die Beschäftigungsart umgewandelt werden. Um diese “widerlegbare Vermutung” und nach welchen Kriterien Plattform-Arbeiter:innen als Angestellte gelten sollen, wurde jahrelang heftig gerungen. Die Richtlinie passiert im Oktober 2024 den EU-Rat.
Regierung will Scheinselbständigkeit „entgegentreten“
Am Ende hieß es: Jedes Mitgliedsland soll für sich selbst festlegen, welche Kriterien gelten sollen. Innerhalb von zwei Jahren soll die Richtlinie umgesetzt werden, auch in Österreich. Die neue Dreierkoalition hat sich die “ehestmögliche Erarbeitung des Umsetzungsgesetzes der EU-Richtlinie Plattformarbeit” auf Seite 182 ins Regierungsprogramm geschrieben und will dem Problem Scheinselbstständigkeit „entgegentreten“.
Walasinski von Riders Collective wünscht sich ein Gesetz, “das Ausbeutungsverhältnisse verhindert”. Er hofft darauf, dass geändert wird, „was bisher verschlafen wurde“. Mit den Verträgen als Freie Dienstnehmer sei es “ein Rennen nach unten. Da geht’s nur um die Frage: Wer macht es noch billiger?”, sagt er. “Doch in diesem Bereich gibt es keine freien Dienstnehmer. Das sind einfach keine Unternehmer.”
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