print print
favorites-circle favorites-circle
favorites-circle-full favorites-circle-full
Gesundheit

Hausarzt Kurt Roitner zum Ärztemangel: „Ärmere dürfen nicht schlechter versorgt werden“

Hausarzt Kurt Roitner. Er warnt seit Jahren vor einem Ärztemangel.
In den Spitälern kracht es, weil Ärzt:innen fehlen. Für Hausarztpraxen finden sich keine Nachfolger:innen. Dafür gibt es immer mehr Wahlarztpraxen. Kurt Roitner aus Braunau arbeitete 39 Jahre als Hausarzt. Er sieht die medizinische Versorgung in Österreich an einem Kipppunkt. Es drohe eine Zwei-Klassen-Medizin. Er kämpft dafür, dass es für Ärzt:innen wieder attraktiv wird, eine Praxis mit Kassenvertrag aufzumachen. Denn zuwenige Ärzt:innen gebe es nicht.

MOMENT.at: Die Regierung hat jetzt den Plan vorgelegt, bis Jahresende 100 neue Kassenarztstellen zu schaffen. Dafür soll es einen Startbonus von 100.000 Euro für diejenigen geben, die eine neue Praxis eröffnen. Kann das klappen?

Kurt Roitner: Das ist ein guter Ansatz, ja. Aber in der Steiermark wird das schon seit 2019 Jahren versucht mit 70.000 Euro Förderung für neue Kassenstellen. Der Erfolg ist bescheiden. Die Regierungspläne, einfach mehr Kassenstellen zu schaffen, gehen sich so nicht aus. Für die ausgeschriebenen Kassenstellen findet sich niemand.

Die Lücken werden größer und es könnte dramatisch werden. Die Ärztekammer Oberösterreich hat zuletzt 25 offene Kassenstellen ausgeschrieben. Da hat sich eine Ärztin in einer Gruppenpraxis beworben. Dabei sind die Honorare schon besser geworden. Bereitschafts- und Nachtdienste wurden abgespeckt. Und es gibt grundsätzlich keinen Mangel an Ärzt:innen. Die gehen nur nicht in die Allgemeinmedizin und eröffnen keine Kassenpraxen.
 
MOMENT.at: Aber auch in den Spitälern kracht es an allen Ecken. Dort braucht es ja Fachärzt:innen. Also doch ein Mangel?

Roitner: Da fehlen vorne und hinten die Leute. Wenn ein Primar 21 Ärzt:innen in seiner Abteilung haben sollte, aber nur 14 hat, sind die völlig überarbeitet und machen viel zu viele Dienste.

Das führt dazu: Junge Ärzt:innen, die Allgemeinmediziner:innen werden wollen, erhalten schon früh Angebote, in ein Spezialfach zu wechseln. Das soll helfen, ausreichend junge Fachkärzt:innen in die Spitäler zu bekommen. Denn der Betrieb dort, wird ohne ausreichend junge Ärzt:innen bald zusammenbrechen.

MOMENT.at: Wie soll Ärzt:innen schmackhaft gemacht werden, eine Praxis zu übernehmen?

Roitner: Junge Ärzt:innen lernen die Allgemeinmedizin erst nach 4 Jahren Spitalsausbildung wirklich kennen. Sein späteres Arbeitsfeld früh kennenzulernen, ist aber enorm wichtig für die Berufswahl. Am meisten profitiert man aber von einer Lehrpraxis. Diese wird leider erst seit 5 Jahren finanziert.

Allgemeinmedizin ist eines der schönsten Fächer. In dieser Breite und Vielfalt erleben Ärzt:innen ihren Beruf selten. Dazu kommen die sehr guten Beziehungen zu den Patient:innen. Davon haben die auch was. Komme ich nur als Nummer rein oder komme ich zu dem, der mich 20 Jahre betreut und kennt? Das erleichtert sehr häufig die Diagnose und Therapie und ist auch noch kostensparend.

Der Fehler der Politik war, die allgemeinmedizinische Lehrpraxis lange Zeit nicht zu finanzieren. Viele haben zwar die Berufsberechtigung, haben aber die Praxis nie von innen gesehen. In Oberösterreich gibt es mit neuAMstart die Möglichkeit, das nachzuholen. Jungärzt:innen werden zukunftsfit und bekommen den Mut zur Praxisgründung.

Wie beim Klima sind wir bei der Krankenversorgung an einem Kipppunkt angelangt.

MOMENT.at: Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer diagnostizierte jüngst: Es gebe keinen Mangel an Ärzt:innen. Nur die Verteilung stimme nicht. Mehr Medizin-Studienplätze würden das Problem nicht lösen. Die Sigmund-Freud-Privatuni trennte sich daraufhin von Pichlbauer als Lehrbeauftragten. Aber hat er Recht mit seinem Befund?

Roitner: Wo er recht hat: Wir haben jede Menge Ärzt:innen und vielleicht sogar zu viele Ärzt:innen. Da kommen wir zum Hauptproblem. Wahlärzt:innen machen viel. In vielen Fachbereichen wie der Gynäkologie, Psychiatrie und Kinderheilkunde würde die Versorgung zusammenbrechen, wenn es keine Wahlärzt:innen mehr gäbe. Dass es soweit kommen konnte, ist praktisch ein Multi-Organ-Versagen der beteiligten Akteur:innen. Aber leider müssen die Patient:innen bei Wahlärzt:innen einen einen großen Anteil selber bezahlen.

Ja, Patient:innen sind glücklich bei Wahlärzt:innen. Es gibt kaum Wartezeiten und die sind nicht so gestresst. Aber die Versorgungswirksamkeit wird primär in den Spitalsabteilungen und von Kassenärzt:innen geleistet. Und die werden leider immer weniger müssen sich umso mehr abstrampeln, je mehr Wahlärzt:innen es gibt.

Wie beim Klima sind wir bei der Krankenversorgung an einem Kipppunkt angelangt. Dabei können Hausärzt:innen einen großen Teil aller gesundheitlichen Probleme direkt vor Ort lösen.
 
MOMENT.at: Warum machen so viele Ärzt:innen Wahlpraxen auf?

Roitner: Es liegt an der Arbeitsbelastung, aber natürlich auch am Geld. Wenn sie Oberärzt:in in einer Abteilung im Spital sind und vier, fünf Nachtdienste im Monat machen müssen, dann wird’s schwer. Ein Kollege hat sich verabschiedet und ist in eine Wahlpraxis gegangen.

Bei einem Glas Bier erzählte er mir, er verdiene jetzt um die 4.000 Euro mehr. Am Donnerstagabend hört er auf und was ein Wochenenddienst ist, weiß er gar nicht mehr. In der Nacht muss er nicht mehr aufstehen. Daran haben die Spitäler jetzt zu knabbern. Je schlimmer es dort wird, desto mehr wandern in die Wahlpraxen ab. Wir müssen uns davor hüten, zu jammern. Kassenärzt:innen verdienen ausreichend. Unterm Strich gehören sie immer noch zu den Menschen, denen es gut geht. Zu verbessern gibt es dennoch genug.

MOMENT.at: Wie wirkt es sich auf die Versorgung der Patient:innen aus, dass immer mehr Wahlpraxen öffnen?

Roitner: Es ist eine soziale Frage. Im Wahlsystem haben wir eine Schicht, die sich das leisten kann und will. Das geht bis in die Mittelschicht hinein. Sie sagen, ich will nicht zwei Stunden warten. Aber wer dazu keinen Zugang hat, der muss halt warten.

Viele Patient:innen bedeuten lange Wartezeiten und ständige Zeitnot und Stress für die Behandler:innen. Die Kassenmedizin ist der Anker für die sozial Benachteiligten. In der Allgemeinmedizin ist das noch nicht das große Thema. Aber die Wartezeiten dort sind schon jetzt sehr lang.

Ärmere Bevölkerung leidet als Erstes, wenn Ärzt:innen nicht mehr alle Patient:innen aufnehmen können.

MOMENT.at: Steuern wir also auf eine Zwei-Klassen-Medizin zu?

Roitner: Die Kassenmedizin in Österreich ist ein Ort des sozialen Ausgleichs. Worauf wir stolz sein können: In der sehr teuren Spitzenmedizin bekommen alle Menschen eine hervorragende Behandlung. Für eine:n Lungenkrebspatient:in kostet allein die medikamentöse Therapie bis zu 500.000 Euro pro Jahr.

Es wird nicht darüber gesprochen, ob jemand eine Zusatzversicherung hat. Wenn eine Chance besteht, dass sie überleben, dann bekommen sie das. Da leben wir schon in einem sehr gesegneten Land. Wichtig ist der soziale Ausgleich und dass es keine Mangelversorgung bei denen gibt, die nicht so viel Geld haben.

Die ärmere Bevölkerung leidet natürlich als Erstes darunter, wenn Ärzt:innen nicht mehr alle Patient:innen aufnehmen und gleich behandeln können. Es braucht ein sozial gerechtes System. Ein System, in dem man keine Kreditkarte braucht, wie es Gesundheitsminister Johannes Rauch auch gesagt hat.

MOMENT.at: Was kann getan werden, um die Wahlärzt:innen besser in die medizinische Grundversorgung einzubinden?

Roitner: Wahlärzt:innen arbeiten oft im Spital und haben die eigene Ordination nebenbei. Was wäre, wenn die zwei Nachmittage frei haben und die Expertise statt in der eigenen dann in einer Kassenpraxis zur Verfügung stellen? Dafür sollen sie gut bezahlt werden Im Moment wird das aber nicht praktiziert.

MOMENT.at: Eine langjährige Untersuchung in Deutschland zeigte, dass Patient:innen gesünder sind, die in Kassenpraxen von Hausärzt:innen behandelt werden. Dazu koste es auch noch weniger, selbst wenn die Honorare steigen. Die Ärztekammer und die Regierung werden solche Studien ja auch kennen. Warum ziehen sie daraus keine Schlüsse?

Roitner: Hier sind viele beteiligt und jede:r hat eigene Interessen. Als ich 1980 begonnen habe, waren noch 26 Prozent aller Ärzt:innen Allgemeinmediziner:innen mit Kassenvertrag, also jede:r vierte. Aktuell sind es nur noch 8 Prozent. Lange ist davor gewarnt worden. Leider wurde über Jahrzehnte von den Ländern nur im Spitalsbereich kräftig investiert.

Was bedeutet eine unbesetzte Kassenstelle? Ein Beispiel: Im Bezirk Braunau leben 40.000 Frauen, die gynäkologisch behandelt werden. Wenn sie jetzt einmal jährlich in eine Wahlarzt- statt Kassenpraxis gehen, zahlen sie 120 Euro Honorar. Von denen bekommen sie 20 Euro von der Krankenkasse zurück. Das heißt, im Jahr zahlen die Frauen 400.000 Euro aus der eigenen Tasche.
 
Andreas Huss, Vertreter der Arbeitnehmer:innen in Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) hat jüngst gefordert, das Wahlarztsystem zu überdenken, vielleicht sogar abzuschaffen. Die Krankenkassen tragen einen Teil der Honorare von Wahlärzt:innen mit, das zahlen alle Versicherten. Was halten Sie davon?

Roitner: Abschaffen geht realistisch nicht. Das System von heute auf morgen komplett umzustürzen, funktioniert nicht. Umso wichtiger ist es, dass man es für die Wahlärzt:innen interessant macht, auch im Kassensystem mitzuarbeiten. Die Kasse muss sich im Sinne des Angebotes was überlegen.

Wenn man zum Beispiel den höchst erfolgreichen Mutter-Kind-Pass über 30 Jahre im Honorar nicht erhöht, darf man sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs nicht in den Kassenbereich geht. Das ist wie in der IT-Branche. Wenn du da heute so bezahlst wie vor zehn Jahren, dann bekommst du keine Leute.
 

Zur Person: Kurt Roitner arbeitete seit 1983 als Hausarzt und Schularzt in Braunau, Oberösterreich. Nach 39 Dienstjahren ging er 2022 in Pension. Er war acht Jahre lang Bezirksärztesprecher. Er arbeitete am Masterplan Allgemeinmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) mit und konzipierte neuAmStart in Oberösterreich.

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Kommentare 0 Kommentare
    Kommentar hinzufügen

    Neuen Kommentar hinzufügen

    Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Beitrag!