Langzeitfolgen der Corona-Schulschließungen: “Ich habe Angst, die Schule nicht zu schaffen”
Tatsächlich ist Samiras Bildungskarriere beachtlich: Vor drei Jahren ist sie mit ihren Eltern und den insgesamt sechs Geschwistern aus Afghanistan geflüchtet. Die Familie hat in Österreich Asyl bekommen. Samira hat in dieser Zeit schon so gut Deutsch gelernt, dass sie es sogar ins Gymnasium schaffte.
Drei Laptops für sechs Schulkinder
Samira hat fünf weitere Geschwister, die gerade die Schule besuchen. Ein Kind besucht noch den Kindergarten. Die vier Buben teilen sich ein großes Zimmer und die drei Mädchen ebenso. Niemand kann sich alleine zurückziehen. Da war das Lernen im Lockdown eine Herausforderung.
Auch technisch. Zwei Laptops konnte eine Schule für die Familie aufstellen, einen weiteren von einer Freundin borgen – doch auf sechs Kinder kommen so nur drei Laptops. “Wir mussten uns immer abwechseln. Manchmal konnte ich am Online-Unterricht nicht teilnehmen, wenn meine jüngeren Geschwister ebenso welchen hatten,” erzählt Samira.
Für manche Aufgaben hätte sie den Laptop länger gebraucht. Bei vielen deutschen Wörtern muss sie zum Beispiel erst die Übersetzung oder weiterführende Erklärungen googeln, damit sie auch alle Angaben richtig versteht.
Aufgrund der Schulschließungen schlechter in Deutsch
Deutsch ist das einzige Fach, in dem Samira gefährdet ist. Gerade noch hat sie mit einem “Genügend” das Schuljahr geschafft. Alle Probleme, die sie in anderen Fächern hat, hängen mit den Sprachkenntnissen zusammen. Aber Samira hat viele Freunde, die vor der Schulschließung zusammen mit ihr Hausübungen gemacht haben und ihr halfen. Dieser wichtige Austausch war mit Beginn der Corona-Krise plötzlich weg.
Und auch ihr Deutsch hat sich seither verschlechtert: “Die ganze Familie war die vergangenen fünf Monate fast nur zu Hause und da sprechen wir natürlich Persisch. Mein Deutsch hat sich leider in dieser Zeit sehr verschlechtert.” Samira will nun einen Deutsch-Abendkurs zusätzlich zum Schulunterricht besuchen: “Ich habe Angst, dass ich die Schule nicht schaffe, da mein Deutsch so schlecht geworden ist.”
Wissenschaftlich bestätigt: Schulschließungen sind Rückschritt
Was Samira beschreibt, kann der deutsche Bildungsökonom Ludger Wößmann wissenschaftlich bestätigen: “Bei geschlossenen Schulen wird nicht nur weniger neues Wissen vermittelt, sondern es gehen auch bereits erworbene Fähigkeiten verloren, auf denen das weitere Lernen aufbauen könnte.”
Wößmann hat eine Studie veröffentlicht, in der er beschreibt, welche lebenslangen Folgen die Corona-Schulschließungen haben werde. Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Ereignisse, aus denen man das ableiten kann – etwa wenn Lehrerproteste zu Schließungen geführt haben.
Frühjahrs-Lockdown kostet drei Prozent Lebenseinkommen
Zusätzliche Untersuchungen kamen schließlich zu der Faustregel: Jedes Schuljahr erhöht das Lebenseinkommen um rund zehn Prozent. Wenn nun ein Drittel des laufendes Schuljahres – so wie es durch den Corona-Lockdown passiert ist – wegfällt, dann ist mit einer Verminderung des Lebenseinkommens der betroffenen Schüler um drei Prozent zu rechnen.
Nun gut, wenn diese Verminderung aber alle betrifft, dann kann das aber nicht so schlimm sein, oder? Ist es doch, wie Wößmann erklärt: “Die gesamte Volkswirtschaft leidet, nicht zuletzt durch höhere Belastungen der sozialen Sicherungssysteme und ausfallender Steuereinnahmen für gesellschaftliche Aufgaben.”
SchülerInnen von finanziell benachteiligten Familien hart betroffen
Finanziell benachteiligte SchülerInnen hatten im Homeschooling oft weit mehr Probleme als manch ihrer KlassenkollegInnen. So wie in Samiras gab es auch in vielen anderen Familien einfach zu wenig technische Geräte, um an Online-Klassen teilnehmen zu können. Die Rückzugsorte für ein ungestörtes Lernen fehlten und die Eltern konnten oft nicht oder kaum helfen.
Eine Untersuchung des Instituts für Höhere Studien zeigt auch, dass LehrerInnen die SchülerInnen, die sie selbst als benachteiligt einstuften, schlecht oder gar nicht erreichen konnten: Vor allem bei den Volksschülern hatten die LehrerInnen zu 40 Prozent kaum oder keinen Kontakt. Und wenn, dann sahen sie zahlreiche Probleme.
Dieser Schülergruppe könnte im Lebenseinkommen weitaus mehr als 3 Prozent verlieren. Bei ihnen steigt auch das Risiko, später einmal arbeitslos zu werden. Die Corona-Krise hat die Bildungschancen auf der ganzen Welt vermindert. Berechnungen der UNO sagen den SchülerInnen in manchen Entwicklungsländern ein 15% kleineres Lebenseinkommens voraus.
Was es für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem braucht
Samira hat wahnsinnige Angst vor einer zweiten Welle und einem weiteren Shutdown: “Und wenn es so weit kommt, dann hoffe ich, dass wir in geteilten Gruppen zumindest tageweise oder für ein paar Stunden in die Schule können. Das würde mir schon sehr helfen.”
Das ist eigentlich auch genau das, was auch ExpertInnen wie Ludger Wößmann fordern: Einen Mix aus Distanz- und Präsenzunterricht. Damit SchülerInnen wie Samira nicht komplett den Anschluss verlieren. Wößmann hofft, dass die Verantwortlichen in der Politik aus dem ersten Lockdown gelernt haben und bei einem zweiten alles anders machen würden: “Es müssen auch die gravierenden Folgekosten ausbleibenden Lernens bedacht werden.”
Denn sollte es wirklich wieder zu Schulschließungen aufgrund der Pandemie kommen, so könnte Samiras Traum, eines Tages Architektin oder Journalistin zu werden, in ungeahnte Ferne rücken.