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Gesundheit

Leben mit narzisstischem Elternteil: Clara ist vor ihrer Mutter geflohen

Kinder mit narzisstischen Eltern leiden oft unter langen psychischen Folgeproblemen. Man sieht den Kopf einer jungen Frau von der Seite. Sie bedeckt ihre Augen mit ihren Händen und schaut nach unten.
Kinder mit narzisstischen Eltern leiden oft unter langen psychischen Folgeproblemen. Foto: Ulrike Mai/Pixabay
Etwa einer von hundert Menschen hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Für Angehörige - insbesondere Kinder - kann das die Hölle bedeuten. Clara hat es erlebt und muss die Erfahrungen bis heute verarbeiten.

An einem heißen Augusttag packt Clara die letzten ihrer Dinge in Kisten. In wenigen Stunden steigt sie ins Auto. Weg von hier, weg von all den furchtbaren Erinnerungen, von den Demütigungen und Beleidigungen. Weg von den Ängsten, den Schmerzen und dem Psychoterror. Weg von der Frau, die immer wieder vor der Tür auf sie wartet. Von den Fremden, die die Frau vorbeischickt um ihr aufzulauern. Weg von ihrer Mutter, ohne ein Wort über ihr Ziel zu verlieren. Clara flieht. Wenige Stunden später ist sie in Wien. Heute ist Clara 24 Jahre alt. Ihre Flucht ist zwei Jahre her.

Clara ist Tochter einer psychisch erkrankten Mutter. Jedes vierte Kind wächst laut internationalen Studien mit zumindest einem psychisch erkrankten Elternteil auf. Seit der Corona-Pandemie haben sich die Zahlen der psychischen Belastungen nochmals erhöht. Die konkreten Krankheitsbilder können dabei ganz verschieden ausfallen. Zu den häufigen Erkrankungen zählen etwa Depressionen und Angststörungen, Borderline und bipolare Störungen, Schizophrenie und Sucht- oder Essstörungen. Etwa ein Prozent der Bevölkerung hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Claras Mutter ist eine davon.

Was ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung?

Das Wort Narzissmus ist weit verbreitet, bezieht sich meist aber nur auf gewisse Eigenschaften eines Menschen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung hingegen ist schwerwiegender. Erkrankte haben meist kein Einfühlungsvermögen in andere Menschen und verletzen mit ihrer Art oft Angehörige, erzählt Katharina Schuldner. Die Psychotherapeutin hat in Wien eine Praxis, in der sie eben solche Angehörige unterstützt.

Angehörige können Söhne oder Töchter sein, Partner:innen, Verwandte oder Freund:innen. In vielen Fällen werden sie von der erkrankten Person psychisch missbraucht. “Gerade in der Eltern-Kind-Beziehung versuchen narzisstische Personen oft ihren eigenen Selbstwert zu erhöhen, statt Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle der Kinder wahrzunehmen und entsprechend darauf zu reagieren”, erklärt Katharina Schuldner. In solchen Fällen kommt es beispielsweise zu Manipulationen, zu Verspottung und Einschüchterung, zu beabsichtigter Verängstigung, zu übermäßiger Kontrolle und zu Liebesentzug.

 
man sieht Clara, die Tochter einer narzisstischen Mutter. Sie hat rot-braunes, langes Haar .

Clara verarbeitet die Erlebnisse mit ihrer narzisstischen Mutter noch heute. Foto: Privat

Schmerzhafte Erinnerungen wegen der Mutter

Clara ist Betroffene von narzisstischem Missbrauch. Ihre Erzählungen sind gefüllt mit schmerzhaften Erinnerungen, die bis heute tiefe Spuren hinterlassen.

In ihrer Kindheit lebt Clara mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Berlin. Als sie 10 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater unerwartet. Seitdem geht es mit ihrer Mutter bergab. Eine Weile wohnt die Familie zu dritt, doch weil Mama Claras ältere Schwester schlägt, flüchtet die schon früh. Also bleiben Clara und ihre Mutter zu zweit.

Der Tod von ihrem Vater belastet die Tochter. Sie ist noch Jahre später traurig und ihre Mutter versteht nicht. Es sei Zeit, die Trauer zu beenden, befiehlt sie ihr. Clara versucht sich Trost anzuessen. Sie wird dick und möchte eigentlich dünn sein, entwickelt eine Essstörung und landet in einer Klinik. 

Herabwürdigungen und Spott

Als Mama sie von dort abholt, macht sie ihr Vorwürfe. Wer psychisch so schwach sei, würde im Leben nie etwas hinbekommen, sagt sie ihrer Tochter. Und wie viel stärker die schlanken Freundinnen der Jugendlichen doch wären. Richtig stolz können deren Mütter auf ihre schönen Töchter sein, fügt sie hinzu. Im Gegensatz zu Claras Mutter, meint sie damit – und muss die verletzenden Worte erst gar nicht mehr aussprechen.

“Fettarsch”, nennt sie ihre Tochter und “Doppel Whopper”, als sie herausfindet, dass sie bei Burger King war. Weil Clara Höhenangst hat, legt Mama ihren iPod auf einen Kasten. So zwingt sie sie, die Leiter hinauf zu klettern. Als Clara auf der Leiter steht, tritt sie dagegen. Es soll wackeln und Clara soll Angst bekommen. Auch vor Spinnen hat Clara Angst. Wenn ihre Mutter Spinnen findet, hält sie ihr die vors Gesicht. Clara wird panisch, sie schreit und weint. Mama lacht.

Das Schöne verblasst

Manchmal ist es auch schön mit Mama. Zum Beispiel, wenn sie verspricht, gemeinsam an die Ostsee zu fahren. Wenn sie in jüngeren Jahren abends gemeinsam auf der Couch kuscheln. Aber wenn Clara nachts Angst bekommt und sich nicht alleine ins obere Stockwerk zum Kinderzimmer traut, beruhigt sie sie nicht und sieht stattdessen zu, wie Clara vor Mamas Schlafzimmer auf dem Boden schläft. “Ab und zu gab es schöne Sachen”, erzählt Clara. “Aber sie werden überschattet von den vielen negativen Erinnerungen.”

Jahrelang denkt Clara, sie habe einfach Pech mit ihrer Mutter. Während andere Familien liebevoll sind, ist ihre eben gemein. Das nimmt sie so lange hin, bis es ihr schließlich reicht. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag versucht Clara im Internet Rat einzuholen. Sie möchte den Kontakt zu ihrer Mutter abbrechen und sucht nach Gleichgesinnten. In einem Forum findet sie einen Hinweis auf die narzisstische Persönlichkeitsstörung und einen Link dazu, unter dem all die Verhaltensweisen aufgelistet stehen, die ihre Mama kontinuierlich an den Tag legt. Clara ist erleichtert. Sie weiß nun, dass sie nicht einfach nur Pech hat. Es gibt Gründe für das, was bei ihr zuhause passiert.

Mehrere Muster von Narzissmus

Laut der Psychotherapeutin Schuldner gibt es mehrere Verhaltensformen, die Narzisst:innen immer wieder missbräuchlich ausführen. Sie geben ihren Angehörigen das Gefühl, nicht gut genug und sogar selbst an ihrem Missbrauch schuld zu sein. Sie manipulieren Beziehungen zu anderen Menschen und wechseln häufig zwischen überschwänglichen Liebesbekundungen und eiskalter Abweisung. Auch “Gaslighting” kann die Therapeutin in narzisstischen Missbrauchsbeziehungen immer wieder erkennen. Das bedeutet, dass die erkrankten Menschen ihre Angehörigen manipulieren, anlügen und täuschen, bis diese schließlich selbst an ihrem Verstand zweifeln.

Auch Clara weiß, was es heißt, manipuliert zu werden. Als sie mit 14 Jahren wegen ihrer Essstörung in einer Klinik ist, schreibt sie ihrer Mutter Briefe, in denen sie sie in höchsten Tönen lobt. Sie dankt ihrer Mutter dafür, die beste Mama der Welt zu sein. Dafür, so streng mit ihr zu sein, denn nur so würde sie im Leben etwas erreichen. Clara spricht von Gehirnwäsche. “Alles, was in diesen Briefen stand, hätte eins zu eins von meiner Mutter geschrieben sein können. Es ist, als hätte sie mein Gehirn geöffnet, hinein getippt, was ich sagen soll und dann zugeschaut, wie ich genau das wiedergebe”, sagt Clara.

Eines Tages spricht Clara ihre Mutter auf den Narzissmusverdacht an. Diese winkt ab und lacht: “Du hast eine blühende Fantasie.” Einsehen kann sie ihre Erkrankung nicht.

Betroffene leiden an vielen Problemen

Betroffene narzisstischer Missbrauchsbeziehungen empfinden oft Angst, Panik oder Verwirrung, erzählt Schuldner. Sie leiden an Schuldgefühlen, an Schlafstörungen, an Energielosigkeit und Traurigkeit. Das kennt auch Clara, deren Essstörungen und Depressionen so weit fortschreiten, bis sie einen Suizid in Erwägung zieht. Heute hat sie diese Gedanken überwunden, aber wertvoll fühlt sie sich noch immer nicht.

Als Clara 18 Jahre alt ist, zieht sie von zuhause aus. Sie bricht den Kontakt zu ihrer Mutter ab, lernt für ihren Schulabschluss und kellnert gemeinsam mit ihrer Schwester in dem kleinen Café, das im selben Haus wie ihre Wohnung liegt. Doch Mama möchte den Kontaktabbruch nicht wahrhaben. Immer wieder schreibt sie drohende Nachrichten, steht unangekündigt vor der Tür und schickt eines Tages sogar ihre Freund:innen vorbei, um im Café ihre Töchter abzupassen. “Stalking”, fasst Clara zusammen und schüttelt fassungslos den Kopf.

Flucht ohne Verabschiedung

An einem heißen Augusttag packen Clara und ihre Schwester schließlich ihre Sachen in Kisten. Sie steigen ins Auto und kommen einige Stunden später in Wien an. Von ihrer Mutter haben sich die beiden nicht verabschiedet. Sie haben ihr nicht gesagt, in welche Stadt sie ziehen und auch ihre Telefonnummer haben sie blockiert. Ihre anderen Verwandten in Berlin haben sie gebeten, Mama keine Information zu geben. Clara ist geflohen. Heute studiert sie in Wien selbst Psychologie.

“Viele Betroffene sind zu lange mit ihren intensiven Emotionen, mit Schlafproblemen, Niedergeschlagenheit und Angst durchs Leben gegangen”, sagt Katharina Schuldner. “Daher benötigen sie zuerst einmal viel Ruhe und eine ruhige Atmosphäre zum runterkommen.” Das fällt nicht immer leicht, denn Betroffene von psychischem Missbrauch haben gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen. Mit Psychotherapie können sie lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie können Sicherheit, Selbstvertrauen und Selbstliebe lernen. Den emotionalen Missbrauch zu erkennen und sich von der erkrankten Person abzugrenzen ist der erste Schritt.

 

Wo Betroffene sich hinwenden können

  • Kinder- und Jugendhilfe (MA11 in Wien)
  • Verein HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter) im Rahmen des Projektes “veRRückte Kindheit – Hilfe für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil”
  • Beratungsangebot KIPKE – Beratung von Kindern psychisch kranker Eltern
  • Verein Jojo für psychisch belastete Familien
  • Psychotherapie / psychologische Beratung

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