MAN-Werk in Steyr: Hut ab vor dem Mut der Belegschaft
Der Marshmallow-Test ist ein berühmt gewordenes Experiment der Sozialwissenschaften. Er testet die Fähigkeit von Kindern, auf eine Belohnung zu warten, wenn durch die Warterei am Ende mehr rausspringt. Ein Zuckerl jetzt oder zwei, ein später? Die Kinder konnten nicht wissen, ob sich die Wartezeit lohnt. Manche vertrauten darauf, andere gingen das Risiko nicht ein und griffen lieber gleich zu. Besser der Spatz in der Hand … , man kennt das.
Vor einer ähnlichen Frage – wenn auch mit ungleich schwereren Folgen – standen diese Woche 2.300 Arbeiter:innen in Steyr. Entweder ein Minus von 15 Prozent Lohn akzeptieren und in Kauf nehmen, dass jeder zweite Mitarbeiter entlassen wird – oder das gesamte Werk schließt. Die Beschäftigten lehnten das “Angebot” mit einer Zweidrittel-Mehrheit deutlich ab. Wählten sie statt einem Zuckerl also lieber gar keines?
Spatz und Taube im MAN-Werk weg?
Nein, sie spielen auf Zeit, in der Hoffnung doch noch beide Zuckerl zu bekommen: Voller Lohn und volle Belegschaft. Vor zwei Jahren wurde eine Standort-Garantie für das MAN-Werk abgeschlossen. Auf Überstundenzulagen wurde verzichtet, Pausen gestrichen: Zwei LKWs mehr pro Tag werden jetzt in Steyr gebaut, ohne dass die Beschäftigten einen Euro mehr Lohn dafür bekommen. Dafür erkaufte sich die Belegschaft das Versprechen, bis 2030 in Steyr LKWs zusammenschrauben:
“Betriebsbedingte Beendigungskündigungen bis zum 31. Dezember 2030 sind für alle Beschäftigten der MAN Truck & Bus ausgeschlossen. (Quelle)”
Davon will der Eigentümer heute nichts mehr wissen, der Betriebsrat hat bereits angekündigt, als letztes Mittel ein Gericht anrufen zu wollen. Sollte die Aufkündigung der Standort-Garantie tatsächlich rechtswidrig sein, müsste MAN den Mitarbeiter:innen das Entgelt vielleicht sogar weiter zahlen, Werksschließung hin oder her. Ein riskantes Geduldsspiel der Arbeiter:innen von Steyr: Sie haben niemanden über die Klinge springen lassen und sich gemeinsam für die Taube auf dem Dach entschieden.
Aber die Wirtschaft!?
Nach der Abstimmung mussten sie herbe Kritik einstecken:
“Da muss man sich fragen, ob die Mitarbeiter von MAN die gesamtwirtschaftliche Sicht eingenommen haben. Es geht nicht nur um ihre Jobs.” – Günter Felbermayr (zukünftiger Chef des WIFO)
Die “gesamtwirtschaftliche Sicht” wird vom MAN-Eigentümer (MAN gehört zu 94,36% der Volkswagen AG, die wiederum mehrheitlich im Besitz der Milliardärsfamilie Porsche-Piech steht) übrigens von niemandem eingefordert. Der Eigentümer schließt das profitable Werk, nachdem er noch im Herbst eine halbe Milliarde Euro an Gewinn ausgeschüttet hat. Und das, obwohl MAN Kurzarbeitsgeld in Höhe von 11 Millionen Euro in Anspruch genommen hat.
Der Eigentümer lässt sich seine Taube in der Hand vom Steuerzahler kräftig vergolden. Die Regierung ist seltsam still, der Arbeitsminister zeigt sich von der Abstimmung “überrascht” und will nun mit dem Investor sprechen. Dabei gäbe es gute Beispiele, wie man gut durchdacht Übernahmefragen staatlicherseits mit einer Expertengruppe abklären kann. Mit der Gesellschaft GBI gab es das in Österreich bereits in den 80er Jahren.
Bemerkenswerter Mut der Belegschaft
Heute weiß die Wissenschaft übrigens, dass der Marshmallow-Test wenig Aussagekraft über die Zukunft eines Kindes hat. Lange dachte man der Test, sei ein präzises Instrument um vorher-zusagen, wie erfolgreich Kinder später im Leben sein würden. Wer sich gedulden konnte, war etwa besser in der Schule. Was in den 60er Jahren vergessen wurde, war die soziale Herkunft des Kinds mit einzurechnen. Wer aus finanziell sicheren Verhältnissen kommt, verlässt sich eher darauf, dass die Sache mit dem zweiten Zuckerl schon klappen wird. Wer früh gelernt hat, dass selten besseres nachkommt, greift lieber rasch zu – sonst ist das bisschen vielleicht auch noch weg.
Umso bemerkenswerter die Abstimmung von Steyr. Mitten in der größten Arbeitsmarktkrise in der Geschichte dieses Lands den eigenen Job zu riskieren, um miteinander vielleicht alle zu retten, zeugen von Mut, Haltung und einer Stärke, vor der ich den Hut ziehe.