Das Millionen-Geschäft mit der Nachhilfe: Geht das nicht auch anders?
Etwas Neues zu lernen, ist für die meisten schwierig. In der Volksschule geht das ja noch irgendwie. Aber später lernt man Dinge, die auch so manch Erwachsener nicht (mehr) weiß. Wer kann schon aus dem Stegreif den Lehrsatz des Pythagoras, Zinsrechnungen und Binomische Formeln erklären?
Vielen Kindern fällt das schwer und oft können Familie oder Freund:innen nicht helfen. Darum boomt das Geschäft mit der Nachhilfe. Schätzungen gehen davon aus, dass über offizielle Angebote in Österreich jährlich rund 100 Millionen für Nachhilfe ausgegeben werden. Die Zahl könnte aber auch doppelt so hoch sein, denn drei Viertel der Nachhilfe machen Privat-Lehrer:innen. So oder so kostet es die Eltern viel Geld. Wenn ein Kind Lernunterstützung braucht, fallen im Schnitt mehrere hundert Euro pro Jahr an. Für finanziell nicht so starke Familien ist das naheliegenderweise ein Problem.
Wer verdient nun an der Nachhilfe? Und könnte man Kinder unabhängig von den Finanzen der Eltern fördern, wo die Schule es nicht schafft? MOMENT.at hat recherchiert.
Nachhilfe: Viele Gründe für Bedarf
Die Lern-Probleme entstehen aus verschiedenen Gründen. Kinder lernen grundsätzlich einfach unterschiedlich schnell, haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, kommen mit manchen Lehrer:innen besser als mit anderen aus. Spätestens mit der Pubertät wird der Lernwille nicht bei allen unbedingt größer.
Auch zwei Ausnahmesituationen haben sich in den vergangenen Jahren entwickelt. Die Corona-Pandemie mitsamt der Lockdowns und anderen Herausforderungen hat Wissenslücken bei den Kindern hinterlassen. Und natürlich brauchen Kinder, die und deren Eltern Deutsch nicht zur Muttersprache haben, auch Hilfe beim Überwinden dieser Hürde. Durch die Familienzusammenführungen seit der zunehmenden Kriegsflucht seit 2015 kommt das häufiger vor.
Für Lehrer:innen ist es schwierig, Lösungen für alles zu finden und auf 20 oder mehr Schüler:innen gleichzeitig einzugehen. Einen Personalmangel und Reformbedarf gibt es eben auch an Schulen. Am Ende steht der Fakt: Die Schule hilft nicht allen in jedem Fach gleichermaßen gut. Manche brauchen Hilfe von anderswo. Nicht alle Eltern oder Familien können – oder wollen – das selbst stemmen. Geld dafür ausgeben können eher Menschen mit höheren Einkommen. Manche fallen dadurch zurück.
Für eine ganze Branche ist dieses Problem ein Glücksfall. Die Nachhilfe-Angebote boomen. Leistungen, die man vom öffentlichen Bildungswesen erwarten würde, werden zur Einnahmequelle privater Unternehmen.
Gar kein so gutes Geschäft?
Es gibt eine Reihe kostenpflichtiger Angebote. Sogar viel beachtete Startups wie “Go Student”. Sie ziehen in Erwartung großer Gewinne riesige Investments an. Der Umgang mit den oft massenhaft entlassenen Mitarbeiter:innen, vor allem wenn diese Profite erst einmal ausbleiben, bringt diesen zwar Kritik, aber der Neugierde von Investor:innen hat so etwas ja schon oft nicht wirklich geschadet.
Es gibt aber auch klassischere Anbieter. Etwa die „Schülerhilfe“. Das deutsche Unternehmen gibt es seit über 30 Jahren und in Deutschland und Österreich an über 1.000 Standorten. Regionalleiter Markus Kalina erklärt, wie das „Produkt“ zu Geld wird: “Unsere Standorte sind Franchisepartner und die machen die Preise.” Die Teilnahme an Kleingruppen mit drei bis vier Kindern kostet ab zwölf Euro die Stunde. Reich, so Kalina, würden die Franchisepartner:innen nicht. Den Einnahmen stehen schließlich Ausgaben für Miete, Betriebskosten und Personal gegenüber. Ab dem dritten Jahr prognostiziert das Unternehmen seinen Partner:innen in Deutschland aber immerhin 90.000 Euro an Gewinn.
Generell gibt es verschiedene Modelle, sich Lernunterstützung von Instituten zu holen. Angela Schmidt ist für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Konkurrenz von LernQuadrat zuständig. „Im LernQuadrat kann man einzelne Stunden buchen, oder sich für einen Monat, sechs oder zehn Monate anmelden. Ebenso gibt es die Möglichkeit, in den Ferien einen Intensivkurs zu buchen.“ Die Höhe der Beiträge unterscheidet sich je nach Paket.
Nachhilfe: Wer lehrt, wer lernt?
Immerhin achte man bei den Instituten auf die Ausbildung. Die meisten Nachhilfelehrer:innen seien Studierende oder pensionierte Lehrkräfte. Dazu gibt es noch verschiedene Unterstützungen, um den Kindern besser zu helfen. Muttersprachliche Lehrer:innen, etwa für Englisch, oder Menschen aus der Praxis, wie für HTLs, gibt es standortabhängig.
LernQuadrat schlüsselt zudem auf, wer dort Nachhilfe in Anspruch nimmt. 50 Prozent sind Oberstufenschüler:innen, 40 Prozent aus der Unterstufe, der Rest sind Volksschüler:innen. Letztere Gruppe wächst auch bei der Schülerhilfe. Allzu genaue Informationen über das, was aber derzeit los ist und wieso so viele Volksschulkinder Nachhilfe brauchen, gibt es von privaten Instituten aber nicht.
Ein anderes Modell in Wien
Da kann Daniela Ecker-Stepp viel freier sprechen. Sie ist die Leitung des Geschäftsbereichs Schule bei den Wiener Volkshochschulen. Dort bietet man eine kostenlose Nachhilfe an – genannt „Wiener Lernhilfe„. In Wien gibt es flächendeckend Angebote an Schulen, für alle, die nicht zahlen können – oder wollen. „Wir sind für alle Wiener Schülerinnen und Schüler da. Wir überprüfen keine Zeugnisse. Wenn sie das Gefühl haben, sie brauchen Unterstützung, bekommen sie diese“, erklärt sie. Das gilt unabhängig davon, ob Kinder große Probleme haben oder auf einem Dreier stehen und besser werden wollen.
270 Lernbetreuer:innen unterstützen die Wiener Kinder. Im Herbstsemester gibt es über 1.000 Lernhilfekurse für bis zu 10.000 Schüler:innen aus Mittelschulen und AHS-Unterstufen, sie finden direkt an rund 120 Schulstandorten statt. Dabei geht es insgesamt auch um viel mehr, als nur um Mathe und Co.
Unterstützen, wo es sein muss
„Das Programm wird in der Klasse an alle Kinder ausgeteilt, um niemanden an den Pranger zu stellen.“ Wie die Lerngruppen zusammengesetzt werden, wird nicht extra erhoben. Eine andere Muttersprache als Deutsch habe der Großteil, was aber nicht unbedingt etwas über die Deutschkenntnisse der einzelnen Kinder aussage.
Wir sind eines der wenigen Länder, das auf aktive Elternmitarbeit setzt
Migrationshintergrund und die Fluchtbewegungen des letzten Jahrzehnts spielen natürlich eine Rolle. Wer einige Zeit in Flüchtlingslagern statt in der Schule verbracht hat, braucht wahrscheinlich erst einmal mehr Unterstützung. Genau das bietet die Lernhilfe, etwa durch den Ausbau des Bereichs Deutsch als Zweitsprache. Der Bedarf habe sich laut Ecker-Stepp erhöht, eine gravierende Veränderung konnte über die Jahre aber nicht festgestellt werden. Im Fokus stehen immer Kinder, „deren Eltern sich sonst gar keine Nachhilfe leisten können.“
Die Lernhilfeangebote außerhalb der normalen Schule wirken auf mehreren Ebenen: „Die Kinder bekommen ein anderes Selbstbewusstsein, weil es hier keine Noten gibt. Wir haben Menschen, die an die Kinder glauben“, zeigt sie sich erfreut. Im jüngsten nationalen Bildungsbericht wurde festgestellt, dass der Bildungserfolg größer ist, wenn die Eltern mehr Geld haben. Bildung wird auch bekanntermaßen besonders stark vererbt. Die Konsequenzen daraus fehlen in der Regel aber noch.
Österreich erlegt Eltern besonders viel auf
Wie in anderen Bereichen gilt, dass es das Schulsystem ist, das es den Kindern schwer macht. Nicht nur der Wechsel von Volks- in Mittelschule stresst die Kinder, der durch die fehlende gemeinsame Schule bis 14 Jahre mitten in einer frühen Phase der Entwicklung entsteht. Auch wie das Lernen angelegt ist, erhöht die Schwierigkeiten. „Wir sind eines der wenigen Länder, das auf aktive Elternmitarbeit setzt“, sagt Ecker-Stepp. Das drückt sich in der Halbtagsschule aus. „Das Schulsystem ist aufs Üben am Nachmittag und Hausaufgaben aufgebaut. Das ist nicht so einfach“, erklärt sie.
Es geht bei der Nachhilfe vielfach um Grundlagen oder das Schließen von Wissenslücken. Ob das daran liegt, dass die Eltern aufgrund des Jobs schlichtweg keine Zeit haben oder die Sprache nicht sprechen, ist letztlich für das Kind und seine Zukunft unwichtig. Wenn die Grundrechenarten nicht sitzen, wird es schwierig.
Nie mehr Nachhilfe?
Ecker-Stepp sorgt sich, dass immer mehr kleine Kinder Nachhilfe brauchen. Umgekehrt gebe es einen Bedarf an beitragsfreier Nachhilfe auch in weiterführenden Schulen – noch gibt es das in Wien aber nicht. Die Lernhilfe ist für Kinder in Volksschulen, Mittelschulen und der AHS-Unterstufe gedacht.
Was sie sich wünscht? Dass alle die gleichen Chancen haben. „Die Stadt Wien ermöglicht es uns durch die Finanzierung, einen Beitrag zu leisten, dass die Schulbildung unabhängig vom finanziellen Background funktioniert.“ Aber: Selbst das gesamte Schulsystem umzukrempeln, wäre kein Ende der Nachhilfe, denkt Ecker-Stepp. Manche können schon in der dritten Klasse Volksschule alles, was es in der Mittelschule braucht, andere erst mit elf oder zwölf Jahren. Ein individueller Förderbedarf bleibe so immer bestehen.
Wenn dieser im Rahmen einer ganztägigen Schulform gratis angeboten wird, wäre das leichter. Dadurch sinkt der Nachhilfebedarf, wie vor einigen Jahren schon festgestellt wurde. Ob die schulischen Probleme nun in der Schule oder außerhalb davon gelöst werden, ist für die Betroffenen in letzter Konsequenz nicht so wichtig. Nur: Auf das Geldbörsel der Eltern sollte es nicht ankommen.