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Demokratie
Ungleichheit

Österreich hat schon eine erfolgreiche Gesamtschule – aber sie dauert vier Jahre zu kurz

Österreich hat schon eine erfolgreiche Gesamtschule – aber sie dauert vier Jahre zu kurz
Die Volksschule in Österreich ist eine Gesamtschule.
Landauf, landab wirkt die Volksschule wie die perfekte Bildungseinrichtung. Alle Sechs- bis Zehnjährigen lernen gemeinsam. Aber danach wird eingeteilt: Gymnasium für die einen, Mittelschule für die anderen. Das verfestigt Ungerechtigkeit und führt zu mehr davon - und widerspricht der Wissenschaft. Warum haben wir also keine Gesamtschule?

Volksschulen sind besondere Orte, nicht nur drinnen. Das merkt man schon, wenn man vorbeigeht. Verkehrsberuhigung, freundliche Fassaden, spielende Kinder, tratschende Eltern. Die gemeinsame Schule der Sechs- bis Zehnjährigen sieht am Land und in der Stadt wie die perfekte Bildungseinrichtung aus. Hier lernen alle Kinder gemeinsam das Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch bereits in der dritten Klasse kommt der Druck, weil sich oftmals die Frage stellt: Was passiert, wenn die Zeit hier endet? Mittelschule oder Gymnasium?

Um „ins Gymi“ gehen zu können, dürfen die Kinder in der Regel in der 4. Klasse in Deutsch, Lesen und Mathematik keine schlechtere Zeugnis-Note als „Gut“ haben – alle anderen Pflichtgegenstände müssen positiv sein.  Für manche kein Problem. Aber wir wissen: Die Entwicklung verläuft nicht bei allen Kindern gleich schnell – besonders in diesem Alter. Viele hätten ein Jahr später aufgeholt. Warum teilen wir die Kinder dann schon hier in verschiedene Schultypen?

Frühe Trennung baut Druck auf

Christiane ist Direktorin in einer Volksschule in einer Kleinstadt und heißt eigentlich anders. Sie berichtet gegenüber MOMENT.at: „Ich unterrichte seit 30 Jahren. Vor vielen Jahren war die Unterscheidung zwischen Hauptschule und Gymnasium nicht so krass. Teilweise sind alle Kinder nach der vierten Klasse Volksschule geschlossen in die Mittelschule gegangen. Das war cool.“ Heute ist das ganz anders. Denn die Mittelschule – früher: Hauptschule – und die darauf oft folgenden Lehrberufe kamen in Verruf. 

Das Gymnasium werde von den meisten Eltern als der einzig richtige Bildungsweg angesehen, sagt Christiane. Denn von dort geht es einfacher an die Unis. Und ein Studium zähle meist mehr als eine Lehrausbildung, so die Denke. 

Die Politik hat in den letzten Jahrzehnten versucht, das Standing der Mittelschule zu verbessern. In den Köpfen der Menschen ist es aber so: Die G’scheiten gehen ins Gym und studieren, die anderen machen nach der Schulpflicht eine Lehre. Das fällt Österreich gegenwärtig auch als Fachkräftemangel auf den Kopf – schlimme Auswirkungen hat es aber schon in der Schule selbst.

Die Eltern müssen ihren Nachwuchs mit dem Zeugnis der dritten Klasse voranmelden. Das heißt, dass deren Stress im zweiten Halbjahr so richtig losgeht. Da sind die Kinder gerade einmal acht Jahre alt.

Leistungszwang für Achtjährige in Volksschule

„Die Eltern müssen ihren Nachwuchs mit dem Zeugnis der dritten Klasse voranmelden“, erzählt sie, „das heißt, dass deren Stress im zweiten Halbjahr so richtig losgeht. Da sind die Kinder gerade einmal acht Jahre alt.“ Das spüren die Kinder. Und die Entwicklung spitzt sich seit einigen Jahren zu: etwa der Notenzwang schon bei den Jüngsten oder die Trennung der Kinder durch Deutschförderklassen machen das Arbeiten sehr schwierig. „Ein kindgerechter Unterricht ist eigentlich seit 2018 nicht mehr möglich“, spielt sie auf die Politik der türkis-blauen Regierung dieser Zeit an. „Der Druck ist so stark und es ist für uns als Lehrpersonen extrem schwierig geworden.“

Lernschwächere Kinder profitieren eigentlich davon, wenn sie mit den anderen in derselben Klasse bleiben. Wer noch nicht gut Deutsch kann, lernt es so besser, als wenn man nur mit anderen Kids ohne deutscher Muttersprache zusammen lernt. Was sinnvoll wäre und laut ihr gut funktioniert, ist nicht mehr möglich. Was wäre gut? „Wir wollen Mehrstufenklassen und die Kinder durchmischen, so lernen sie angeleitet von den Lehrer:innen auch voneinander.“ Das funktionierte „sensationell“. 

Viel Kommunikation notwendig

Die Volksschuldirektorin versucht gegenzusteuern, wo sie kann. Schon im benachbarten Kindergarten werden die Eltern auf den Bildungsweg vorbereitet. Man erklärt, was in der dritten Klasse passiert. Das „federt einiges ab“. Die Pädagog:innen sprechen zudem laufend und viel mit den Eltern. „Wir nehmen uns wirklich viel Zeit“. Zeit haben sie wegen knapper Personalressourcen gar nicht viel. Trotzdem versuchen sie es, wenn sie merken, dass die Eltern unsicher und nervös werden, aber die eigenen Bedürfnisse stehen oft im Vordergrund:. „Viele sagen, dass ihr Kind einen Zweier unbedingt braucht, weil die Geschwisterkinder ja auch im Gymnasium sind.“ 

Statt alle Beteiligten bis zu eineinhalb Jahre lang zu beruhigen, wäre es besser, sich mehr auf die Kinder und ihre Bedürfnisse zu konzentrieren: „Es wäre einfach sehr schön, nur mit den Kindern zu arbeiten, sie mit all ihren Stärken und Schwächen wahrzunehmen, ihnen bei der Entwicklung zu helfen und sie zu fördern“, sagt Christiane. Stattdessen hecheln alle einem Notensystem nach, das Zehnjährige auseinander dividiert. „Dabei ist es ja so: Wenn ich ein und dieselbe Schularbeit in Deutsch zwei verschiedenen Kolleg:innen gebe, kommt ja nicht einmal dieselbe Note dabei heraus.“

Zu schneller Kulturwandel?

Zu diesem künstlich herbeigeführten Cut kommt noch die Umstellung von einer:m Klassenlehrer:in in der Volksschule auf das Fachlehrer:innensystem danach. Das ist nicht für alle Kinder so einfach, ein langsamerer Übergang wäre besser, findet die Direktorin: „Ich sage es ganz radikal: Ich bin der Meinung, dass diese Umgewöhnung auf das System mit Fachlehrer:innen für viele Kinder ein großes Problem ist.“

Das aktuelle System funktioniert ja außerdem nicht einmal. Viele „Fachlehrer:innen“ unterrichten aufgrund von Personalmangel Fächer, für die sie nicht ausgebildet wurde. Es braucht mehr Personal, denn sonst wird eine gemeinsame Schule mit neuem Türschild wenig ändern: „Damit die gemeinsame Schule Vorteile bringt, braucht es Geld. Die Ressourcenverteilung ist ganz klar eine politische Frage.“

Was ist der Vorteil des gegenwärtigen Systems? Es gibt Argumente für die gemeinsame Schule, aber gibt es Argumente für das Gegenteil?

Keine Argumente für Trennung nach Volksschule

Szenenwechsel an die Universität. Evi Agostini vom Zentrum für Lehrer:innenbildung kennt als gebürtige Südtirolerin und ausgebildete Volksschullehrerin die gemeinsame Schule der Sechs- bis 14-Jährigen. In Italien gibt es sie schon lange.

Die Wissenschaftlerin antwortet auf die Frage, was der Vorteil einer gemeinsamen Schule wäre, mit einer Gegenfrage: „Man muss das Pferd von hinten aufzäumen: Was ist der Vorteil des gegenwärtigen Systems? Es gibt Argumente für die gemeinsame Schule, aber gibt es Argumente für das Gegenteil?“

Bildung wird auch wegen der frühen Trennung nach der Volksschule in Österreich vererbt. Arbeiterkinder schaffen es viel seltener bis zur Matura als Akademikerkinder.

Auch die frühe Trennung nach der Volksschule führt dazu, dass Bildung in Österreich vererbt wird

Die bestehenden Verhältnisse werden mit der Zweiteilung der Kinder in Gymnasium und Mittelschule schlicht fortgeschrieben: “Benachteiligte werden weiterhin benachteiligt. Durch die Schultypen kann man nämlich leichter in Leistungsgruppen unterscheiden.” Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. 

Die Studien zeigen für leistungsstarke Schüler:innen keine Nachteile bei durchgemischten Lerngruppen

Die Gesamtschule nützt allen Kindern

Dabei sagt die Wissenschaft überwiegend das Gegenteil. Die, die gemeinsam mit vermeintlich schwächeren Mitschüler:innen lernen, bekommen keine Probleme. „Die Studien, die ich kenne, zeigen für leistungsstarke Schüler:innen keine Nachteile bei durchgemischten Lerngruppen“, sagt Agostini. Das zeigen nicht nur internationale Untersuchungen. Auch im Zillertal wurde im Zuge einer der vielen Reformversuche die Abwesenheit einer AHS-Unterstufe untersucht. Das Ergebnis war ebenfalls positiv – für alle Kinder. 

Hinzu kommt, dass Lesen, Schreiben und Rechnen nicht die einzigen Dinge sind, in denen ein Kind gut sein kann. Und nur weil manche Neunjährige noch nicht so gut rechnen können, muss sie mit elf nicht noch immer schwächer als andere sein.

Bildungs-Expert:innen im Kreuzfeuer

Viele Eltern versuchen, unterschiedliche Entwicklungen der Kinder abzufedern. Agostini sagt, es gebe einen „Nachhilfeboom“. Der befeuert noch einmal die Trennung der Kinder. Denn Nachhilfe kostet oftmals. Der Schluss liegt nahe: Wenn die Eltern Geld haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Kinder in ein Gymnasium gehen, studieren und es auch zu einem höheren Abschluss bringen. Wer hat, dem wird in dem Fall gegeben.

Es geht um den Kampf um Ressourcen und den Erhalt von Privilegien.

Wie unser Bildungswesen organisiert ist, ist also keine rein technische Frage, sondern politisch. Das spüren auch die Fachleute. Ein:e Expert:in an der Uni Wien zu finden, die sich zu der Thematik äußern möchte, war gar nicht so leicht. Agostini erklärt: „Es gibt nicht mehr so viele Personen, die Medienanfragen beantworten, weil man schnell ins Kreuzfeuer der Kritik gerät und das Thema selten neutral diskutiert wird.“ 

Den Grund liefert sie gleich mit: „Wenn man sich die vergangenen 20 Jahre ansieht, gab es viele Reformversuche – auch um die gemeinsame Schule einzuführen. Diese Pläne wurden dann auch immer wieder durchkreuzt. Es geht um den Kampf um Ressourcen und den Erhalt von Privilegien.“ Die Schule sollte die Gesellschaft eigentlich durchmischen, macht aber das Gegenteil. 

Nationalratswahl 2024: Wer will es (nicht) ändern?

Warum die Bildungspolitik der Wissenschaft beim Schulthema nicht folgen will, ist schwer zu verstehen. Gegen eine gemeinsame Schule der Sechs- bis 14-Jährigen spricht nur die Ideologie. Die Forschung gibt es nicht her, dagegen zu sein – wenn man allen Kindern endlich dieselben Chancen geben will.

Wird sich etwas tun? Im Herbst stehen Nationalratswahlen an? MOMENT.at hat alle im Nationalrat vertretenen Parteien um Stellungnahmen gebeten. Konkret wollten wir wissen, was die Stärken der jetzigen Volksschule sind, was für oder gegen eine gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen spreche – und gleich noch, was die nächste Regierung in Sachen Pflichtschule angehen sollte.

ÖVP und FPÖ sind traditionell Gegnerinnen der Gesamtschule und halten an der Trennung nach der Volksschule fest. Rudolf Taschner (ÖVP) bevorzugt “aus pragmatischen Gründen in Österreich das gegliederte System”. Der Übergang von der Volksschule zur weiterführenden Schule solle aber “nicht eine scharfe Schnittstelle, sondern mit Beratung und Erprobung zeitlich gedehnt gestaltet” werden. Ähnlich klingt es aus der FPÖ. Sprecher Hermann Brückl sieht eine gemeinsame Schule bis 14 Jahre “aus derzeitiger Sicht nicht denkbar” und plädiert für eine “bessere Verschränkung der Schulformen”, sodass ein Wechsel “in beide Richtungen ohne Lernverluste einfach und jederzeit möglich ist”. Die Ideen klingen gelinde gesagt vage.

Dreieinhalb Parteien für Gesamtschule

Klare Unterstützung für eine Modernisierung des Bildungssystems in Richtung einer gemeinsamen Schule bis 14 kommt seit langem sowohl von SPÖ als auch Grünen – etwas verhaltener auch von den Neos.

Sibylle Hamann (Grüne) nennt “soziale Durchmischung” und “Inklusion von Kindern mit Behinderungen” als Gründe für diese Veränderung. Das gemeinsame Lernen, aber auch “jahrgangsgemischte Klassen” seien hilfreich bei diesen Fragen. Die aktuelle Trennung der Schüler in unterschiedliche Schultypen sei hingegen “unfair, erzeugt Stress und Frustration, vergeudet Ressourcen und spaltet die Gesellschaft”.

Petra Tanzler (SPÖ) sieht, dass durch den gemeinsamen Unterricht auch die Vielfalt als “Bereicherung unserer Gesellschaft erfahren und gestärkt werden“ kann. Die Trennung im aktuellen System mache Bildung sei „zumeist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern“ und somit „weder chancen- noch sozialgerecht“.

Martina Künsberg Sarre (NEOS) sieht eine gemeinsame Schule zwar nicht als „Allheilmittel“, aber als einen „wertvollen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit“ – nur eine “Einheitsschule” solle es nicht sein.

Zwei Parteien sind derzeit nicht im Nationalrat, aber nach der Wahl im Herbst vielleicht schon. Eine davon ist die KPÖ. Sie hat sich in der Vergangenheit ebenfalls immer wieder für die Gesamtschule ausgesprochen. Die Haltung der Bierpartei ist unterdessen nicht bekannt.

Aber: Ohne Geld geht auch nicht alles

In einer Sache sind sich hier alle erwähnten, von Direktorin über Wissenschaft bis Politik, immer einig: Es braucht Geld für die Bildung. Man wundert sich fast, dass das Bildungsbudget bei all der Einigkeit nicht regelrecht explodiert. Ohne die nötigen Lehrpersonen und finanziellen Mittel würde auch die gemeinsame Mittelschule an vielen Problemen der Schule freilich  nichts ändern.

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    Kommentare 3 Kommentare
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  • Angie Weikmann
    18.05.2024
    Deswegen gemeinsam mit über 30 Initiativen am 6.6.2024 zum Aktionstag Bildung kommen! Wir sind laut für eine gemeinsame, inklusive Bildung der 3- bis 15-Jährigen und bessere Arbeits- und Lernbedingungen in der Bildung.
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  • Manfred Wasner
    15.05.2024
    Ich denke, fast alle in der Bevölkerung wissen seit je, dass die Gesamtschule den bestehenden Vorrang der Kinder gutbürgerlichen Familien vor anderen Kindern schmälert. Wer sich für also für ausreichend gutbürgerlich hält und die materiellen Interessen der eigenen Familie ohne Rücksicht auf andere vertreten will, weiß und wusste immer schon, wen wählen, um die Gesamtschule zu verhindern, - deren gesellschaftlicher Nutzen und deren Beitrag zur gesellschaftlichen Gerechtigkeit weder bezweifelt werden kann, noch tatsächlich bezweifelt wird.
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  • frizzdog
    15.05.2024
    (STANDARD): "Der "Herr Professor Karl" der Universität Wien im Jahr 1931: Richard Meisters Karriere war auch durch die drei Regimewechsel 1934, 1938 und 1945 nicht aufzuhalten. Sein Einfluss wirkt bis heute nach, vor allem in der immer noch geltenden ÖVP-Ablehnung einer gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Er trat als Vertreter der Lateinlehrer ab 1923 bis nach 1945 vehement für die Beibehaltung des achtklassigen humanistischen Gymnasiums ein - und wurde damit zum wichtigsten Gegenspieler des sozialistischen Bildungspolitikers Otto Glöckel und dessen geplanter "Einheitsschule" der Zehn- bis 14-Jährigen.". Erhielt 1942 von Adolf Hitler das goldene Treuedienstehrenzeichen.
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