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Demokratie
Ungleichheit

Nehammers Video war „nicht für die Öffentlichkeit gedacht“ – hört gerade deshalb genau hin

Minister Martin Kocher reitet aus, um das skandalöse McDonalds-Video von Karl Nehammer zu rechtfertigen. Die verhöhnenden Aussagen des ÖVP-Kanzlers seien "nicht für die Öffentlichkeit gedacht". Und deshalb sind sie okay? Nein. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade sie zeigen, wie Karl Nehammer wirklich tickt. Die Öffentlichkeit sollte besonders hellhörig sein.

Das Skandal-Video von Karl Nehammer schlägt hohe Wellen: Er verhöhnt darin wenig verdienende Menschen, deren Kinder in Armut leben müssen. Haushalte mit so wenig Geld, dass es nicht für eine warme Mahlzeit am Tag reicht. Die Lösung in der Welt des Karl Nehammer: Sie könnten stattdessen einen Hamburger bei McDonalds essen. Was Österreichs Bundeskanzler im kleinen Kreis vor ÖVP-Parteikolleg:innen in Hallein sagte, macht wütend – und lässt tief blicken.

Mehr dazu siehst du auch hier:

 

Nun reiten ÖVP und Regierungsmitglieder aus, um zu beschwichtigen, umzudeuten und den Kanzler vom Täter zum Opfer zu machen. Der parteilose, aber auf ÖVP-Ticket fahrende, Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher sagte in der Pressestunde des ORF am Sonntag: Nehammers Aussagen seien in einem „spezifischen Kontext“ gefallen, „der nicht für die Öffentlichkeit gedacht war“. Kochers mindestens eigenwillige, wenn nicht freche Rechtfertigung lautet also: Nehammer habe die Betroffenen von Kinderarmut ja nur im kleinen Kreis verhöhnt. Also alles nicht so schlimm?

Wo Politiker:innen nicht ihre eintrainierten Stehsätze wiederkäuen, erfahren wir am meisten von ihnen.

Im Gegenteil: Es ist schlimm, gerade weil Nehammer sich nicht in der Öffentlichkeit äußerte und er sich auf sicherem Boden wähnte. Die Momente sind authentisch, sie sind ehrlich, sie offenbaren, wie der Kanzler wirklich denkt. Und zwar dann, wenn die Kameras und Mikrofone ausgeschaltet sind und er sich unter Seinesgleichen wähnt. Der Auftritt in Hallein war einer der seltenen Momente, in der er frei von der Leber weg das sagt, was ihm sonst jede:r PR-Berater:in aus dem Manuskript streichen würde – und davon gibt es bekanntlich viele bei der ÖVP und im Kanzleramt.

Wo Politiker:innen mal nicht ihre eintrainierten, geschliffenen und dabei oft nichtssagenden Stehsätze wiederkäuen, erfahren wir am meisten von ihnen. Wenn darin etwas nicht stimmig ist, muss die Öffentlichkeit besonders hellhörig sein.

Nehammer im Video: Das ist wohl der wahre Nehammer

Karl Nehammer in Hallein, so ist zu vermuten: Das ist der wahre Karl Nehammer. Der, der zeigt, mit welchem Gedankengut er Politik macht. Ein Kanzler, der keine Armut sieht, sondern Familien mit wenig Geld empfiehlt, zu McDonalds zu gehen und ihren Kindern einen Hamburger zu kaufen. Ein Hamburger um 1,40 Euro, das könne sich ja wohl jede:r leisten – und das muss reichen als Mahlzeit. Nehammer geht im Video auch auf die Gewerkschaften los, die angesichts der Teuerung höhere Löhne fordern. Und die Sozialpartnerschaft? Die hätte er wohl am liebsten abgeschafft. Aber leider, es fehlt an der Zwei-Drittel-Mehrheit dafür.

Wem die Demokratie in Österreich ein Anliegen ist und für wen soziale Gerechtigkeit schützenswert ist, muss Alarm schlagen. Auch angesichts von Kochers Aussagen im ORF-Studio. Er – und seine PR-Berater:innen – hatten mehrere Tage Zeit, sich zu überlegen, was er denn auf die vorsehbaren Fragen zum Nehammer-Video sagt. Heraus kam: „Es ist ein Unterschied, ob man im Parlament eine Rede hält oder im kleinen Kreis etwas sagt“, so Kocher.

Es ist eine dreiste Rechtfertigung. Sie klingt wie: Politik, die hinter verschlossenen Türen stattfindet und Sprüche, die im vermeintlich privaten Rahmen fallen, sind in Ordnung. Aber wehe, sie werden bekannt. Dann sind seltsamerweise nicht diejenigen schuld, aus deren Mund und Schreibfinger die verheerenden Aussagen, Pläne und Gedanken kommen – sondern die, die sie ans Licht zerren. Kocher sagt dazu: „Das ist eines der Probleme unserer Politik: Das Dinge an die Öffentlichkeit gebracht werden, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren.“ Klarer kann er seine befremdliche Haltung nicht ausdrücken.

Die Öffentlichkeit sollte Politiker:innen, die so reden und handeln, nicht damit durchkommen lassen.

Sie erinnert unangenehm daran, wie FPÖ und ÖVP das Ibiza-Video kleinredeten und den Urheber der Aufnahmen als Täter darzustellen versuchten. Kochers Interview erinnert daran, wie die Clique um Ex-Kanzler Sebastian Kurz und die ÖVP die skandalösen Schmid-Chats rechtfertigen – Stichwort Sebastian Kurz an Thomas Schmid: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“ Auch Kurz‘ Nachfolger Nehammer gibt sich weniger als Täter, denn als Opfer. Opfer einer unbewiesenen Kampagne politischer Gegner:innen. Und Opfer deswegen, weil das McDonalds-Video aus Hallein geschnitten worden ist. Dabei zeichnet die Langversion seines Auftritts im Grunde noch ein viel verheerendes Bild vom Menschen Karl Nehammer.

Die Öffentlichkeit sollte Politiker:innen, die so reden und handeln, nicht damit durchkommen lassen. Die Wähler:innen sollten sie nicht weniger, sondern besonders daran messen, was sie im vermeintlich geschützten Rahmen einer Parteiveranstaltung, eines feucht-fröhlichen Abends in einer Finca oder in Whatsapp-Chats von sich geben. Es kann sein, dass dort mehr Wahrheit ans Licht kommt als in hundertfach wiederholten Pressekonferenzen und TV-Interviews.

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