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Ungleichheit

Olivier David: "Wer arm ist, kann sich oft nicht um die Psyche kümmern"

Olivier David: "Wer arm ist, kann sich oft nicht um die Psyche kümmern"

Wie das ist, wenn Armut psychisch krank macht, schildert Olivier David in seinem Buch "Keine Aufstiegsgeschichte". Armut und Gewalt in der Familie haben ihn traumatisiert. Das Versprechen vom sozialen Aufstieg für alle, die sich nur genug anstrengen, ist für ihn ein Mythos.

 

Wie das ist, wenn Armut psychisch krank macht, schildert Olivier David ganz direkt. Er ist in einer armen Familie aufgewachsen, in der Gewalt herrschte. Die Armut traumatisierte ihn. Erst nach Jahrzehnten startete der gebürtige Hamburger eine Therapie. Er hat nun ein Buch darüber geschrieben: Keine Aufstiegsgeschichte. Das Versprechen vom sozialen Aufstieg für alle, die sich nur genug anstrengen, ist für David ein Mythos. Im MOMENT-Interview erklärt er, wie unsere Gesellschaft arme Menschen ausschließt und was das mit ihm gemacht hat.

 

MOMENT: Sie beschreiben in Ihrem Buch anhand Ihrer eigenen Geschichte, wie Armut psychisch krank macht. Und Sie zeigen auf, wie das die Lebenschancen verringert. Wie läuft das ab?
 
Olivier David: Nicht für jeden Menschen bedeutet Armut gleich psychische Erkrankung. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist größer, wenn man arm ist. Ein Mechanismus dabei ist, dass viel Druck auf dem Leben armer Menschen lastet. Immer fehlt irgendwo das Geld, und das, weil wir uns als Gesellschaft dafür entschieden haben, Geld systematisch nach oben zu verteilen.  Dieses andauernde prekäre Leben sorgt für eine Flut an negativen Reizen. Meine Mutter war ständig am Gucken, wie sie über den Monat kommt. Das strahlt auf die Familie aus.

Du nimmst die Außenwelt als Bedrohung und nicht als Unterstützung wahr. Ich vermute: Arme Menschen glauben häufiger, dass andere Leute ihnen nichts Gutes wollen. So ist es bei mir, meiner Familie und bei Teilen meines Umfelds. Als meine Mutter Geld vom Amt bekam und immer wieder vorgeladen wurde, wußte sie: Sie geht da nicht hin, um ein bisschen zu tratschen. Sondern sie hat gleich tausend Probleme im Kopf und sorgt sich: Wenn die uns jetzt davon noch etwas wegnehmen, wie kommen wir dann durch den Montag?
 

MOMENT: Es heißt: Jede:r kann aufsteigen, muss sich dafür nur genug anstrengen. Sie widersprechen dem und sagen: Überhaupt nicht jede:r kann aufsteigen, egal wie groß die Anstrengung ist. Wie kommen Sie darauf?
 
David: Schon die Zahlen sagen es ja: Die Chance aus der Unterklasse in die Mittelschicht aufzusteigen sinkt in Deutschland seit Jahren. Gleichzeitig schrumpft die Mittelschicht. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat in seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ die Frage aufgeworfen, ob wir vielleicht deshalb so viel über Aufstieg sprechen, weil er in der Realität immer seltener anzutreffen ist? Das kann ich teilen. In meinem Buch schaue ich mir an, welche Mechanismen dahinterstecken.
 

MOMENT: Sie beschreiben, wie Sie eine Therapie beginnen. Die startet mit unter anderem der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung – etwas, das man von Menschen kennt, die im Krieg waren. Inwieweit ist dein Aufwachsen in Armut und gewalttätigen Familienbeziehungen damit vergleichbar?
 
David: Ich schildere im Buch, wie ich in einem Theater sitze und mich die gespielte Szene zu sehr an eine Situation als Kind erinnert: Ich höre, wie meine Eltern streiten, mein Vater meine Mutter schlägt und Sachen umfallen. Ich sehe das nur schemenhaft durch eine Milchglasscheibe und ich mische mich nicht ein. Ich habe das mit meinem damaligen Therapeuten besprochen, der gesagt hat: Wenn man in seiner Kindheit Gewalt mitbekommt, könne ein Kind schwer begreifen, dass es dabei nicht um Leben und Tod geht. Und das kann traumatisieren.
 

MOMENT: Was herauszulesen ist aus Ihrer Geschichte: Wie Armut und psychische Probleme über Generationen weitergegeben werden. Was hätten Sie sich in ihrer Jugend gewünscht, damit das durchbrochen wird?
 
David: Hätte meine Mutter sich nicht nur über Wasser halten müssen, wäre sie möglicherweise 15 Jahre früher darauf gekommen, dass sie Hilfe braucht. Das erlebe ich auch in meinem Bekanntenkreis: Da sind viele, die keine Ressourcen haben, ihre psychischen Probleme anzugehen, weil ihr Leben beschwerlich genug ist. Sie haben genug zu tun, um ihren Alltag zu schaffen und über die Runden zu kommen.

Meine Mutter hat zwei bis dreimal die Woche für ein paar Stunden noch zusätzlich schwarz gearbeitet, um neben dem Arbeitslosengeld ein bisschen aufzustocken. Das ist auch Stress. Wenn du zwei Kinder hast, alleinerziehend bist, der Vater keinen Unterhalt zahlt und du selber psychische Probleme hast, dann ist das alles sehr beschwerlich. Wenn es eine Grundsicherung gegeben hätte, die für mehr als nur für das Allernötigste gereicht hätte, wäre schon ein erheblicher Ballast von unseren Schultern genommen worden.
 

MOMENT: Wie hätte Hilfe aussehen können, abseits von materieller Sicherung?
 
David: Sozialarbeiter:innen sagen, Hilfsangebote können gar nicht niedrigschwellig genug sein. Möglicherweise reicht es nicht, dass man weiß, es gibt 700 Meter entfernt ein Jugendzentrum, das eine Hausaufgabenhilfe anbietet. Um es mal bildlich zu sagen: Hätte ein Sozialarbeiter an unserer Tür geklingelt und gesagt: Moin, habt ihr als Familie Probleme, bei denen wir euch helfen können? Braucht ihr Sohn vielleicht Unterstützung bei den Hausaufgaben? Dann hätte meine Mutter möglicherweise nicht Nein gesagt. Solche Angebote brauchen Leute, die nicht nur prekär leben, sondern eine so geringe Selbstwirksamkeit erfahren haben, dass sie sich kaum Sachen zutrauen. Also in Kontakt mit anderen zu treten, selbstbewusst Hilfe einzufordern. Es gibt schon viele Hilfsangebote. Aber die müssen niedrigschwelliger sein.
 

MOMENT: Sie erwähnen im Buch, dass Beschreibungen von Generationen wie den Millennials oder der Generation Y und so weiter vor allem von bürgerlichen Menschen für bürgerliche gemacht würden. Das Prekariat bliebe da außen vor. Die hätten nämlich andere Probleme. Was macht das mit den Nicht-Vertretenen?
 
David: Der Ausschluss beginnt schon davor. Arm zu sein ist ja schon ein Ausschluss an sich. Armen Menschen werden Ressourcen vorenthalten, ebenso Gesundheitsleistungen. Arme Menschen haben schlechteren Zugang zu Therapieplätzen. Der zweite Ausschluss, ist der kulturelle. Wenn du in Medien, Literatur, Musik, der Filmindustrie eine Hochkultur definierst, machst du das in Abgrenzung zu anderen Klassen und zu einer Populärkultur zum Beispiel.

Da kann man von Klassismus sprechen. Meine Kultur ist besser als deine Kultur, wird da durch die Blume formuliert. Der dritte Ausschluss ist der eigene Ausschluss: Wer ausgegrenzt wird, will möglicherweise eine solche schmerzhafte Erfahrung in Zukunft nicht mehr machen und tritt dann freiwillig gar nicht mehr in Kontakt zur Gesellschaft. Man denkt: Die wollen mich nicht und ich kann es mir eh nicht leisten. Da werden in Feuilletons oft Diskussionen geführt, die mit den Leben vieler nichts zu tun haben.

MOMENT: Als junger Erwachsener haben Sie die Nachmittage mit Kiffen und Saufen verbracht. Man hört da die Kritik anderer schon in den Ohren klingeln: Es hat Sie ja niemand gezwungen, das zu machen. Was entgegnen Sie da?

David: Wenn die Frage lautet, muss man kiffen und saufen, weil man arm ist, dann lautet meine Antwort: Nein! Wenn die Fragen aber sind: Was macht es mit Leuten, wenn sie von einer Gesellschaft nicht gewollt werden? Was macht es mit jungen Erwachsenen, wenn sie Ohnmacht und Ausgrenzung erfahren? Das macht einige – und damit spreche ich vor allem von jungen Männern – aggressiv. Um das zu verarbeiten, hilft es, sich zu betäuben. Ich habe damit versucht, die Löcher zu stopfen, die meine Sozialisation hinterlassen hat. Aber natürlich musst du nicht saufen und nicht kiffen. Ich kenne einige Leute, die völlig clean bleiben. Aber es ist nicht völlig absurd, dass Leute wie ich eine Flucht suchen.

MOMENT: Sie fordern, dass man Armut in Deutschland abschaffen soll. Aber geht das überhaupt im derzeitigen Wirtschaftssystem? Das ist ja auch dadurch definiert: Es gibt ein Oben und ein Unten.

David: Die Antwort ist nein. Ich glaube, es geht nicht! Es ergibt derzeit nicht viel Sinn, über alternative Gesellschaftsformen zu sprechen, weil der Raum dafür nicht da ist. Aber ich halte es für überhaupt nicht radikal, darüber zu sprechen, wie man bestimmte Bereiche des Lebens, die wirklich jeden Menschen betreffen, vor Eingriffen des freien Marktes schützen kann. Das ist für mich Wohnen, die Preise für die Grundversorgung, die Kosten von Energie.

Ein Sozialstaat, dem alle seine Bürger:innen wichtig sind, muss sagen: Wir nehmen bestimmte Bereiche aus dem freien Markt heraus. Wir schützen unsere Bürger:innen davor, dass die eigene Wohnung 10 Prozent teurer wird, aber die Löhne nicht genauso steigen. Ich glaube nicht an eine baldige Revolution, ich glaube daran, dass man eine Gesellschaft sukzessive in die richtige Richtung stupsen muss. Und da versuche ich schreibend, meinen Teil beizutragen.

 

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