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Demokratie

Paul Lendvai über Ungarn: "Orbán nützt die Krise kaltblütig aus"

Mit dem Notstandsgesetz hat Viktor Orbán Ungarn mitten in der Corona-Krise noch näher an den Rand der Diktatur gebracht. Er baue jetzt für die absehbare Zeit vor, wenn die Zustimmung in der Bevölkerung zu seinem Regime bröckelt, sagt Paul Lendvai, einer der renommiertesten Beobachter von Orbáns Politik. "Dann würde die Gruppe um Orbán offen diktatorische Maßnahmen anwenden."
Ungarns Ministerpräsident sei „der Spaltpilz der EU“. Diese müsse durchgreifen und Förderungen für Ungarn auch mal aussetzen. „Sie würde damit von einem Papiertiger zu einer handelnden Person werden.“ Über Sebastian Kurz‘ Schweigen zu den Entwicklungen in Ungarn ist Lendvai „nicht glücklich“. Die neutrale oder distanzierte Haltung könne Kurz „à la longue nicht einhalten“, sagt der in Ungarn geborene ORF-Journalist und Autor zahlreicher Bücher über Ungarn, Orbán und Osteuropa.

MOMENT: Viktor Orbán hat mit einem Notstandsgesetz im Zuge der Coronavirus-Pandemie das Regieren per Dekret ermöglicht. Was bedeutet das für Ungarns Demokratie?

Paul Lendvai: Diese Demokratie war schon vorher ramponiert. Es war keine Diktatur à la Russland oder Weißrussland, sondern eine verschleierte autokratische Ordnung: halb Demokratie, halb Autokratie. Schon vorher war die Justiz weitgehend auf Linie gebracht. Die wichtigsten Änderungen in der Verfassung wurden in den vergangenen zehn Jahren bereits durchgeführt. Daher kam dieses Notstandsgesetz eigentlich überraschend.

MOMENT: Was bezwecken Orbán und seine Fidesz-Partei damit?

Lendvai: Sein Ziel ist es wohl vorzubauen, falls eine wirtschaftliche Krise kommt. Fidesz hat zudem Schlussfolgerungen daraus gezogen, dass sie in Budapest und anderen wichtigen Städten bei den Kommunalwahlen im Oktober 2019 verloren hat. Dort sind Oppositionelle Bürgermeister geworden. Mit dem Notstandsgesetz kann die Regierung die lokalen Verwaltungen unter Druck setzen. Und er zeigt damit, dass für ihn die Opposition bei der Bekämpfung der Corona-Krise nur stört und sie sabotiert.

MOMENT: Budapests neuer Bürgermeister Gergely Karácsony wurde in der Corona-Krise von Orbán scharf angegriffen. Budapest und andere Städte müssen ihre Steuereinnahmen in einen staatlichen Notfallfonds überweisen. Nutzt Orbán die Krise, um die Opposition zu schwächen?

Lendvai: Natürlich! Er nützt bewusst und kaltblütig die Krise aus. Er will die Opposition mit allen Mitteln in den urbanen Zentren schwächen und sie unter Druck setzen. Wenn in Spitälern und Altenheimen chaotische Zustände herrschen, dann ist die neue Stadtverwaltung schuld daran – obwohl vorher acht Jahre lang eine Fidesz-Stadtverwaltung die Weichen gestellt hat.

Wenn alle Stricke reißen, dann würde die Gruppe um Orbán offen diktatorische Maßnahmen anwenden.

MOMENT: Wie weit kann Orbán mit dem Notstandsgesetz gehen?

Lendvai: Nachdem das Notstandsgesetz beschlossen war, wurden Militärs und Offiziere in 140 sogenannte strategisch wichtige Firmen geschickt und sogar in die Spitäler. Bei Orbáns bisher letzter Rede war zum ersten Mal das Militär stark anwesend. Ich habe keine Zweifel: Wenn alle Stricke reißen, dann würde diese Regierung oder die Gruppe um Orbán offen diktatorische Maßnahmen anwenden. Das ist in der Reserve. Orbán hat bisher die Instrumente des Notstandsgesetzes nicht eingesetzt. So könnten jetzt Kritiker von ihm wegen „Fake News“ zu bis zu fünf Jahren Haft verurteilt werden.

MOMENT: Das Notstandsgesetz könnte also ein Vorgriff Orbans auf die Zeit sein, wenn die Krise durchschlägt und der Wiederstand gegen ihn doch wächst?

Lendvai: Das ist möglich. Es ist eine potenziell gefährliche Situation, auch wenn es verschleiert wird. Dafür ist das Notstandsgesetz da. Das ist ein Sicherheitsventil. Orbán ist vorbereitet.

MOMENT: Sie haben nach Beschluss des Gesetzes Anfang April gesagt, Orbán habe gewusst, dass keine Gefahr für seine Pläne drohe. Warum kann er sich so sicher sein, dass er gefahrlos die Demokratie demontieren kann?

Lendvai: Er sieht genau, wie die Kräfteverhältnisse im Land sind. Es kam bisher zu keinen großen Demonstrationen. Die Opposition ist gespalten, dazu ist ein Teil der Sozialisten von Fidesz untergraben und korrumpiert. Würde die Opposition in den 106 Wahlkreisen gemeinsame Kandidaten aufstellen, würde die Fidesz verlieren. Aber ich warne davor, die Bedeutung der Wahlen zu überschätzen. Fidesz hat von der Justiz bis zur Budgetkontrolle so viele Machtpositionen auf Jahre hinaus besetzt, dass es für eine andere Regierung schwer werden wird zu amtieren.

Die Korruption ist irrsinnig groß. Ungarn ist ein nur teilweise freies Land.

MOMENT: Orbán fördert massiv treue Günstlinge, selbst die Nationalbank war in einem Korruptionsskandal verwickelt. Das Ausmaß der Korruption im Land scheint riesig?

Lendvai: Es ist irrsinnig groß. Ungarn ist heute das zweitkorrupteste Land in der EU nach Bulgarien. Es ist immer weiter nach unten gerutscht, was eine saubere Verwaltung angeht. Ungarn ist ein nur teilweise freies Land. Die Korruption ist geschickt verschleiert. Es gibt Freunde, Verwandte und Partner von Orbán, die sich alle abschirmen. Das ist eine Kleptokratie.

Hier hat eine Gruppe die Macht erobert, sie ausgebaut und sich bereichert. Der oberste Staatsanwalt ist auch ein Freund Orbáns. Verfahren wie das gegen seinen Schwiegersohn wurden eingestellt. Die Wahlen beeinflusst das nicht. Weil Orbán und seine Partner die Macht über die Medien haben, weiß die große Masse der Bevölkerung darüber konkret nicht viel.

MOMENT: Wie stark kontrolliert Orbáns Regierung die Medien?

Lendvai: Hunderte Millionen Euro werden für die Medien aufgewendet. Es gibt mit Klubrádió nur einen kleinen oppositionellen Radiosender in Budapest. Es gibt kleine Zeitungen mit kleinen Auflagen, es gibt ein paar Kultur- und Wochenzeitungen. Aber die größten Zeitungen des Landes und die wichtigen regionalen Zeitungen sind in Händen eines riesigen Konzerns mit Hunderten Medien, der von Fidesz kontrolliert wird.

Die einzige Ausnahme ist der TV-Sender RTL, der objektive Nachrichten sendet, aber relativ wenig und relativ spät. Inzwischen werden auch elektronische und Online-Medien von Fidesz-Freunden und Oligarchen übernommen. Das ergibt eine totale Medienmacht. 80 bis 90 Prozent der Menschen werden nur durch die Regierungsmedien oder von Fidesz mittelbar kontrollierten Medien informiert. Die Medienlandschaft ist heute sehr besorgniserregend in Ungarn.

Von der Leyens Erklärung war entenlahm. Orbán hat die Schwäche der EU richtig eingeschätzt.

MOMENT: Die EU-Kommission und EU-Parlamentarier kritisierten das Notstandsgesetz scharf, passiert ist aber nichts. Konnte Orbán auch damit rechnen?

Lendvai: Orbán weiß, wie schwach die Front gegen ihn in der europäischen Volkspartei (EVP) ist. Er hat mit Polen einen fixen Verbündeten in der EU, das ist eine Art Achse. Er wird sicherlich jeden Schritt der EU blockieren, die sogenannte Atomwaffe gegen Polen einzusetzen, also dem Land die Stimme zu entziehen. Denn dabei müssten alle Mitglieder zustimmen. Umgekehrt unterstützt Polen ihn. Was EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesagt hat, ist eine entenlahme Erklärung. Orbán hat den Opportunismus und die Schwäche der Union und der EVP richtig eingeschätzt.

MOMENT: Untersuchungen zeigen, dass Ungarns Wirtschaft ohne die EU-Gelder gar nicht mehr wachsen würde. Es ist gegenüber anderen neuen EU-Mitgliedsländern wie der Slowakei oder Polen im Hintertreffen. Wächst dadurch die Unzufriedenheit mit Fidesz?

Lendvai: Die Zahlen, dass die Slowaken und Polen besser gewirtschaftet haben, interessieren die Leute hier nicht. Aber schon, dass eine bescheidene Prosperität nur deshalb herrscht, weil drei und in manchen Jahren fünf Prozent des BIP durch die Transfers aus Brüssel finanziert werden. Ohne diese Transfers wäre es sehr schwierig, die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Jetzt kommt die Coronavirus-Krise, die Wirtschaft könnte zusammenbrechen. Zum Teil passiert das schon, auch wenn man versucht es zu beschönigen. Es ist klar, dass die wirtschaftlichen Probleme früher oder später die Stimmung drücken werden. Das könnte auch ein Grund für das Notstandsgesetz sein. Wie gesagt: Das Militär ist in den Spitälern.

MOMENT: Österreichs Vizekanzler Werner Kogler sagte, es sei nicht einzusehen, einer Semidiktatur Geld demokratischer Staaten zukommen zu lassen. Sollte die EU die Transfers aussetzen?

Lendvai: Es gibt zwei Seiten: Die eine sagt, das wird die ungarische Regierung ausnützen, um die Bevölkerung gegen den Westen aufzuhetzen, dass sie uns im Stich lassen. Aber andererseits ist es ein Druckmittel. Aber dazu braucht es harte Maßnahmen und gemeinsame Beschlüsse. Die letzten Erklärungen der EU weisen nicht darauf hin, dass sich die Orbán-Regierung vor radikalen Maßnahmen fürchten muss. Es ist eigentlich einmalig in der Geschichte, dass eine Regierung gefördert wird und viel Geld bekommt, die zugleich die Institution angreift und unter Druck setzt, die ihnen das Geld gibt.

MOMENT: Noch einmal und aus Ihrer Sicht: Braucht es diesen Schritt?

Lendvai: Das Wichtigste ist, in allen Ländern zu kontrollieren, wie die Gelder verteilt werden, in Ungarn, aber auch in Polen und Bulgarien. Die EU hätte das Recht und die Möglichkeit, dann auch Maßnahmen zu setzen. Das gibt es aber nicht. Die EU würde damit von einem Papiertiger zu einer handelnden Person werden. Denn dann kann man gewisse Summen oder Teile der Transferzahlungen einfrieren oder suspendieren.

Sebstian Kurz kann diese neutrale oder distanzierte Haltung à la longue nicht einhalten.

MOMENT: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz äußerte sich nicht zu Orbáns Notstandsgesetz. Er konzentriere sich jetzt auf die Coronavirus-Krise, sagte er. Österreich schloss sich auch einer Protest-Erklärung von 16 EU-Ländern gegen Ungarn nicht an. Wie beurteilen Sie diesen Weg?

Lendvai: Dazu fällt mir nichts ein. Natürlich ist das eine gute Ausrede während der Corona-Krise. Kein Mensch kümmert sich heute in Wien, Berlin oder Brüssel darum, was in Budapest geschieht. Ich bin nicht glücklich darüber, aber man muss abwarten, ob dieser Kurs weiterverfolgt wird. Man darf nicht vergessen, dass die ungarische Regierungspartei und Orbán persönlich engste Beziehungen zu Herrn Strache und der FPÖ gehabt haben und auch mit Matteo Salvini und anderen extrem rechten Gruppen flirtet.

Ich glaube, dass man diese neutrale oder distanzierte Haltung à la longue nicht einhalten kann. Es wird darauf ankommen, wie sich die deutsche Schwesterpartei CDU/CSU und die deutsche Regierung hier entscheidet und im Herbst möglicherweise die Europäische Volkspartei. Was die Erklärung angeht: Ungarn hat das karikiert, indem es sich selbst dieser angeschlossen hat. Das zeigt mit welch kalter Verachtung sie all das betrachten.

MOMENT: Spaltet Orbán durch seinen Flirt mit den Rechten die EU?

Lendvai: Natürlich, Orbán ist ein Spaltpilz. Damit dient er auch jener Macht, die die EU und die westliche Demokratie und das Bündnis schwächen will. Objektiv betrachtet hilft das den russischen Interessen.

MOMENT: Orban wird immer wieder mit Russlands Wladimir Putin verglichen. Sie haben dem einmal widersprochen und sagten, Orbán sei cleverer als Putin?

Lendvai: Er ist geschickter. Aber es ist leichter in einem Staat mit 10 Millionen Einwohnern zu regieren als in einem mit 150 Millionen und der russischen Geschichte im Rücken. Orbán hat auch eine gute Beziehung mit Recep Tayyip Erdogan und mit China. Er ist ein zutiefst zynischer politischer Machtmensch.

MOMENT: Das Notstandsgesetz soll dem Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie dienen. Wie lautet dabei die Bilanz der Orbán-Regierung?

Lendvai: Von Wien aus ist es schwierig zu beurteilen. Aber wir haben Freunde und Verwandte in Ungarn. Es gibt sehr gute Ärzte in Ungarn. Aber man weiß, dass das Gesundheitssystem schon vor der Corona-Krise in sehr schlechtem Zustand war. Man hat mit brutalen Methoden versucht vorzubeugen. 36.000 Spitalsbetten wurden für Corona-Kranke reserviert. Dutzende alte und kranke Menschen wurden über Nacht rausgeschmissen, einige sind gestorben. Das alles schafft böses Blut gegen die Regierung. Aber wie gesagt, das Militär kontrolliert die Spitäler.

Allgemein glaubt man zurecht nicht, was die Regierung verlautbart und erklärt – und erst recht nicht in einer Krisensituation. Die Zahlen der Angesteckten und Toten kann man nicht so ernst nehmen wie in liberalen demokratischen Ländern. Aber man kann, wie in China und Russland gesehen, nicht alles unter den Teppich kehren oder verschweigen. Jedenfalls möchte ich jetzt nicht in Ungarn in einem Spital oder an Corona erkrankt sein.

Zur Person: Paul Lendvai (geboren 1929) ist Publizist und Moderator. Der gebürtige Ungar floh im Zuge des dortigen Aufstands und lebte ab 1957 in Wien. Er leitete von 1982 bis 1987 die Osteuropa-Redaktion des ORF. Er leitet heute dort die Sendung Europastudio und schreibt Kommentare für den STANDARD. Lendvai ist Autor zahlreicher Bücher über Ungarn, Viktor Orbán und Osteuropa. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die verspielte Welt“ im Ecowin-Verlag.

 

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