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Gesundheit
Arbeitswelt

Pflegeheime im Notstand: “Das System hat eine Aufbewahrungsstätte bis zum Tod daraus gemacht”

Österreichs Pflegeheime arbeiten am Limit. Die Bewohner:innen und die Mitarbeiter:innen leiden darunter. Sie berichten von unhaltbaren Zuständen. "Eine Katastrophe" nennt es eine Pflegerin. Gründe dafür: Spardruck, Personalmangel und Betreiber:innen, die mit Altenpflege vor allem Gewinn machen wollen. Was auf der Strecke bleibe: Würde und Respekt vor älteren Menschen.

Wenn Paula von ihrem Job im Pflegeheim erzählt, fangen ihre Augen an zu strahlen. „Den Patienten zu helfen, mit ihnen Schmäh zu führen und über ihre Geschichten zu sprechen, ich liebe das“, sagt sie. Paula ist Pflegerin aus vollem Herzen. Seit 1992 arbeitet sie in dem Beruf, hat vieles erlebt: Sie arbeitete in einem Spital, pflegte ältere Menschen in deren Zuhause und jetzt in Pflegeheimen. Erzählt sie darüber, wie es heute ist, in dem Job zu arbeiten, verfinstert sich ihr Blick: „Die ganze Pflege ist eine Katastrophe“, sagt sie im Gespräch mit MOMENT.at.

Der Skandal im SeneCura-Pflegeheim in Salzburg-Lehen deckte auf, wohin es führt, wenn Personalmangel und überforderte Mitarbeiter:innen auf kaputt gesparte Altenheime von Unternehmen treffen, die mit der Pflege vor allem eines wollen: Geld verdienen. Bewohner:innen des SeneCura-Heimes mussten unter teils unwürdigen Bedingungen leben. Patient:innen litten unter Flüssigkeitsmangel und offenen Wunden, weil sie zu lange im Bett liegen gelassen wurde.

Pflegeheime leisteten nur Notversorgung

In MOMENT.at berichtete ein ehemaliger Pfleger eines Salzburger Pflegeheim, dass Zustände wie bei SeneCura kein Einzelfall seien, sondern weit verbreitet. Was er miterleben musste, „ging gegen jede Form der Menschlichkeit“. Bei MOMENT.at meldeten sich weitere Pflege-Mitarbeiter:innen und Angehörige von Pflegeheim-Bewohner:innen. Paula war eine davon. Mit dem, was sie erzählt, ist sie nicht allein. Paula heißt nicht wirklich so. Keine der betroffenen Personen wollte mit ihrem wahren Namen genannt werden. Sie fürchten negative Konsequenzen vonseiten ihrer Arbeitgeber:innen und der Pflegedienstleitung.

Personalnot führe dazu, dass Pflegende nur „Notversorgung“ für die Bewohner:innen leisten könnten, berichtet Paula. „Schnell waschen, dann ankleiden und Essen geben, es geht nur das Notwendigste, individuelle Betreuung gibt es nicht“, sagt sie. Vor ein paar Tagen sprang sie in einem Pflegeheim ein. Zu zweit und mit zwei Hilfskräften mussten sie fünf Personen vom Stammpersonal ersetzen, die ausgefallen waren. „Das kann ich eigentlich nicht verantworten“, sagt Paula. „Da muss ich eigentlich gehen. Aber wer macht es dann?“, fragt sie und zuckt mit den Schultern.

Paula ist bei einer Personal-Leasing-Firma angestellt, im sogenannten Pooldienst. Sie arbeitet mal eine Woche hier, dann ein paar Tage dort. Nach dem kaum zu schaffenden Dienst neulich schickte sie ihrer Chefin eine SMS. Sie ruft die Nachricht auf und zeigt sie: „Der Dienst war eine Frechheit!“, schreibt sie darin. Es liest sich wie ein Hilferuf. Was sie besonders belastet: Die Arbeit am Limit geht auf Kosten der Qualität der Pflege älterer, hilfsbedürftiger Menschen. Schon an normalen Tagen betreue sie allein 10 Patient:innen. „Jeder Mensch braucht andere Aufmerksamkeit“, sagt die 61-Jährige, die im November in Pension gehen wird. Das zu leisten, sei über die Jahre immer schwieriger geworden.

Pflegerin: Bin mit jedem Tag mehr müde

Pflegeheime? „Das System hat eine Aufbewahrungsstätte bis zum Tod daraus gemacht“, schreibt Hanna an MOMENT.at. Sie schildert ihren Alltag und wie schlecht es ihren Patient:innen geht in eindrücklichen Worten. „Ich bin gesund und fit, fühle mich aber mit jedem Tag mehr müde.“ Aufstehen um 4:30 Uhr. Natürlich beginne sie früher mit dem Dienst als sie müsste, bereitet schonmal das Frühstück vor. Sonst ginge es sich nicht aus. Auch Paula sagt, sie sei meist schon vor eigentlichem Dienstantritt da. Bezahlt wird das nicht.

Während sich Hanna um eine Patientin kümmert, läutet es in drei anderen Zimmern. „Ich kann sie doch auf dem WC nicht allein lassen, die erste leise Panik kommt auf“, denkt sie sich dabei. Um 8:30 Uhr habe sie noch 9 Bewohner:innen zu versorgen, die frühstücken wollen, gewaschen, gepflegt und angezogen werden und die ihre Medikamente bekommen sollen. Bei einer Patientin fragt sie sich: „Ist sie einigermaßen sauber angezogen, so schmutzige Nägel, keine Zeit, vielleicht nach dem Mittagessen?“ Insgesamt müsse sie sich an diesem Vormittag um 15 Bewohner:innen kümmern.

Wer als Letztes drankommt? „Die zwei Bewohnerinnen, die im Bett bleiben müssen, mache ich zuletzt“, schreibt Hanna. Sie nehme sich eine halbe Stunde für das Frühstück, das sie ihnen verabreichen muss. „Ich versorge sie so gut, wie es mir allein möglich ist“, so Hanna. Den Bewohner:innen mit Pflegestufe 6, der zweithöchsten, haben eigentlich besonders hohen Pflegebedarf: mehr als 180 Stunden monatlich. „Aber wie viel Zeit bekommen sie tatsächlich, vielleicht zwei bis drei Stunden täglich?“ Das macht höchstens 90 Stunden im Monat, „und kassiert wird für die 180 Stunden“, schreibt Hanna. „Ich bin wütend, jeden Tag aufs Neue.“

Pfegefirmen rechneten nicht erbrachte Leistungen ab

Was Pflegeeinrichtungen an Leistungen abrechnen und was vom Personal tatsächlich geleistet wird – oder besser: geleistet werden kann – unterscheidet sich. Davon berichtet auch Paula: „Es gibt in der Liste der Leistungen den Punkt psychosoziales Gespräch, zehn Minuten sind dafür angesetzt.“ Das ginge sich schlicht nicht aus. „Aber ich muss das anklicken. Wenn ich es nicht mache, beschwert sich die Chefin, denn dann gibt’s kein Geld“, sagt sie. Auch eine Flüssigkeitsbilanz zu führen, also wie viel die Bewohner:innen wann trinken, ist eine Leistung, die Geld bringt. In der Praxis funktioniere das aber nicht.

Weil sie ständig überall sein müssten, könnten die Pfleger:innen gar nicht überblicken, wer wie viel zu sich nimmt. „Also wird die Bilanz nicht korrekt geführt. Ich glaube nicht, dass das jemand genau macht“, sagt Paula. Angeben müsse sie es trotzdem. Die Krankenkasse bezahle pro zu pflegender Person nur drei Windeln am Tag. „Wer alle zwei Stunden nass ist, braucht natürlich mehr“, sagt Paula. Folge: Sie ist neben ihrer Pflegearbeit noch damit beschäftigt, Windeln zu organisieren von Bewohner:innen, die sie vielleicht nicht brauchen. Wenn es schiefläuft, muss das Bett komplett abgezogen werden. Heißt: wieder mehr Arbeit. „Und das ist dann auch teurer als eine Windel“, sagt sie.

Nachtdienste seien besonders schlimm: „Da bin ich alleine für 34 Betten zuständig“, sagt Paula. Die Zahl ist nicht zufällig exakt so hoch. Denn ab 35 belegten Betten muss zwingend eine zweite Pflegeperson da sein. Die Kosten dafür wollen sich die Pflegeheimbetreiber:innen offensichtlich lieber ersparen. Also wird die Station bis zur Obergrenze belegt, aber auf keinen Fall darüber. Folge davon: „Wir müssen die Bewohner:innen dann schon um 18 Uhr ins Bett legen, anders geht es sich nicht aus“, sagt Paula. „Und natürlich beschweren sie sich dann.“

Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse? Kaum möglich

In der Schilderung ihres Alltags fragt Pflegerin Hanna: „Wo bleibt der Respekt, wo bleibt die Würde vor diesen Menschen?“ Eine Pflegemitarbeiterin aus Oberösterreich erzählt MOMENT.at, was die Pflegedienstleitung ihnen vor Kurzem aufgetragen hat: „Wir müssen die Bewohner:innen jetzt bereits ab 6 Uhr waschen. Aber um diese Zeit ist selten schon jemand wach.“ Die Personen müssten dann geweckt werden, um sie zu waschen. „Aus dem Bett wird dann geholt, wenn das Personal Zeit hat, ebenso beim Duschen und Baden“, sagt sie. Sie und ihre Kolleg:innen seien „nicht mehr imstande, auf die ganz menschlichen Besonderheiten Rücksicht zu nehmen.“

Als die Pflegerin sich wehrte, habe der neue Pflegedienstleiter ihr gedroht. „Das wird so gemacht“, habe er gesagt. Und wenn sie das nicht wolle, könne sie ja gehen. Die neue Dienstleitung mache immer mehr Druck auf die Pflegekräfte. „Viele Kollegen klagen über plötzlich auftretende Schlafstörungen, paranoide Ängste oder Übelkeit vor ihren Diensten.“ Eine Folge davon: „Unsere Motivation ist mittlerweile am Boden. Viele haben gekündigt“, sagt sie. Darunter seien auch viele langjährige Mitarbeiter:innen. Sie sagt: „Ich werfe die Flinte nicht ins Korn. Mein Herz hängt an meinen Bewohnern.“

Die Liebe für ihre Arbeit teilt sie mit Paula und der Pflegerin Hanna. „Ich mag meine Bewohner und meine Arbeit mit ihnen“, sagt Hanna und schildert schöne Momente ihres Alltags: „Ich streiche ihnen übers Haar, lache mit ihnen, ich tröste, ich beruhige, ich begleite.“ Doch was sie auch tun muss: sie vertrösten. „Ich sage, ich bin gleich da, obwohl ich weiß, es geht sich wieder nicht rechtzeitig aus, mit ihr auf Toilette zu sein. Ich übersehe und überhöre.“ Und wenn es ganz schlimm ist und eine Patientin kurz vor ihrem Tod leiden muss, weil sie keine palliative Schmerzbehandlung bekommt, „dann bete ich, dass sie bald sterben kann und erlöst ist von ihren unerträglichen Schmerzen. Ich könnte weinen.“

Arbeitest du in der Pflege oder hast dort gearbeitet? Welche Erfahrungen hast du mit den Arbeitsbedingungen und der Qualität der Pflege gemacht? Möchtest du, gern anonym und vertraulich, darüber mit uns sprechen? Dann schreib uns ein E-Mail an redaktion@moment.at

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