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Gesundheit

“Plötzlich bist du auf dich allein gestellt” Wenn Medikamente süchtig machen.

Ein Mann hält Tabletten in seiner Hand.
Andreas H. hat die Kontrolle verloren. In einem Wutanfall zerstört er den Lichtschalter. Seine 5-jährige Tochter beobachtet ihren Vater verwirrt. Ihr Papa ist doch eigentlich ein lieber Kerl. Was sie an dem Tag erfährt: Ihr Papa ist medikamentensüchtig und gerade nicht er selbst.

Der 42-jährige Andreas H. machte 2019 die schlimmste Phase seines Lebens durch. Er wird in kürzester Zeit von einem Beruhigungsmittel abhängig. Schon viele Jahre hatte er mit einer Angststörung und Depressionen zu kämpfen. Nach einer “guten Phase” verschlechterte sich sein Zustand zunehmend. Er sucht Hilfe bei seiner Hausärztin, die ihm das Medikament “Tavor” verschreibt – einen “Tranquilizer”. Es soll beruhigend wirken und Andreas mit seinen Angstzuständen helfen.

Und tatsächlich: schon eine kleine Dosis beruhigt ihn rasch. Seine Frau ist glücklich, sie merkt, dass es ihm schlagartig besser geht. Er kann wieder mit ihr und der kleinen Tochter ins Schwimmbad gehen. Er scheint wieder funktionsfähig. Was zu dem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Andreas nimmt ein paar Tabletten extra, um den Ausflug durchzustehen. 

Mehr als die empfohlene Menge macht medikamentensüchtig

Seine Ärztin und der Beipackzettel haben ihn gewarnt: Eine Tablette und das nur bei Bedarf. Und auf keinen Fall über einen längeren Zeitraum. Das Medikament hilft zwar schnell und effektiv, aber kann stark abhängig machen. Andreas weiß das. Doch es geht ihm schlecht und das einzige, was ihm zu helfen scheint: eine weitere Tablette.

Also greift Andreas zu. Statt einer werden es zunächst zwei, dann drei und dann sechs Tabletten am Tag – über Monate. Ein Symptom von Abhängigkeit ist die Toleranzentwicklung. Man braucht eine immer höhere Dosis für die gleiche Wirkung. Nimmt Andreas das Medikament nicht, treten die Angstzustände umso stärker ein, weil die Entzugssymptome dazukommen.

Je schlechter es ihm geht, desto mehr muss er nehmen – und je mehr er nimmt, umso schlechter geht es ihm. Ein Teufelskreis.

Wütend auf sich selbst

Andreas verdrängt den Gedanken, abhängig zu sein. Er weiß aber, dass er zu hoch dosiert, also versucht er weniger Tabletten zu nehmen. Plötzlich macht ihm extreme Erschöpfung zu schaffen, er fühlt sich wie erschlagen, seine Beine sind schwach. Er tut, was viele Menschen  bei Beschwerden tun und googelt.

Bei seiner Recherche stößt er auf ein Internet-Forum. Dort tauschen sich Leute aus, die selbst vom Angstlöser Tavor abhängig sind oder waren. Sie beschreiben genau jene Dinge, mit denen auch Andreas zu kämpfen hat: Massive Erschöpfung, Müdigkeit, Verschlechterung der Angstzustände und depressiver Gedanken, nervöses Zittern und Gummibeine. “Das hat mich beruhigt. Ich wusste endlich, woran ich bin. Und dass es auch andere gibt, die damit kämpfen und diesen Kampf gewonnen haben”, erzählt er.

Neben der Erleichterung macht sich eine weitere Emotion breit: Wut. Und zwar auf sich selbst. “Ich hab sie mir geholt, obwohl ich wusste, dass sie abhängig machen können. Ich bin mitschuldig. Wie konnte ich so blöd sein und mich in diese Lage bringen?” Niemand weiß vor der Einnahme, wie man auf Medikamente reagiert. Und niemand glaubt, dass man genau die Person ist, die abhängig wird.

Die Sucht beginnt aufzufallen

Andreas’ Hausärztin merkt nach geraumer Zeit, dass die Rezepte für das Beruhigungsmittel zu oft und über einen zu langen Zeitraum ausgestellt werden. “Nicht, dass sie abhängig werden,” ermahnt ihn die Ärztin. Zu dem Zeitpunkt ist Andreas schon seit Monaten medikamentensüchtig. “Sie hätte es mir gar nicht verschreiben sollen,” meint er. Für Angstpatient:innen muss es aber schnell gehen und Psychiatrie ist ein Mangelfach. Geht es einem schlecht, kann man nicht Monate auf einen Termin warten.

“Damit Patient:innen rasch geholfen wird, sind Hausärzt:innen eine gute Anlaufstelle. Solche Medikamente sollten aber niemals ohne Therapieplan verschrieben werden. Und keinesfalls länger als acht Wochen. Danach steigt das Risiko zur Abhängigkeit stark”, sagt Dr. Hans Haltmayer, Beauftragter für Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien und ärztlicher Leiter der Suchthilfe Wien. Für Andreas wurde es schon nach zwei Wochen bedenklich. Therapieplan hat er keinen bekommen. Ein entsprechender Therapieplan beinhaltet zum Beispiel auch Schlafhygiene, Entspannungstechniken und eine psychiatrische Abklärung. “Dafür müssten sich die Ärzte Zeit nehmen. Die stehen aber selbst unter Druck und haben keine oder wollen sich die Zeit auch nicht nehmen”, so Haltmayer.

Als Patient:in aktiv werden

Er sieht die Pflicht zum Bewusstsein bei den Ärzt:innen, empfiehlt aber das Thema Abhängigkeit aktiv anzusprechen. “Am besten sollte der Patient bei jedem Termin nachfragen: Wie lange darf ich das noch nehmen, ohne Gefahr zu laufen, abhängig zu werden?” Über Umwege kommt Andreas schließlich zu einem Suchtmediziner: Dieser erklärt ihm, dass das Absetzen bei ihm noch viel langsamer geschehen muss, als ihm ein anderer Psychiater empfohlen hat. Langer Atem und Mini-Schritte lautet die Devise.

Andreas solle sich in der Apotheke ganz kleine Dosen mischen und in Kapseln abfüllen lassen. Diese nimmt er dann über den Tag verteilt, um trotz der Entzugserscheinung möglichst gut über die Runden zu kommen. Und auf keinen Fall die Dosis erhöhen, sonst geht alles von vorne los. Zur Überbrückung bekommt er ein anderes Medikament, das ebenfalls beruhigt, aber nicht abhängig macht. “Ich wünschte, das hätte ich von Anfang an bekommen”, erzählt Andreas.

Entzug geschieht in Phasen

Seine Erholung verläuft wellenförmig: Es gibt Phasen und Fenster, da wird es besser und dann wieder schlechter. Hatte Andreas ein Hoch, machte er Pläne für sich und seine Familie. Ging es ihm schlecht, mussten sie wieder abgesagt werden. “Mit dem Entzug ist ein Schatten über mich gekommen. Ich wusste, es dauert, aber ich hatte oft das Gefühl, es nicht durchzustehen. Mir fehlte einfach die Kraft”. Doch Andreas stand es durch.

Rund vier Monate war er abhängig. Um es ganz rauszuschaffen, braucht er aber ein gutes Jahr. Andreas konnte auf die Unterstützung seiner Familie zählen, aber nur Betroffene wissen, was er wirklich durchgemacht hat. “Ich war auf mich allein gestellt. Die Unterstützung im Forum hat mich sehr bestärkt.”

Arzt Hans Haltmayer empfiehlt, sich in Spezialeinrichtungen Hilfe zu holen. Das geht auch anonym. Psychosozialer Dienst, Suchthilfe, Notfallnummern, Kriseninterventionszentren oder auch die Rettung können im Akutfall helfen. Es besteht auch die Möglichkeit zur stationären Behandlung.

Begleiten und aufklären

Andreas wünscht sich mehr Aufklärung. Es kann dauern, bis man die richtige medikamentöse Therapie findet. Man müsse genau über die Risiken aufgeklärt und im Falle der Abhängigkeit fachlich begleitet werden. Seine Learnings, die er an andere Betroffene weitergeben will: Nicht gleich auf alle Medikamente verzichten, sondern zuerst Schritt für Schritt jene absetzen, die süchtig machen. “Und holt euch Unterstützung von Gleichgesinnten. Fühlt man sich verstanden, sieht man eher das Licht am Ende des Tunnels.”

Seit zwei Jahren ist Andreas nun “clean” und nimmt nur noch eine geringe Dosis seines Antidepressivums zur Stabilität. Es geht ihm gut. Ob er einen Rückfall fürchtet? “Ich würde das einfach nie wieder nehmen. Im Notfall nehme ich ein Medikament, das nicht abhängig macht.”

Findest du dich in Andreas’ Geschichte wieder? Hier findest du einige Stellen, wo du dir Hilfe suchen kannst.

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