Brennpunkt Bildung: Kinder, was fehlt euch in der Schule?
4. Klasse Mittelschule in Wien. 20 Schüler:innen sitzen ein paar Wochen nach dem Beginn des neuen Schuljahres in ihrer Klasse und sie bekommen die Frage gestellt: Wie könnt ihr gut lernen? „Wir haben wirklich sehr viel Hausübung, haben kaum Zeit für andere Sachen“, sagt ein Mädchen. „Deutschübungen in der achten Stunde, da kann ich mich kaum konzentrieren“, stöhnt ihr Klassenkamerad. „Mathe, das brauchen wir nicht“, wirft ein anderer ein. Eine kurze Diskussion entsteht. Output: Ja, doch, einige Basics wollen die Kids lernen. „Du brauchst Prozentrechnung“, mahnt etwa einer ein. „Ich will eigentlich auch einmal lernen, wie man einen Vertrag liest“, sagt eine andere. „Eigentlich will ich Respekt“, erklärt ein anderer, „und die Inhalte mitgestalten.“
Die Jugendlichen wissen natürlich recht wenig über bildungspolitische Diskussionen oder den Streit um die gemeinsame Schule aller 10- bis 14-Jährigen. Aber sie haben schon ein feines Gespür dafür, dass es in Österreichs Schulen nicht mit ganz so rechten Dingen zugeht. Vielleicht wird sich am Schulsystem auch nach den nächsten und übernächsten Wahlen nichts ändern. Können diese losen Ideen wie spannendere Inhalte, mehr Mitbestimmung oder mehr Respekt im gegenwärtigen System überhaupt umgesetzt werden?
Keine Zeit
Hört man den Lehrer:innen zu, ist das eher schwierig. „Es gibt einfach zu viele Schüler:innen pro Klasse“, meint Daniela, „es gibt auch zu wenig Rückhalt von den Eltern, sie haben wenig Zeit. Dieser Stress geht dann auf die Kinder über.“ Ihre Kollegin Sabine ergänzt, dass es schlichtweg auch viel mehr Beratung, Sozialarbeit und Psychologie brauche. Woran das liegt? „Ich sage es einmal so: Vor 30 Jahren habe ich viele Kinder in der Mitte, im Durchschnitt gehabt“, illustriert Daniela, „da konnte man dann ein, zwei oder drei, die sehr gescheit waren, etwas anbieten. Und auch den zwei, drei, die sich etwas schwerer tun.“ Diese Mitte ist heutzutage viel kleiner, die Rucksäcke, die die Kinder mitbringen vielfältig.
Überspitzt formuliert sitzen in ein und derselben Klasse Buben und Mädchen, die später auf die Universität gehen werden, genauso wie jene, die vielleicht erst kurz in Österreich sind und deshalb kaum Lesen und Schreiben können. Und natürlich alles dazwischen, in verschiedensten Abstufungen. Doch nur an Migrationsbewegungen liegen die Probleme nicht, es zeigt nur, wie sehr die Leistungsniveaus heutzutage auseinander gehen. Daniela kann auf mehrere Jahrzehnte Erfahrung zurückblicken und sagt: „Beim Kopfrechnen war es vor vielen Jahren so, dass es bei der 8er-Reihe schwierig wurde. Heute stocken die Kinder teilweise bei drei mal vier.“
Respekt und Vertrauen
„In jedem Kind steckt etwas drinnen“, erzählt wiederum Sabine. Ein wichtiger Grundsatz. In ihrer Schule gibt es viele verschiedene Wettbewerbe und Veranstaltungen, von Technik über Musik bis Sport. „Da gewinnt dann einer eine Laufveranstaltung, der sich mit dem Lernen sonst sehr schwer tut“, sagt sie, „Er wird dann auf die große Bühne geholt und strahlt. Das ist super.“ Doch Sabine und Daniela kennen auch andere Zeiten.
„Das Standing der Lehrer:innen in der Gesellschaft ist halt auch nicht hoch“, klagt Daniela. Jede:r war in der Schule, alle wollen mitreden. Ein tiefes Verständnis, was die Lehrer:innen leisten, gibt es aber kaum in der Öffentlichkeit. Je jünger die Kinder sind, desto eher glaubt man, dass Pädagogik nur ein bisschen Spielen ist.
Wenn dann auch noch die Leitung nicht gut ist, wird es noch schwierig. Bis vor einigen Jahren war ihre Schule in Wien-Favoriten genau das, was klischeehalber als „Brennpunktschule“ bezeichnet wird. Die Polizei, bestätigten mehrere vor Ort, sei bis vor einiger Zeit quasi täglich da gewesen. Körperliche Gewalt und Waffenfunde wie Messer inklusive. „Die alte Leitung hat uns auch nicht viel Freiheit gelassen“, sagt Sabine, „Das motiviert nicht und die schlechte Stimmung hat man gespürt und eines zum anderen geführt.“ Es ist klar: Auch die Lehrer:innen wollen respektiert werden, von allen Seiten.
Mit Qualität überzeugen und begeistern
Nun läuft es viel besser. Denn seit einiger Zeit ist Hannelore als Direktorin verantwortlich. Sie managt hunderte Schüler:innen, dutzende Lehrer:innen. Es gibt Musicals, Sportwettkämpfe, Schullandwochen, Förderungen, technische Geräte, Zusatzangebote, ein diverses Lehrer:innenteam. Die Polizei kommt vielleicht noch einmal im Jahr. Die Lehrer:innen orten einen riesigen Unterschied zum Vorher. „Hier wird viel ausprobiert“, erklärt sie, während sie sich in ihrem Direktorinnensessel zurücklehnt, „Die Kinder müssen sich natürlich wohlfühlen, aber die Kinder haben auch ein Gespür für Qualität und fordern diese auch ein. Wir müssen ihnen Qualität auf allen Ebenen bieten.“ Dafür sorgt nicht nur die Leitung selbst, sondern quasi auch ein „Mittleres Management“.
„Es wird etwas erlassen und erst dann macht man sich Gedanken drüber, wie es überhaupt umgesetzt werden kann“
Sie alleine könnte das alles nicht organisieren. Das „mittlere Management“ ist in Teams organisiert. Einige Lehrer:innen organisieren das Musical. Wieder andere den Sport. Die Direktorin vertraut ihrem Lehrkörper. Ein einfacher Kniff, der mit viel Kommunikation zu guten Ergebnissen führt. „Ich bin dann manchmal auch überrascht, was in meinem Haus alles passiert“, erklärt Hannelore. Die Aufzählung, was sonst noch alles passiert und funktioniert, würde hier übrigens den Rahmen sprengen.
Von oben kommt wenig
Einfach macht man es ihr nicht. Denn politisch kommen immer neue Ideen, ein neuer Name am Türschild hier, eine neue Testung da. „Es wäre einmal angenehm, wenn wir einige Jahre keine neuen Vorgaben oder Testungen auferlegt bekommen würden“, sagt Hannelore, auf kurzfristige Verbesserungen angesprochen. Oder dass man sich diese zumindest durchdenkt. „Es wird etwas erlassen und erst dann macht man sich Gedanken drüber, wie es überhaupt umgesetzt werden kann“, ärgert sie sich.
„Kinder haben ein Recht auf Bildung“, stellt sie klar. Der Schlüssel dafür sind eben Wertschätzung und Kommunikation auf allen Ebenen. Bei ihr im Bezirk funktioniert das. Das Schulqualitätsmanagement – früher hieß das Schulaufsicht – unterstützt vor Ort und auch die politische Bezirksvertretung ist oft da: „Die Kinder merken sich das, wenn die Politik da ist. Sie wissen vielleicht nicht genau, wer der Herr im Anzug ist, aber spüren die Wertschätzung.“ Aber ist das alles nicht nur deshalb so relevant, weil es eine Brennpunktschule war?
Mehr Vertrauen
„Gewisse Binkerl haben alle Kinder zu tragen“, erklärt dazu Peter König. Er ist Direktor der Praxis- und Privatschule der Katholischen Pädagogischen Hochschule Wien-Strebersdorf. Als solcher ist er sehr nah an der Entwicklung und Forschung an pädagogischen Themen dran. Und hat in der Privatschule auch eine andere Klientel als Hannelore in Wien 10. Er bestätigt quasi alles, was Kinder, Lehrer:innen und die Direktorin ansprechen. „Wir sollen die Kinder zu Digitalisierungsfachleuten ausbilden, zu guten Präsentator:innen“, zählt er auf, „Es soll ihre Sozialkompetenz gestärkt werden, die Kommunikation und andere Kompetenzen und Arbeitstechniken.“
Die Schulen haben viele Aufgaben dazu bekommen, die früher Vereine, Pfarrgemeinschaften, Großeltern erledigt haben: „Man erwartet sich, dass das parallel zum Unterricht abgedeckt wird.“ Wohlgemerkt: Das ist das Attest eines Direktors in einer Privatschule. Unterschiedliche Voraussetzungen, ähnliche Problemlagen. Die Gesellschaft verlangt extrem viel von Kindern und Pädagog:innen, egal wo.
Arbeiten lassen
Das betrifft auch das Vertrauen und die Wertschätzung dem Lehrkörper gegenüber. „Man muss Schulen und Lehrer:innenteams mehr vertrauen“, so König, „sie wollen das Beste aus der aktuellen Situation machen. Aber sie müssen sich ständig über Testungen, Erlässe, Stellungnahmen, Protokolle und Co. rechtfertigen. Es herrscht ein Misstrauen, das nimmt Motivation.“
Vieles würde der Lehrplan sowieso zulassen. Den Wunsch, einen Vertrag durchzugehen und in den Deutsch-, Mathematik- und Wirtschaftskunde-Unterricht einzubinden, findet er gut. „Aber es hapert an der Zeit, weil man dann wieder Tests machen muss“, bemängelt er. Und weil diese schwer abfragen können, wie es mit dem Demokratieverständnis oder der Anpassungsfähigkeit (bzw. Resilienz) aussieht, renne man lieber Inhalten nach, die man abfragen könne. Die Achterreihe kann man oder nicht. Wie misst man hingegen Lernfreude? Seine Lösung: „Was wir in der Schule brauchen, ist mehr Vertrauen, Autonomie und Zeit.“
Was ist guter Unterricht?
Hierarchisches Denken strahlt nach unten aus, schließt König. Die Politik stresst die Bildungsdirektionen mit ständig neuen Vorgaben, diese die Schulen, die Direktionen geben den Druck dann im schlechtesten Fall an die Lehrer:innen weiter, die dann vor Kindern stehen, die eigentlich nicht viel anderes wollen, als respektvoll Dinge lernen, die sie im Leben wirklich brauchen können.
Er könnte sich ein fünftes Jahr Pflichtschule vorstellen, um all diese Themen unterzubringen. Vielerorts wird überhaupt eine gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen gefordert, um nicht schon mit zehn Jahren Kinder in „studiert vielleicht“ und „geht aufs Poly“ einzuteilen. Das scheint sehr weit weg, die politischen Mehrheiten lassen es aktuell nicht zu. Ob sie sich bei den nächsten Wahlen ändern – unklar. Für die 4. Klasse kommt das alles ohnehin zu spät, vielleicht sogar für die Lehrer:innen. Bis dahin könnte man allen, die vor Ort sind, das bringen, was einer der Viertklässler sagte: „Eigentlich will ich Respekt.“