Marion Thuswald: Wie bringt man die Vielfalt in die Sexualpädagogik?
MOMENT: Den Grundsatzerlass „Unterrichtsprinzip Sexualpädagogik“ gibt es seit 1970. Ist Sexualpädagogik in Österreich überholt?
Marion Thuswald: Wir brauchen Sexualpädagogik, solange Themen wie Sexualität, Begehren und Beziehungen nicht selbstverständlich in andere Lernbereiche integriert sind. Der Grundsatzerlass Sexualpädagogik wurde zuletzt 2015 überarbeitet. Er gilt fächerübergreifend, was sinnvoll ist, aber in der Praxis oft heißt, dass sich niemand zuständig fühlt. Inhaltlich könnte er an einigen Stellen klarer sein, zum Beispiel, wenn es um sexuelle, geschlechtliche und amouröse Vielfalt geht, aber ich finde ihn dennoch eine gute Grundlage. Es hapert daran, dass er an Schulen auch umgesetzt wird.
MOMENT: Dort wird die sexuelle Bildung ja oft noch den Biolehrer:innen überlassen.
Eine biologische Sexualkunde ist wichtig. Aber auch da gibt es Baustellen. Nehmen wir die Geschlechtsorgane als Beispiel: Wie viele junge Menschen lernen, wie groß die Klitoris eigentlich ist oder wie weibliche Ejakulation funktioniert? Die Jugendlichen interessieren sich allerdings nicht nur für biologisches Wissen, sondern auch die kulturellen, sozialen und politischen Dimensionen von Sexualität.
MOMENT: Ist Sexualpädagogik durch Themen wie Vielfalt der Geschlechter und Sexualitäten nicht auch komplexer geworden als früher?
Diese Vielfalt ist nicht neu, sie ist jetzt nur sichtbarer. Deshalb wird das von den Schüler:innen auch als Thema gefordert. Auch die veränderte Medienwelt der Jugendlichen gilt es zu berücksichtigen. Der Zugang zu Informationen und Bildern ist heute viel niederschwelliger. Deshalb sind Sexting, Pornografie oder Cybergrooming Themen, die Jugendliche beschäftigen. Hier gilt es Medien- und Sexualpädagogik zusammen zu denken, was teilweise auch schon passiert.
MOMENT: Aber ist es, bei all der Komplexität, nicht zu viel von Lehrer:innen verlangt, über alles Bescheid zu wissen?
Lehrer:innen spielen eine wichtige Rolle in der Begleitung und Unterstützung von Jugendlichen, denn sie kennen sie über Jahre und können Ansprechpersonen in Krisen sein. Sexualpädagogische Herausforderungen tauchen oft im Schulalltag auf. Was mache ich, wenn Kinder in der Pause Pornos schauen? Wie gehe ich mit sexualisierten Übergriffen unter Jugendlichen um? Wie kann ich queere Jugendliche angemessen unterstützen? Aber ja, Lehrer:innen sollten vieles abdecken und haben meist keine spezielle Ausbildung. Dass sie mitunter überfordert sind, ist verständlich. Deshalb wären sexualpädagogische Themen im Lehramtsstudium wichtig. Zudem bräuchte es die Zusammenarbeit mit anderen Professionellen, wie Sexualpädagog:innen oder Schulsozialarbeiter:innen.
MOMENT: Früher hatten Kinder „das Gespräch“ mit Vater oder Mutter. Heute erscheint mir das angesichts des frühen Internetzugangs der Kinder hinfällig. Nimmt Sexualpädagogik heute vielmehr einen begleitenden, anstatt eines belehrenden Charakters an?
Marion Thuswald: Ich halte sowieso nichts von diesem “einen Gespräch”. Sexualität und die Fragen rundherum sollten von Anfang in der Familie und in den pädagogischen Einrichtungen thematisiert werden. Da kann der Fokus mal auf Fortpflanzung liegen, mal mehr auf Lust oder der Beziehung. Wichtig ist auch, gut über den eigenen Körper Bescheid zu wissen. Sexuelle Bildung ist ein kontinuierlicher Prozess. Die Kinder brauchen Ansprechpersonen, die im besten Fall nicht nur die Erziehungsberechtigten sind.
MOMENT: Können und wollen Schüler:innen überhaupt mit Lehrer:innen über Sex-Themen reden, kann man da überhaupt von einem “Safe Space” in der Schule reden?
Die schulischen Strukturen können es erschweren, über Sexualität zu sprechen. Ein Safe Space ist die Schule leider meistens nicht. Eine Schulklasse ist eine unfreiwillige Gemeinschaft, in der Schüler:innen, die meinen, dass Homosexualität nicht gottgewollt ist, mit solchen in der Klassen sitzen, die viel Wissen zu queeren Themen haben und vielleicht selbst lesbisch, schwul oder bisexuell sind. Grenzachtend zu arbeiten ist da sehr wichtig. Externe Sexualpädagog:innen können eine Unterstützung sein.
MOMENT: Inwiefern?
Manchmal fällt es Jugendlichen leichter, mit externen Personen über Sexualitätsthemen zu reden als mit den Lehrpersonen. Ich denke, wir sollten auch über neue Formate in der Sexualpädagogik reden. Einmalige Workshops sind nicht der geeignete Rahmen, viele Fragen entstehen erst im Nachhinein eines einmaligen Kurses. Es wäre sinnvoll, wenn externe Sexualpädagog:innen zumindest zweimal in dieselbe Klasse kommen. Denkbar wären auch Formate wie Projektwochen zum Thema Sexualpädagogik, wo externe Sexualpädagog:innen und Lehrer:innen zusammenarbeiten. Jedenfalls müssen wir sexuelle Bildung an Schulen institutionell verankern. Es darf nicht am Engagement einzelner Lehrpersonen liegen, ob Schüler:innen Angebote zur sexuellen Bildung bekommen oder nicht.
MOMENT: Sie fordern auch mehr Vielfalt in der Sexualpädagogik.
Marion Thuswald: Sexualpädagog:innen sollten so vielfältig sein wie die Schüler:innen. Durch diversere Teams können viel schneller Bezüge zu den Jugendlichen hergestellt werden. Wenn Kinder auf Pädagog:innen mit ähnlichen Lebensrealitäten und Diskriminierungserfahrung treffen, entsteht leichter Vertrauen. Das Thema Rassismus ist zum Beispiel eng mit Sexualität verstrickt. Generell gilt: Machtverhältnisse und Diskriminierung müssen, wie in jedem anderen Bereich, auch in der sexuellen Bildung mitgedacht werden.
MOMENT: Sexualpädagogik, die sensibel für Diskriminierungen ist, wird von rechten und konservativen Kräften gern als ideologisch, als Indoktrination abgetan. Gerade, wenn es um die Vielfalt der Geschlechter oder Sexualitäten geht.
Eine vielfaltsorientierte Sexualpädagogik schließt konservative Werte nicht aus. Wenn ein Jugendlicher aus religiösen Gründen keinen Sex vor der Ehe haben möchte, dann ist das als eine Position unter vielen zu respektieren. Antidiskriminierung ist nicht Ideologie, sondern ein demokratisches Grundrecht. Die Rechten sprechen immer von Kinderschutz. Wenn ich Kinderschutz stärken will, dann muss ich auch die Selbst- und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen stärken. Den Konservativen geht es jedoch oft nur um Elternrechte, um Kontrolle und Verbot. Wertevielfalt und klare Grundhaltungen schließen sich nicht aus. In der Sexualität ist Einvernehmlichkeit ein wichtiges Prinzip und das gilt für experimentierfreudige Teens ebenso wie für Enthaltsame, die keinen Sex vor der Ehe haben wollen.
MOMENT: Mit TeenSTAR ist mindestens ein ultrakonservativer Verein nach wie vor an Österreichs Schulen tätig, wie MOMENT berichtete. Warum ist das gefährlich?
Zum einen sind das die Inhalte, die in den Workshops vermittelt werden. Wenn queere Jugendliche lesen, dass nur Mann und Frau wirklich zusammenpassen, kann das Unsicherheit, Angst und Scham befördern. Teilweise scheinen teenSTAR-Kursleiter auch Einzelgespräche zu führen und dabei übergriffige Fragen zu stellen. Das ist sehr heikel. Zudem werden diskriminierende Einstellungen von Schüler:innen und Lehrer:innen, die vielleicht an der Schule vorhanden sind, durch Workshop von teenSTAR legitimiert und gestärkt.
Der ehemalige Bildungsminister Heinz Faßmann hat 2019 ein Akkreditierungsverfahren für externe Aufklärungsvereine an Schulen versprochen. Abgesehen davon, dass das Verfahren seit 3 Jahren auf sich warten lässt: Ist das der richtige Schritt zur Qualitätssicherung in der Sexualpädagogik?
Ohne das Verfahren zu kennen, lässt sich noch nicht viel sagen, es hängt von der konkreten Ausgestaltung ab. Wird es ein reines Kontrollorgan oder gibt es auch Möglichkeiten, es als nachhaltiges Qualitätsentwicklungs-Tool zu verwenden? Sorgen mache ich mir dennoch: Es könnte kleine Vereine verdrängen und einen irrsinnigen bürokratischen Aufwand für die ohnehin unterfinanzierten Vereine bedeuten. Außerdem: Je nach Regierung könnte das Verfahren in die falschen Hände geraten und dementsprechend auch die falschen Leute aus dem Feld drängen. Betrachtet man die aktuelle politische Lage, sind solche Sorgen sehr berechtigt.
MOMENT: Haben Sie Ideen für Alternativen?
Es braucht eine gute Grundfinanzierung für die Vereine. Da geht es nicht nur um Honorare für Workshops. Auch die Vorbereitung, Kommunikationsarbeit, Supervision, Fortbildungen müssen finanziert werden. Vereine, die sehr gute Arbeit leisten, machen das oft ehrenamtlich. Es bräuchte auch Ressourcen für die Beratung von Schulen, etwa für die Entwicklung eines sexualpädagogischen Schulkonzepts. Und natürlich müssen wir diskutieren, was Qualität in der Sexualpädagogik bedeutet. Ein Kriterienkatalog sollte aber mit Expert:innen entworfen und nicht vom Ministerium diktiert werden.