Wie der Kapitalismus mit seiner Sprache unsere Welt formt und unser Denken beeinflusst
MOMENT.at: Was ist die Sprache des Kapitalismus?
Simon Sahner: Wir haben uns in den letzten Jahren gesellschaftlich viel über Sprache ausgetauscht. Da haben wir beispielsweise von sexistischer und rassistischer Sprache gesprochen. Die beeinflussen unseren Zugang zur Welt. Genau das macht die Sprache des Kapitalismus auch. Sie beeinflusst unseren Zugang insbesondere zur Welt der Wirtschaft.
MOMENT.at: Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Daniel Stähr: Man sieht das oft in Aktion. Wenn wir zum Beispiel über Finanzkrisen sprechen, benutzen wir häufig Metaphern aus Naturkatastrophen oder Krankheitsmetaphern. Die globale Finanzkrise 2007/08 wurde als „perfekter Sturm“ bezeichnet. Die Energiepreiskrise letztes Jahr wurde als „Tsunami“ bezeichnet.
Diese Sprache führt dazu, dass wir uns als Gesellschaft Handlungsmacht nehmen.
MOMENT.at: Und warum interessieren Sie sich dafür?
Sahner: Weil diese Sprache beeinflusst, wie wir auf das kapitalistische System reagieren und uns dazu verhalten. Sie verschleiert Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten. Sie trägt dazu bei, dass wir den Eindruck haben, dass der Kapitalismus alternativlos ist und nach Naturgesetzen funktioniert. Wir benutzen zum Beispiel die sprachliche Metapher, dass Preise quasi von selbst „steigen“, anstatt zu sagen, dass sie von jemandem “erhöht werden”. Wenn man sich Gedanken macht, wie wir sprechen und wie man das ändern könnte, kann man darüber nachdenken, was man zur Verhinderung solcher Wirtschaftskrisen tun kann.
Stähr: Diese Sprache führt dazu, dass wir uns als Gesellschaft Handlungsmacht nehmen. Durch sie können wir uns gar nicht vorstellen, wie ein System nach dem Kapitalismus aussehen könnte.
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MOMENT.at: Können Sie das mit Daten belegen oder sind das reine Annahmen?
Stähr: Es gibt viel sprachwissenschaftliche Forschung darüber, wie Sprache Realität schafft. Aus der Wirtschaftswissenschaft gibt es ein schönes Beispiel dazu. Darin geht es um Schuld.
Im Deutschen ist Schuld sowohl etwas Moralisches als auch etwas Finanzielles. Im englischen Sprachraum hingegen gibt es „guilt“ als moralische Schuld und „debt“ als finanzielle Schuld. Die Forschung zeigt, dass in Gesellschaften, in denen es nur ein Wort für Schuld gibt, Menschen deutlich reservierter sind, Schulden aufzunehmen. Denn da schwingt neben dem Finanziellen auch immer das Moralische mit. Wir sind nicht naiv. Wenn man unsere Forderungen zur Sprache umsetzen würde, würden wir deshalb nicht in einem utopischen Paradies leben. Wir glauben aber, dass die Sprache eine entscheidende Säule zur Stabilisierung des heutigen Systems ist.
Sich das eine anzuschauen, sollte nie ein Ausschlusskriterium dafür sein, sich auch das andere anzuschauen.
MOMENT.at: Sind andere Aspekte des Kapitalismus nicht dennoch deutlich folgenreicher und verdienen mehr Aufmerksamkeit als die Sprache?
Sahner: Ich kann natürlich sagen: Es ist selbstverständlich wichtiger, dafür zu sorgen, dass alle Menschen ein gutes Auskommen haben, als Sprache zu ändern. Ich kann aber auch sagen: Vielleicht ist die Sprache auch ein Weg, genau dorthin zu kommen, und das Bewusstsein zu schärfen. Sich das eine anzuschauen, sollte nie ein Ausschlusskriterium dafür sein, sich auch das andere anzuschauen.
MOMENT.at: Wie sollen wir unsere Sprache im Hinblick auf die Sprache des Kapitalismus überdenken?
Sahner: Wir sollten uns im Klaren darüber sein, was wir sagen und wie wir sprechen. Unser Ziel ist, dass Menschen anfangen, bei ihrer Sprache zu stolpern. Dass man irgendwas liest, und sich denkt: Warum wurde das so gesagt? Könnte man das auch so sagen, dass es verständlicher wird und mehr dem entspricht, was tatsächlich geschieht?
Wenn wir anders über den Kapitalismus sprechen und ihn nicht als naturgegebenen Zustand ansehen, können wir dazu beitragen, dass wir uns offener in gesellschaftlichen Debatten austauschen können.
MOMENT.at: Was würde sich ändern, wenn Menschen zu stolpern beginnen?
Stähr: Wir wünschen uns, die Vorstellung kollektiv abschaffen zu können, dass der Kapitalismus der Endpunkt des menschlichen Wirtschaftens ist. Wir sollten die Angst verlieren, dass alles nach dem Kapitalismus nur noch schlechter sein kann und dass wir das schöne Leben vor allem in Europa und Nordamerika aufgeben müssen. Wenn wir anders über den Kapitalismus sprechen und ihn nicht als naturgegebenen Zustand ansehen, können wir dazu beitragen, dass wir uns offener in gesellschaftlichen Debatten austauschen können. Wir könnten uns fragen: Was ist das Ziel eines Wirtschaftssystems? Wären Veränderungen denkbar, mit denen es allen besser geht und wir ein besseres Miteinander erleben können?
Sahner: Eine sehr starke Erzählung des Kapitalismus ist, dass es zwei Systeme gibt: Sozialismus und Kapitalismus. Und wer sich gegen Kapitalismus stellt, will Sozialismus, wie wir ihn im 20. Jahrhundert vielerorts hatten. Das ist falsch. Die Idee, dass die Wahl nur zwischen diesen Systemen besteht, verhindert ein Nachdenken darüber, was nach dem Kapitalismus kommt. Diese Binarität aufzubrechen, wäre ein großer und wichtiger Schritt.
Die Sprache des Kapitalismusvon Simon Sahner und Daniel Stähr ist 2024 erschienen und wurde für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert.