Wenn Sozialfälle zum Skandal werden

Ein Fall wie jener der syrischen Großfamilie, die knapp 9.000 Euro Sozialhilfe inklusive Mietbeihilfe monatlich erhält, mag zunächst irritierend wirken. Doch die Statistik zeigt klar: Gerade einmal vier Familien in Wien haben ähnlich viele Kinder und erhalten dadurch höhere Sozialleistungen. Dennoch dominiert der Einzelfall Schlagzeilen und politische Debatten. (Ein ähnliches Muster zeigt die aktuelle Diskussion über angebliche „Kinderehen“: Die Regierung erlässt ein Verbot, obwohl in Österreich seit über 40 Jahren keine Ehe mehr geschlossen wurde, wo einer der Partner:innen unter 15 Jahren war.
Empörung mit System: Sündenböcke und Ablenkung
Die Aufregung um Einzelfälle kommt nicht aus dem Nichts – sie hat System. Sie werden gezielt inszeniert, um bestimmte Zwecke zu erfüllen. Zum einen bieten sie Sündenböcke: Statt über komplexe soziale Probleme zu reden, konzentriert sich die öffentliche Wut auf eine Familie, eine „Sozialschmarotzer“-Story.
Sie lenkt den Fokus weg von den eigentlichen sozialen Problemen: steigende Armut trotz Arbeit, hohe Wohnkosten oder massiver Steuerbetrug großer Konzerne und wohlhabender Privatpersonen. Anstelle systemischer Missstände stehen Migrant:innen, Arbeitslose oder kinderreiche Familien am medialen Pranger. Sie werden zu Sündenböcken stilisiert, die scheinbar für gesellschaftliche Missstände verantwortlich sind.
Diese gezielte Ablenkungspolitik funktioniert, weil sie einfache Narrative bedient: Es gibt klare Täter (die angeblich Faulen und Fremden) und vermeintliche Opfer (die fleißigen Steuerzahler:innen). Doch real sind die wenigen Familien mit hohem Unterstützungsbedarf kein Problem für unseren Sozialstaat.
Völlig egal, denn eine kinderreiche Familie mit Fluchthintergrund eignet sich perfekt als Projektionsfläche: Hier kann man Ressentiments gegen „faule Ausländer“ bedienen und gleichzeitig so tun, als ginge es um Gerechtigkeit. Doch Gerechtigkeit bedeutet nicht, den Ärmsten noch etwas wegzunehmen. Es geht den einen nicht besser, wenn es anderen noch schlechter geht – im Gegenteil. Die skandalisierte Empörung schafft ein Klima, in dem soziale Kälte als “Mut zur Wahrheit” verkauft wird.
Praktisch für Politiker:innen, die sowieso den Abbau unseres Sozialstaats vorantreiben möchten. In der aufgeheizten Debatte schert sich keiner um Fakten – und ein Sozialstaat, der laufend als „Selbstbedienungsladen“ diffamiert wird, verliert gesellschaftlichen Rückhalt. Das erleichtert das Zurückfahren staatlicher Leistungen.
Wenn Kürzungen Kinder treffen: Lehren aus dem Ausland
Die Befürworter von Sozialabbau argumentieren oft, üppige Sozialhilfe für Großfamilien schaffe falsche Anreize. Doch Daten und internationale Erfahrungen widersprechen dem. Ein Blick nach Großbritannien zeigt, wie kontraproduktiv Kürzungen für kinderreiche Familien sind. Dort wurde 2017 eine Obergrenze eingeführt, die Sozialleistungen auf die ersten zwei Kinder beschränkt. Das Ergebnis: Kinderarmut explodierte.
Expert:innen sehen diese Zwei-Kinder-Regel inzwischen als “Haupttreiber” der steigenden Kinderarmut im Vereinigten Königreich. Mindestens 10.000 zusätzliche Kinder wurden allein in den vergangenen Jahren direkt durch diese Kürzung in Armut gedrückt. Wohlfahrtsverbände und sogar parteiübergreifend fordern Politiker:innen daher die Abschaffung dieser Regelung. Studien zeigen, dass ein Ende des Zwei-Kinder-Limits hunderttausende Kinder aus der Armut holen würde – mit langfristig positiven Effekten auch für Gesellschaft und Wirtschaft. Die Lehre daraus: Kürzungen bei Familienleistungen mögen populistisch Punkte bringen, lösen aber kein Problem, sondern verschärfen die Not von Kindern.
In skandinavischen Ländern existieren großzügige Familienleistungen und ein starkes soziales Netz. Die Ergebnisse sprechen Bände: Die Kinderarmutsraten sind dort teils nur halb so hoch wie in Ländern mit rigider Sozialpolitik. 2023 lag die Quote der von Armut bedrohten Kinder in Dänemark und Finnland bei unter 10 Prozent, während sie in Großbritannien über 22 Prozent betrug.
Ein weiterer warnender Blick ins Ausland: die Niederlande. Dort führte der übereifrige – und rassistisch konnotierte – Kampf gegen vermeintlichen Sozialmissbrauch in eine Katastrophe. Die Steuerbehörden warfen über 20.000 Eltern unrechtmäßigen Bezug von Beihilfen vor und forderten die Gelder zurück. Viele Familien stürzten dadurch in existenzielle Not. Später stellte sich heraus: Die Vorwürfe waren ungerechtfertigt. Gezielt ausgewählt wurden jene Familien, wo die Eltern eine Doppelstaatsbürgerschaft oder keine niederländische Staatsbürgerschaft hatten. Diese Familien galten bei der automatisierten Risikoüberprüfung per se als verdächtig. Der Skandal („Toeslagenaffaire“) war so gravierend, dass 2021 die gesamte niederländische Regierung zurücktreten musste. Dieses Beispiel zeigt drastisch, wohin die Skandalisierung und pauschale Kriminalisierung von Familien mit wenig Geld führen kann.
Worüber kaum gesprochen wird: Die wahren Löcher im System
Während eine Flüchtlingsfamilie zum Tagesgespräch gemacht wird, bleiben andere, weit größere Skandale merkwürdig unterbelichtet. Unbezahlte Überstunden zum Beispiel: 2023 wurden in Österreich 180 Millionen Überstunden gearbeitet – davon 46,6 Millionen Stunden ohne Bezahlung. Dadurch wurden Arbeitnehmer:innen Löhne im Wert von rund 1,5 Milliarden Euro gestohlen. Zum Vergleich: Die Schäden durch Sozialbetrug betragen nur rund 14 Mio. Euro. Ja, richtig gelesen: Sozialmissbrauch kostet den Staat nur einen winzigen Bruchteil dessen, was lohnraubende Arbeitgeber:innen unrechtmäßig einbehalten. Dennoch fährt die Politik harte Geschütze gegen jene auf, die womöglich unberechtigt Sozialhilfe beziehen. Sogar eine eigene Task Force für Sozialbetrug wurde im Innenministerium gegründet, während systematischer Lohnbetrug an Beschäftigten meist ungestraft bleibt. Wo bleibt die große Empörung darüber?
Ähnlich verhält es sich mit Steuertricks von Großkonzernen und Reichen. Schätzungen zufolge entgehen Österreich jedes Jahr bis zu 15 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und “kreative Gestaltung“. Globale Konzerne verschieben Gewinne, Superreiche parken Geld in Offshore-Oasen – die Allgemeinheit verliert Milliarden, die in Bildung, Gesundheit oder Armutsbekämpfung fehlen. Doch diese komplexen Finanztricks schaffen es selten auf die Titelseiten im Boulevard. Sie sind abstrakt, schwierig zu skandalisieren – und oft fehlt der politische Wille, hier konsequent durchzugreifen. Im öffentlichen Diskurs dominieren lieber einfache Feindbilder: die alleinerziehende Mutter, der arbeitslose Migrant oder eben die kinderreiche Flüchtlingsfamilie.
Und was ist mit den Menschen, die gar nicht erst um Hilfe bitten, obwohl sie sie brauchen würden? Auch darüber spricht kaum jemand. Studien zeigen, dass in Österreich viele Anspruchsberechtigte ihre Sozialhilfe aus Scham, Angst oder Unwissen nicht beantragen. Rund 30 Prozent der eigentlich berechtigten Haushalte – etwa 73.000 Familien im Jahr 2015 – nahmen die Mindestsicherung nicht in Anspruch. Diese verdeckte Armut bedeutet: Zehntausende leben in prekärer Lage, ohne in Statistiken oder Debatten überhaupt aufzutauchen.
Ein Perspektivenwechsel tut Not
Der aktuelle “Skandal” um die Großfamilie zeigt vor allem, wie schief unsere Perspektive mittlerweile ist. Statt nach unten zu treten und Familien mit vielen Kindern als Problem darzustellen, sollten wir den Blick nach oben und nach vorne richten: auf die strukturellen Baustellen, die wirklich großen Löcher im System. Kein Kind in Österreich wird reicher, weil ein anderes weniger Unterstützung bekommt. Aber alle Kinder hätten eine bessere Zukunft, wenn Milliarden an unversteuerten Gewinnen und gestohlenen Löhnen zurück ins Gemeinwohl fließen würden.
Die Empörung über Sozialhilfebezieher:innen mag politisch kalkuliert und medial aufgeblasen sein – lösen wir damit aber auch nur ein einziges unserer echten Probleme? Wohl kaum. Weder verhindert man Armut, indem man die Ärmsten gegeneinander ausspielt, noch schafft man Gerechtigkeit, indem man Kinder für die Größe ihrer Familie bestraft.
Ein wohlhabendes Land wie Österreich sollte es sich leisten wollen, Kindern ein würdiges Aufwachsen zu ermöglichen – egal ob es zwei oder zehn Geschwister sind. Der wahre Skandal ist nicht, dass eine Familie mit vielen Kindern Unterstützung bekommt – der Skandal ist, dass wir es zulassen, dass jedes 5. Kind hierzulande an oder unter der Armtusgrenze aufwächst.