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Ungleichheit
Demokratie

Endlich Alpha – Wie toxische Männlichkeit TikTok beherrscht

Keine Social-Media-Plattform wächst unter Jugendlichen so schnell wie TikTok. Was junge Männer dort sehen, ist häufig erschreckend. Unser Redakteur Sebastian hat sich in ein Loch aus toxischer Männlichkeit, Frauenhass und Verschwörungsmythen begeben. 

In nicht einmal zwei Stunden habe ich gefühlt mehr über meine Aufgaben als Mann gelernt, als in den vergangenen drei Jahrzehnten. Ich muss wohl immer stoisch und besonnen sein und darf Frauen nicht anschreien. Aber nicht, weil das per se schlecht wäre, sondern weil Frauen süchtig nach Drama sind und ständig Emotionen aus uns Männern locken wollen. Frauen stehen auf “Bad Boys”, weil Männer, die Frauen schlechter behandeln, sie nicht auf ein Podest stellen, von dem sie irgendwann auf sie herabblicken können. Und generell ist uns egal, wie sich Frauen fühlen, denn wir Männer fühlen nicht, wir denken, handeln und tun.

 

Auch dazu:

Der Dank für meine neuen Erkenntnisse gebührt dem TikTok-Algorithmus. Für diesen Artikel habe ich mir auf der Plattform einen neuen Account angelegt und mich dafür 20 Jahre jünger gemacht. Lange dauert es nicht, bis mein 16-jähriges Alter Ego fast ausschließlich mit Inhalten wie den Obigen bombardiert werden.

TikTok: Die Plattform der Gen Z

TikTok ist vor allem bei jungen Menschen sehr beliebt. Fast drei Viertel der österreichischen Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren verwenden die Plattform, im Vergleich zum Vorjahr sind es um 13 Prozentpunkte mehr.  

TikTok funktioniert durch einen “endless feed”, also den ständigen Nachschub an Content. Beim Öffnen der App läuft sofort ein Video. Packt es mich nicht, wische ich zum nächsten weiter. Es gleicht dem Gefühl, vor einem Spielautomaten zu sitzen: Nur noch kurz weiter wischen. Nur noch schnell ein Video schauen. So als könnte das nächste dein Leben verändern. Wer TikTok regelmäßig nutzt, kennt dieses Gefühl. TikTok ist fantastisch und furchteinflößend zugleich. Der TikTok-Algorithmus trägt seinen Teil dazu bei. Er schafft es, dass mein Video-Feed (die “For You Page”, kurz “fyp”) fast perfekt auf mich zugeschnitten ist.

So beeindruckend das sein mag, hat es auch viele Nachteile, wie die Autorin Susanne Kaiser erklärt. Sie hat sich für ihr Buch “Politische Männlichkeit” unter anderem angesehen, wie sich Frauenhass und extreme Vorstellungen von Männlichkeit online verbreiten: “Der Algorithmus von TikTok ist manipulierbar. Er funktioniert noch radikalisierender als andere. Um die Aufmerksamkeit halten zu können, müssen die Inhalte immer zugespitzter und polarisierender werden. Deswegen verschwindet man bei Selbstversuchen auch sehr schnell in einem Rabbit Hole.” 

Genau wie Alice habe ich mich freiwillig in das Kaninchenloch begeben – und bin wie sie dort auf verstörende Ereignisse und Gestalten gestoßen. 

Der TikTok-Abstieg beginnt harmlos 

Mein Versuch beginnt mit einem frischen Account: Geburtsjahr 2006. Geschlecht kann man auf TikTok keines angeben – der Vorname in meiner E-Mail-Adresse könnte allerdings doch ein Hinweis sein. Meine Vorgabe: nicht interagieren. Keine Videos liken, keinen Accounts folgen. Dafür alle Videos ansehen, die sich explizit an (junge) Männer richten. Ich wische und schaue mich durch 600 Videos, aufgeteilt auf mehrere Sessions. Sonderlich viel ist das nicht: Die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer beträgt in den USA rund 40 Minuten, ich brauche etwa vier Stunden für alle Videos. 

TikTok braucht nicht lange, um zu erahnen, wer vor dem Handy sitzt. Zu Beginn sind die Inhalte breit gefächert: Computerspiele, Schulprobleme, etwas überraschend wenig halbnackte Frauen. Als TikTok erkennt, dass ich bei Fitness-Videos etwas länger dranbleibe, bekomme ich die immer häufiger angezeigt. Auch Videos darüber, wie man viel Geld verdienen kann, mehren sich. 

Erst beim 106. Video, erscheint die Person, die ich seit meiner Anmeldung insgeheim erwartet habe: Andrew Tate.
(Anm.: Der Artikel wurde vor den aktuellen Entwicklungen geschrieben. Andrew Tate und dessen Bruder Tristan wurden in Rumänien festgenommen. Ihnen wird Vergewaltigung und Menschenhandel vorgeworfen. Ob die Pizzaschachtel in seinem Video tatsächlich eine Rolle gespielt hat, ist übrigens aktuell eher anzuzweifeln.)

 
Andrew Tate auf TikTok: Der Posterboy toxischer Männlichkeit

Andrew Tate ist der Posterboy toxischer Männlichkeit auf TikTok. Sein erstes Video verläuft recht harmlos.

Andrew Tate: Posterboy toxischer Männlichkeit

Wer Andrew Tate nicht kennt, war im vergangenen Jahr kaum in sozialen Medien unterwegs oder hat keine Jugendlichen im Umfeld. Tate war kurzzeitig die meistgegoogelte Person der Welt. Seine Popularität ist explodiert, seine Ansichten waren auch in deutschsprachigen Medien Thema. Bis er im August von allen Social-Media-Plattformen verbannt wurde. Sogar sein Uber-Account wurde – zumindest nach Tates Aussage – gesperrt.

Tate verbreitet unglaublich sexistische Ansichten. Das ist in der Geschichte des Internets wahrlich nicht neu. “Misogynie und Sexismus können unglaublich erfolgreich sein. Es war aber nicht absehbar, wie sehr Tate den Algorithmus manipulieren konnte,” sagt die Autorin Susanne Kaiser. Sein Erfolg sei auch über ein Schneeballsystem erklärbar: Tate bietet Onlinekurse an. Die Mitgliedschaft kostet 59 Dollar im Monat – wer weitere Menschen anwirbt, bekommt wiederum Geld dafür. So werden Tates Botschaften immer weiter verbreitet. Der Kult um seine Person hat ihm viel Geld und noch mehr Reichweite gebracht, obwohl seine Accounts wegen seiner Inhalte gesperrt wurde. 

TikTok Nummer 106 ist harmlos. Andrew Tate macht sich über “vapen”  – also E-Zigaretten rauchen – lustig. Wie bei allen seiner Videos trägt er es im Brustton der Überzeugung eines Mannes vor, der sich sicher ist, im Leben noch nie etwas Falsches gesagt zu haben. Es ist ein Ton, der sich tief ins Gehirn gräbt.

Tate liegt auf einer Couch und schneidet dabei Grimassen. Es wirkt fast etwas lächerlich. Doch genauso funktionieren viele dieser Videos. Extreme Aussagen könnten zukünftige Fans zu Beginn vielleicht verschrecken. Daher werden sie mit harmloseren Videos geködert.

Wie TikTok die Radikalisierung von jungen Männern beschleunigt

TikTok spielt da mit. Es hat lange gedauert, bis Tate aufgetaucht ist. Es dauert nicht ganz so lange, bis ich ihn wiedersehe. Erst langsam, aber doch merklich, verändern sich die Videos jetzt im Ton. Die ersten sexistischen und rassistischen “Scherze” tauchen auf. Das alles ist kein Bug, sondern ein Feature: “Die Inhalte auf TikTok sind erstmal breiter gestreut. Ich nutze es ja nicht unbedingt wegen meiner misogynen Einstellung. Aber vielleicht habe ich schon bestimmte Vorstellungen, die ein bisschen sexistisch sind. Und dann zieht mich das stärker rein. Diese Bubble funktioniert unglaublich schnell und intensiv”, sagt Kaiser. 

“Diese Bubble”, das ist die sogenannte “Manosphere”: Ein Überbegriff für großteils frauenverachtende Bewegungen, die häufig sektenhafte Formen annehmen. Dazu gehören Gruppen wie Incels oder Pick-Up-Artists mit einer ganz eigenen (Bild-)Sprache. Sie bewegen sich online oft in eher geschlossenen Räumen, etwa eigenen Foren. “Natürlich ist dort die Radikalisierung sehr stark, weil man ohnehin mit einer misogynen Einstellung beitritt. Aber auf TikTok hat das eine neue Qualität und Quantität erreicht. Es werden nicht nur Männer radikalisiert, sondern eigentlich alle.”

TikTok, die Radikalisierungsmaschine? Wie das für junge Männer ablaufen kann, wird nach dem ersten Andrew Tate-Video immer klarer. Am Ende meiner ersten Session ist er in fast jedem TikTok zu sehen. Tate auf der Ledercouch, Tate zwischen Frauen beim Aufnehmen eines Podcasts, Tate in seinem Bugatti, Tate im Pool, wie er über seinen Bugatti spricht. Mit Sonnenbrille, Zigarren und Sixpack mimt er den ultimativen Alpha-Mann.
 

 
 

Die Bildschirmaufnahme zeigt meinen Feed nach etwa 180 Videos. Andrew Tate kommt bereits immer häufiger vor, es gibt aber auch noch normaleren Content.

In den Videos werden mir Tipps und Ratschläge für Probleme vorgeschlagen, mit denen sich wohl die meisten 16-Jährigen herumschlagen. Wie komme ich über eine Trennung hinweg? Was ist das Geheimnis, um viel Geld zu verdienen? Wann ist ein Mann ein Mann?

Diese Fragen sind an sich kein Problem. Die Antworten, die mir die Videos liefern, schon. Die TikToks transportieren ein Weltbild, das einer Karikatur gleicht. Männer sind verweichlicht, kriegen deswegen keine Frauen und haben keinen Erfolg. Die besten Männer (“Sigma Males”, eine weiterentwickelte Version von “Alpha Males”) sind zurückgezogen und haben wenige Freunde. Überhaupt, das mit den Gefühlen ist so eine Sache. Zeigen soll man sie nicht, weil man als Mann immer ruhig bleiben muss. So etwas wie Depressionen existieren nicht, wie Andrew Tate in einem Interview erklärt. Schließlich wird nur der von Geistern heimgesucht, der an Geister glaubt. Logisch.

Schöne alte Geschlechterwelt

Männer sind außerdem Opfer. Sie leben in einer Gesellschaft, in der Frauen viel mehr wert sind. Deren Rolle ist klar definiert: “Dein Job als Frau ist es, Männer gut aussehen zu lassen.” Frauen haben kein Interesse daran, die Welt zu erobern. Nicht so wie Männer. Um es mit den Worten von Andrew Tate zu sagen: “Zeige einer Frau, wie sie 1.000 Dollar pro Stunde verdienen kann und sie wird denken: ‘Ich kann 2 Stunden pro Woche arbeiten.’ Wenn Sie einem Mann zeigen, wie er 1.000 Dollar pro Stunde verdienen kann, wird er denken: ‘Ich kann 18.000 Dollar pro Tag verdienen.’” Ein moderner Konfuzius.

Eine Gemeinsamkeit bieten alle Videos: Ich bekomme eindeutige Antworten. Nuancen suche ich vergeblich. Für Susanne Kaiser ist das wenig überraschend. Einerseits gäbe es viele progressive Anforderungen an junge Männer, andererseits würden Vorbilder und Werbung vor Klischees nur so strotzen. “Dieses Spannungsfeld macht sie offen für ein Weltbild, das schwarz-weiß funktioniert und klare Lösungen anbietet. Darin ist alles eigentlich ganz einfach.”

Eine Besonderheit bei TikTok: Je länger ich am Stück schaue, desto extremer treibt mich der Algorithmus in eine Richtung. Nach dutzenden Videos, in denen ich fast ausschließlich Andrew Tates Weisheiten ertragen muss, beende ich die Session. Die Vorfreude auf die nächsten 300 TikToks hält sich in Grenzen.

Tag 2: Die Ratschläge werden extremer

Zwei Tage später ist Tate nicht mehr ganz so präsent. Doch der Algorithmus hat mich in eine Ecke gedrängt. Und der Algorithmus liefert.

Andere Posterboys der Manosphere tauchen jetzt auf. Jordan Peterson etwa, ein kanadischer Psychologe, von Rechtsextremen und Antifeministen gefeiert. In den Videos – mit so Titeln wie “Jordan Peterson shuts down feminist!” – wirkt er, als würde er wegen all der Ungerechtigkeiten, die Männern widerfahren, jeden Moment zu weinen beginnen.
 

 
 

Die Aufnahme ist nach etwa 400 TikToks entstanden. Mittlerweile sehe ich praktisch nur mehr Accounts, die der Manosphere zuzuweisen sind.

Die Ratschläge werden jetzt extremer. Deine Freundin will nicht, dass du einfach in ihr Handy schaust? Das ist ein Hinweis darauf, dass sie mit anderen schläft. Stiehl dir das Handy und schau nach. Sie ist plötzlich besser im Bett? Auch das kann natürlich nur eines bedeuten.

Die auffälligste Veränderung ist aber, dass sich immer mehr Verschwörungsmythen in die Aussagen mischen. Vor allem Andrew Tate tut sich dabei hervor. Immer wieder trichtert er mir ein, dass ich in der “Matrix” lebe. Und nur er hat das Rezept, sie zu verlassen. Die Matrix ist eine Mischung aus “den Mächtigen” und den “Mainstream-Medien”. Besonders Männer leiden laut Tate unter ihrer Gefangenschaft in der Matrix. Sie bilden das Rückgrat der Sklavenarbeit, die darin geleistet wird. Die Matrix will nicht, dass du das alles weißt. Sie bietet Tate immer wieder Geld, damit er sie unterstützt. Er opfere sich jedoch auf – denn er sei schließlich frei. 

 
Andrew Tate tweetet über die "Matrix" und dass er bald umgebracht werden könnte.

Fix im Repertoire der Verschwörungsmythen: die Matrix. 

Tate reiht sich mit diesen Anspielungen in eine längere Entwicklung ein. “Alles, was wir an verschwörungsideologischem Input in den letzten Jahren sehen, hat irgendwie mit der Matrix zu tun. Dieses ‘red pilling’ finden wir überall”, so Kaiser. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Film “Matrix”. In einer Szene kann Keanu Reeves die blaue oder die rote Pille wählen. Nimmt er letztere, wacht er auf und kann die unangenehme Wahrheit akzeptieren. “Das Konzept verbindet Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus. Man ist dabei sehr schnell bei so Verschwörungen wie dem Großen Austausch’, sagt Kaiser. Wieder ein “rabbit hole” also.

Wie alle anderen Verschwörungsideologien wird einem auch hier “die Wahrheit” geboten. Andrew Tate verbindet das mit den Sehnsüchten junger Männer. Erfolg bei Frauen, Selbständigkeit, Reichtum. Verschwörung und Frauenhass – aber sexy. 
 

Ein Schrecken mit Ende

Nach 600 Videos reicht mir der Cocktail. Ich wurde von teilweise sehr reichen Männern ausführlich darüber informiert, wie ich mich als Mann zu verhalten habe, wie ich mit Frauen umgehen muss und wer Schuld daran ist.

Es ist leicht, sich darüber lächerlich zu machen. Doch die traurige Wahrheit ist, dass unzählige Buben Andrew Tate und Männer wie ihn bewundern und anbeten. Lehrer:innen berichten darüber, wie manche Burschen Frauen und Mädchen nur mehr als “Löcher” bezeichnen oder keine Geschichten von Autorinnen lesen wollen, weil Frauen laut Tate den Haushalt machen müssen. 

TikTok macht diesen Erfolg möglich. Durch die Funktionsweise der App muss man nicht mehr nach misogynen Inhalten suchen. Man muss nicht einmal besonders interessiert daran sein. Die Videos finden einen auch so, wie ich selbst erleben musste. Und sobald einen der Algorithmus in diese Ecke drängt, kann man nur ganz bewusst wieder daraus aussteigen. 

Andrew Tate wurde eigentlich wegen gefährdender Inhalte gesperrt. Verfügbar sind sie immer noch – wenn auch wohl nicht in der extremsten Form. Auf eine Nachfrage, ob das so gewollt sei, oder ob es noch weitere Moderation seiner Videos geben wird, hat bei TikTok niemand reagiert. 

Ich kann zumindest wieder zu meiner alten For You Page zurückkehren, die mich als katzenliebende lesbische Frau mit psychischen Problemen und einem Faible für Kochvideos einschätzt. Und kann ignorieren, welche anderen Seiten es noch gibt. 

 

In Teil 2 dieser Geschichte nehmen wir dich auf einen weiblichen Selbstversuch mit – du erfährst, was Mädchen und Frauen auf TikTok angezeigt bekommen. Abonniere unseren Newsletter, um den nächsten Teil nicht zu verpassen.

 
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