Warum die EU-Klimastrategie eine riskante Wette ist: “Nicht klar, ob diese Technologien funktionieren”
Bis zur Jahrhundertmitte soll Europa der "erste klimaneutrale Kontinent der Welt" werden. Doch die Klimastrategie der EU ist eine Einladung zum klimapolitischen Schlendrian. Das macht sie gefährlich.
Mit der Klimakrise verhält es sich in etwa so wie mit Weihnachtskeksen: gute Vorsätze sind nicht alles. Man kann, mit dem festen Vorsatz, später noch Sport zu treiben, ruhigen Gewissens ein paar Kekse in sich hineinstopfen. Die Rechnung wird aber nur aufgehen, wenn man später tatsächlich Sport treibt.
Ähnlich verhält es sich mit der Klimastrategie der Europäischen Union: sie sieht vor, lieber heute noch etwas über die Stränge zu schlagen, das ökologische Fitnessprogramm der Zukunft soll dafür umso radikaler ausfallen. Eine riskante Wette – und die EU wäre gut beraten, bereits heute etwas weniger Kekse zu essen.
Europa soll der „erste klimaneutrale Kontinent der Welt“ werden
Im Pariser Klimaabkommen vom Dezember 2015 einigten sich seinerzeit 195 UN-Mitgliedsstaaten darauf, den globalen Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2 und möglichst 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Im vergangenen Jänner lag die globale Durchschnittstemperatur bis Oktober bereits 1,2 Grad über dem Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1900. Viel Zeit bleibt also nicht mehr.
Die EU will nun eine “Vorreiterrolle” im Kampf gegen die Klimakrise einnehmen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen kündigte im März 2020 an, Europa soll bis zum Jahr 2050 der „erste klimaneutrale Kontinent der Welt“ werden.
Das klingt deutlich ambitionierter, als es ist, kritisiert Etienne Schneider, der am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zur EU-Klimapolitik forscht. „Beim Schlagwort ‚Klimaneutralität‘ haben wir das Problem, dass in der Öffentlichkeit nicht angekommen ist, was das wirklich bedeutet“, betont Schneider.
Was klimaneutral bedeutet
„Klimaneutral“ bedeutet nicht, dass die EU keine Treibhausgase mehr verursacht. Gemeint ist nur, dass sie nicht mehr Treibhausgase produziert, als sie andernorts einspart.
Die EU-Klimastrategie sieht dabei den großflächigen Einsatz sogenannter „Negativ-Emissionen-Technologien“ (NETs) vor. Diese sollen Treibhausegase wieder der Atmosphäre ziehen können – und Europa auf diese „klimaneutral“ machen.
Wir essen also weiter ziemlich viele Kekse, nur versprechen wir, die überschüssigen Kalorien später wieder los zu werden, indem wir auch brav Sport treiben.
Wir wissen nicht, ob diese Technologien funktionieren werden
Die Krux: In der Klimastrategie der EU sind NETs fix miteinberechnet – „aber es ist gar nicht klar, ob diese Technologien funktionieren“, warnt Schneider. „Sicherer wäre es, besser nicht damit zu kalkulieren“.
Doch ohne den Einsatz von NETs müsste die europäische Klimapolitik deutlich radikaler ausfallen. Der Ausstoß von Treibhausgasen müsste dann schon heute drastisch sinken. Was mit umfangreichen – und möglicherweise unbequemen – Einschnitten in unseren Alltag verbunden wäre – und nicht zuletzt den Profitinteressen diverser Unternehmen zuwiderläuft.
Eine Einladung zum klimapolitischen Schlendrian
Politikwissenschafterin Alina Brad forscht ebenfalls am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien zu internationaler Umwelt- und Ressourcenpolitik. Sie sieht noch einen weiteren problematischen Punkt: NETs sind eine Einladung, aus ihrer Sicht dringend benötigte soziale und ökologische Reformen aufzuschieben – eine Einladung zum klimapolitischen Schlendrian.
Aber sollte sich im Jahr 2040 rausstellen, dass die ein oder andere Modellrechnung nicht ganz aufgeht, wie erwartet – ist es zu spät, erklärt Brad. Außerdem sei nicht gesagt, dass die Gesellschaft die jeweilige Maßnahme zum gegebenen Zeitpunkt auch mitträgt. Oft hat man mit einem vollen Keksbauch eben einfach keine Lust mehr auf Sport.
Eine EU voller Eukalyptus
Die größte klimapolitische Hoffnung der EU trägt den Namen BECCS (engl. bioenergy with carbon capture and storage): Durch den Anbau von Biomasse, also zum Beispiel Pappeln oder Eukalyptus, soll CO2 gebunden und durch deren Verbrennung Energie gewonnen werden. Das CO2, das bei der Verbrennung entsteht, soll wiederum unterirdisch gelagert werden.
„Technologisch ist das kein Wunderwerk“, erklärt Schneider. Im kleinen Rahmen zumindest. Doch laut den Intergovernmental Panel on Climate Chance (IPCC) wären zwischen 300 und 800 Millionen Hektar Biomasse nötig, um der Atmosphäre im ausreichenden Maße CO2 zu entziehen. Zum Vergleich: Die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union messen zusammen rund 414 Millionen Hektar.
Für Brad ein Ding der Unmöglichkeit: „die Auswirkungen für Land, Wasser und Biodiversität wären verheerend“. Neben den ökologischen Folgen warnt Brad vor sozialen Konflikten, die entstehen können, wenn Landflächen, die bisher für die Lebensmittelproduktion vorgesehen sind, den Anbauflächen für Biomasse weichen müssten.
Klimakrise könnte Technologie zerstören
Unklar ist außerdem, ob BECCS bei steigenden Temperaturen so funktionieren, wie die Klimamodelle der EU das prognostizieren. Waldbrände, bisher unbekannte Schädlinge und Krankheiten – all das sind Faktoren, die mit der Erderhitzung auftreten und zukünftig noch mehr auftreten werden. Ob die Technologie dann überhaupt in dem benötigten Ausmaß zum Einsatz kommen könne, sei unklar, warnen Brad und Schneider.
Um bei den Weihnachtskeksen zu bleiben: sogar wenn wir neben unserem Kekskonsum ausreichend Sport treiben, können wir nicht genau vorhersagen, welche Langzeitfolgen die Unmengen Zucker und Fett für unseren Körper haben werden.
Bleibt die Frage offen: Wäre das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens auch ohne den Einsatz von NETs noch zu erreichen? „Ich mache mir da keine Illusionen“, sagt Brad, „ich denke, dass die Chance, dieses Ziel zu erreichen, äußerst gering ist“.
„Es ist immer noch eine politische Entscheidung“
Schneider warnt jedoch vor zu viel Pessimismus: „Es ist wichtig zu betonen, dass es immer noch eine politische Entscheidung ist“.
Um das Pariser Klimaziel ohne den Einsatz von NETs zu erreichen, müsste die globale Emissionskurve ab nächstem Jahr steil abfallen, laut dem UNEP Emission Gap-Report bis 2030 rund 7,6 Prozent jährlich. Zum Vergleich: Im Corona-Jahr 2020 gingen die Emissionen im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent zurück.
Unmöglich ist das also nicht. Wir wären aber gut beraten, nicht nur mehr Sport zu treiben, sondern schon heute weniger Kekse zu essen.
GesprächspartnerInnen:
Alina Brad ist Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht zu internationaler Klimapolitik.
Etienne Schneider ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht zu europäischer Wirtschaftsintegration und EU-Klimapolitik.