Warum die rührselige Armuts-Doku im ORF einfach nicht gut genug ist
Über Armut zu berichten, ist anspruchsvoll. Rohe Zahlen, nackte Statistiken liefern Daten, das menschliche Leid können sie nicht spürbar machen. Da ist es mehr als verlockend Einzelschicksale zu berichten. Der aktuelle DOK1 Film “Arm in Österreich” versucht das. Das ehrliche Bemühen, dem Thema Öffentlichkeit zu verschaffen, ist so spürbar wie der Wunsch nach Linderung von Armut. Trotzdem: Auf dem schmalen Grat zwischen Betroffenheit und Tränendrüsen-Journalismus rutscht der Film leider aus.
Über Armut zu berichten, ist anspruchsvoll. Rohe Zahlen, nackte Statistiken liefern Daten, das menschliche Leid können sie nicht spürbar machen. Da ist es mehr als verlockend Einzelschicksale zu berichten. Der aktuelle DOK1 Film “Arm in Österreich” versucht das. Das ehrliche Bemühen, dem Thema Öffentlichkeit zu verschaffen, ist so spürbar wie der Wunsch nach Linderung von Armut. Trotzdem: Auf dem schmalen Grat zwischen Betroffenheit und Tränendrüsen-Journalismus rutscht der Film leider aus.
ORF Doku über Armut will das Richtige
Der Film baut die Erzählung von Armut in Österreich über die Porträts tragischer Einzelfälle. Die arme Alleinerzieherin, der ehemalige Obdachlose, die fleißige Flüchtlingsfamilie: Schablonen, zu denen in der Vorweihnachtszeit allzu gern gegriffen wird. Mit dramatischer Musik werden einzelne Szenen untermalt, damit auch der allerletzte begreift, dass er jetzt endlich das Taschentuch rausholen soll. Das Glück ist ein Vogerl, nimmt der Zuschauer mit, manchmal trägt einen das Leben ganz schnell aus der Kurve. Dankbar aber, dankbar, das sind sie, die Armen.
Über Armut in Österreich weiß ich mehr als ich wissen möchte. Ich bin in sie hineingeboren worden. Es kostete mich früher Überwindung, darüber zu erzählen. Ich bildete mir ein, dass nicht die Scham der Grund dafür ist, sondern die Sorge vor Entfremdung. Wenn ich erzählte, wo ich herkomme, merkte mein Gegenüber, wie weit weg das von ihm und seinem Leben war. Dann schauten wir beide in den Graben und schwiegen. Ich musste mich dann anstrengen. “Ja, so tief ist der ja nicht. Schau, arbeiten mussten wir doch beide während des Studiums.“
Mit jedem Stein, mit dem ich versuchte eine Brücke zu bauen, wurde der Graben größer. Schwieg ich darüber, wo ich herkam, hatte ich zumindest keine Arbeit damit, den anderen für meine Herkunft zu trösten. Je älter ich werde, desto leichter fällt es mir davon zu erzählen. Vielleicht weil ich gelernt habe, das Unbehagen der anderen auszuhalten. Jedenfalls habe ich gelernt, die Ambivalenz zu ertragen, die für jedes arme Kind in dem Satz “Ich hatte eine schöne Kindheit” steckt. Meine Kindheit war schön, ja. Ich wurde geliebt und umsorgt. Das ist genauso wahr wie der Satz: Meine Kindheit war furchtbar. Auch weil Geldsorgen Familien an die Belastungsgrenze und darüber hinaus schieben. Von dieser Ambivalenz könnte die ORF-Reportage erzählen – leider reicht es dafür nicht annähernd.
DOK1 stellt die falschen Fragen
In einer Szene besucht die Journalistin eine alleinerziehende Mutter und deren Sohn zu Hause im Gemeindebau. Was er sich denn zu Weihnachten wünsche? “Nicht viel, eigentlich gar nichts,” antwortet der Bub. Die Journalistin besteht auf einer Antwort: Wenn er was auf seinen Wunschzettel schreiben müsste? Da muss er schon darüber nachdenken, sagt er. Eine kurze Nachdenkpause, trotzdem, der 12-Jährige bleibt bei seiner Antwort. Er hat keinen Wunsch. Die Journalistin ist überrascht und lacht: “Du wünscht dir nichts zu Weihnachten? Na, du bist aber wirklich bescheiden!” Nein, möchte ich ihr zurufen, schreien will ich es. Der Bub ist nicht bescheiden, der Bub ist arm.
Wer als armes Kind geboren wird, weiß um die Last, die die Eltern tragen. Die Last ist unsichtbar, sie wird nicht ansprochen, nie erklärt, nicht in Worte gefasst. Ein armes Kind weiß davon, wie es weiß, dass der Himmel blau oder Wasser nass ist. Die Armutslast der Eltern ist so naturgesetzlich wie die Schwerkraft. Jedes arme Kind hat den Wunsch, dass die Mama, der Papa nicht mehr arm sind. Und nicht, weil dann das Paradies ausbricht, und man mehr Spielzeug bekommt, als man in sein winziges Kinderzimmer stopfen kann. Nein, weil es den Eltern eine Last nehmen will.
Kinder wollen helfen
So gut es kann, hilft ein Kind, diese Last zu lindern. Es äußert keinen Wunsch, denn es weiß zu gut, dass die Eltern ihn nicht erfüllen werden können. Wer seinem eigenen Kind nichts schenken kann, der leidet – das spürt das Kind und verhält sich loyal zu den Eltern, die es liebt. Wer ein armes Kind fragt, was es sich zu Weihnachten wünscht, prüft eigentlich ab: Liebst du die Mama? Liebst du den Papa?
Jedes Kind versucht die Armutslast der Eltern zu lindern so gut es kann. Ich versuchte seit der Volksschule irgendwie Geld aufzustellen. Zuerst bestickte und beklebte ich kleine Holzkistchen, Bilderrahmen, solche Sachen. Sie waren über die Schmerzgrenze kitschig, im erweiterten Familienkreis verkaufte ich sie um ein paar Schilling. Ich bildete mir ein, mit dem bisschen Geld meine Familie zu entlasten. Ich schrieb, editierte und produzierte eine Familienzeitung. Wieder ein paar Schilling. Da geht doch noch mehr, denke ich.
Mein erster Job
Lange bevor ich offiziell arbeiten darf, suchte ich mir einen richtigen Job. “Ja, mein Sohn ist …. vier Jahre alt”, sagte der Mann. Ich stand im Vorzimmer, den Telefonhörer am Ohr. Ich zwirbelte die Telefonschnur um meinen Zeigefinger. “Ja, also auf den kann ich gern aufpassen. Brauchen Sie mich eher nachmittags oder abends?” Ich kannte den Mann am anderen Ende der Leitung nicht, er hatte auf meine Anzeige im Kleinanzeigen-Blatt “Bazar” reagiert: “Babysitterin mit viel Erfahrung passt gern stundenweise auf ihr Kind auf.”
Der Mann räusperte sich. Ich horchte. Er sagte etwas, ich verstand ihn nicht, wollte ihn vielleicht nicht verstehen. “Entschuldigen Sie, ich habe Sie leider grade nicht verstanden?”, fragte ich nach. “Ob du denn auch nackt arbeitest, will ich wissen? Zumindest nur in deiner kleinen Unterhose?” wiederholt der Mann. Es rauschte in meinen Ohren, mein Herzschlag beschleunigte, ich vergaß weiterzuatmen. Dann erst legte ich endlich auf. Ich war 13 Jahre alt. Auf diesen einen folgten weitere obszöne Anrufe, tagelang verbat meine Mutter uns Kindern ans Telefon zu gehen.
Ich wusste trotzdem, wenn wieder einer angerufen hatte, hörte sie wilde Beleidigungen ins Telefon zischen. Ein Anruf aber war ernst gemeint. Ich passte nachts auf einen kleinen Buben in Favoriten auf. Seine Mama musste arbeiten. Wenn sie morgens um drei heimkam, sah sie müde aus. Das Taxi nachhause war im Lohn inklusive.
ORF-Doku interessieren Einzelschicksale
In einer anderen Szene der ORF-Doku will die Journalistin aus dem Buben herauskitzeln, wie es sich anfühlt, so arm zu sein, “Bist du da auch, wie sag‘ ich das jetzt, manchmal traurig?”, fragt sie mit betroffenen Blick und sorgenvollem Lächeln. Der Bub ist seiner Mutter wieder loyal. Nein, sagt er. Traurig ist er nicht. “Normal, halt. Mir ist das egal.” Der Mangel an Geld ist für den Buben wahrscheinlich das kleinste Problem, auch wenn sich die Journalistin das augenscheinlich kaum vorstellen kann. Wer in die Enge der Armut hineingeboren wird, der wächst nicht so schnell darüber hinaus. Man kuschelt sich hinein, lernt die Wärme zu genießen, die damit einhergeht. Ein Kinderleben fühlt sich nicht traurig an, man spürt kein Defizit. Es ist, wie es ist. Und eben auch voller Liebe und Lachen und Wärme und Nähe, die nur kennt, wer in die Enge geboren wird. Wer sich als Kind sein Bett teilt, lauscht nachts sein Leben lang auf den Atem Anderer im Zimmer. Bleibt es still, fehlt etwas.
DOK1: Traurigkeit ändert nichts
Der Fokus auf das tragische Einzelschicksal verstellt im DOK1 Film Wesentliches: er zeigt keine gesellschaftlichen Ursachen, keine politischen Lösungsansätze, keine Ansprüche, und erst recht keine Verantwortlichen. Da hilft auch das pflichbewusste Einblenden von Statistiken nicht. Zahlen schockieren vielleicht (500.000 Menschen in Österreich sind auf Angebote wie die Tafeln, eine ehrenamtliche Essensausgabe angewiesen), sie liefern aber keinerlei politschen Kontext. Und wenn ich nach all dem nicht frage, bleibt nur die Frage: “Bist du traurig? Seine Kindheit macht den Buben nicht traurig. Was ihn vielleicht – hoffentlich – irgendwann wütend macht: dass Österreich eine Klassengesellschaft ist, die so tut, als wäre sie keine. Und er, selbst wenn er sich noch so anstrengt eine verschwindend kleine Chance hat, es einmal besser zu haben als seine Mutter.
In nüchternen Zahlen sieht diese Klassengesellschaft so aus: Das eine, reichste Prozent besitzt fast 40 Prozent des Privatvermögens, das ist mehr als die ärmeren 90 % der Bevölkerung zusammen haben. Die kleinsten Einkommen haben heute eine geringere Kaufkraft als vor 20 Jahren. In einem der reichsten Länder der Erde gelingt es nicht Kinderarmut in den Griff zu bekommen.
Armut wäre abschaffbar
Die Hebel, um Kinder und ihre Familien aus der Armut zu holen, sind alle da. Die Volkshilfe hat schon vor Jahren ausgerechnet, was es kostet, Kinderarmut in Österreich abzuschaffen. 2 Milliarden Euro. Das braucht es für die Kindergrundsicherung, um allen Kindern ein materiell abgesichertes Leben zu ermöglichen. Zum Vergleich: Allein die klimaschädliche Subventionen, die etwa die Anschaffung von Dienstwägen fördern, lässt sich die Republik fast 5 Milliarden Euro jährlich kosten.
Ein anderer wesentlicher Hebel sind Kindergärten. Wer in eine arme Familie geboren wird, profitiert überdurchschnittlich von den Bildungsangeboten zu Beginn seines Lebens. Was die Familie selbst nicht schafft, kann der Kindergarten zumindest teilweise wieder gutmachen, wenn man ihn ausreichend finanziert und die Pädagog:innen anständig bezahlt. Österreich verpasst Jahr für Jahr das EU-weite Ziel in der Betreuung von Kleinkindern. Jede dritte Teilzeitanstellung in diesem Land wird durch Betreuungspflichten ausgelöst; in Dänemark, mit hoher Kindergarten-Dichte, ist es gerade einmal jede 50.
Wer weniger arbeitet (weil meist sie und selten er die Kinder betreuen muss) verdient auch weniger, hat weniger Aufstiegschancen, am Ende eine lächerlich kleine Pension. Anders gesagt: Wer keine Kindergärten baut, und sei es auch nur aus eigennützigen Karrieremotiven wie Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, schadet armen Familien gleich mehrfach.
Bildung allein ist nicht die Lösung
Bildungsangebote aber werden nicht lösen was Besitzverhältnisse ausmachen. Wer arm ist, trägt ein Stigma. Er gilt als weniger vertrauenswürdig, hat sich vielleicht nicht genug angestrengt, also irgendwie schuldig gemacht. Diese Grundschuld webt sich in den Alltag eines armen Kindes. Die Armut ist eine Bewertungs-, eine Einteilungskategorie, ähnlich der Kategorie Mädchen. “Wenn du lächelst, dann schaust du viel hübscher aus” sagt man zu mir, weil ich ein Mädchen bin. “Ich bin einfach unsicher, ob du das Gymnasium wirklich schaffst,” sagt man zu mir, weil ich ein Arbeiterkind bin.
Dabei wollen alle Eltern das Beste für Ihr Kind. Für die einen bedeutet das, Babyschwimmen besuchen, musikalische Früherziehung buchen, Lebkuchenhaus basteln. Die anderen hängen nach der Schicht noch ein paar Stunden dran, fahren Nachtschicht, gehen am Wochenende rein, die Zulage ist wichtig, die Kinder brauchen Winterschuhe. Die sind jetzt dringender als die Zeit, die man braucht um bei der Hausübung helfen zu können.
ORF-Doku deckt strukturelle Gründe für Armut nicht auf
Unser Schulsystem ist dafür gebaut, dass alle erstmal bleiben, wo sie sind – auch wenn einzelne Lehrkräfte noch so engagiert sind. In der Schule lernen Kinder Lesen, Schreiben, Rechnen. Nicht am Lehrplan, aber genauso wichtig ist, dass sie lernen, wo ihr Platz ist. Das in aller Offenheit zu sagen, birgt die Gefahr, dass wir irgendwann gegen eine Gesellschaftsordnung rebellieren, in der wenige viel und sehr viele ganz wenig haben.
Zur Absicherung der Verhältnisse wird das Aufstiegsversprechen geboten, ein hochwirksames Beruhigungsmittel. Das gibt Hoffnung und hält ordentlich beschäftigt. Was es nicht gebracht hat (und nicht bringen soll): ein Ende der sozialen Ungleichheit: Von 100 Arbeiterkindern beginnen 22 ein Bachelorstudium. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten beginnen 67 ein Bachelorstudium.
In jeder Sonntagsrede wird betont, wie wichtig Bildung sei. Wer aber sagt: Mit der besten Bildung lösen wir soziale Ungleichheit auf, der schreibt ins Kleingedruckte: Du bist halt schon auch selbst schuld, wenn du nicht anständig lernst, wenn du nicht anständig leistest. Wenn du den Aufstieg schaffen willst, dann streng dich an. Im Umkehrschluss heißt das: Schaffst du ihn nicht, dann hast du einfach nicht genug geleistet. Deine Armut damit selbst verschuldet. Ergo: Dein Problem.
DOK1 lässt Politik aus der Verantwortung
Dabei ist es genau umgekehrt. Armut in reichen Gesellschaften ist Politikversagen. Wirksame Armutsbekämpfung ist institutionell, nicht individuell. Solche individualisierten Lösungsansätze sind aber die einzigen, für die in der ORF-Dokumentation Platz war.
Dabei habe ich größten Respekt vor jedem einzelnen engagierten Menschen, der in der Dokumentation vorgestellt wird. Sie handeln, wo andere wegschauen. Aber sie können eine Sozialpolitik nicht ersetzen. Einfach einen zweiten Kaffee für eine Person mitbezahlen, die nicht genug Geld dafür hat – und damit Menschen zu zwingen, im Kaffeehaus ihre soziale Bedürftigkeit vor aller Augen für eine Tasse Kaffee zu offenbaren? Das reicht hinten und vorne nicht.
Zu Weihnachten Geld und Zeit für arme Menschen spenden, wie es auch die Dok1-Redaktion mit einem Weihnachtsfestessen für die porträtierten Menschen zum Ende der Dokumentation tut? So ehrenwert dieses persönliche Engagement auch ist, es ist ein Almosen. Ein Almosen kann ich nicht einfordern, ich habe kein Recht darauf. Almosen sind milde Gaben. Wem Gaben gewährt werden, von dem wird Dankbarkeit erwartet. Wer um Gaben betteln muss, schämt sich. In einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, die ihren enormen Wohlstand gemeinschaftlich erwirtschaftet, sind Almosen für Arme ein Skandal.
Eine Dokumentation über Armut, die diesen Skandal nicht herausarbeitet, sondern auf dem Schirm unmittelbar reproduziert, wird deshalb – auch bei noch so hehren Motiven – dem öffentlich-rechtlichen wie dem eigenen Anspruch nicht gerecht.