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Gesundheit
Ungleichheit

Weiß, reich und hetero: Warum Psychotherapie in Österreich offener werden muss

Weiß, reich und hetero: Warum Psychotherapie in Österreich offener werden muss
Psychotherapie wird in Österreich von Privilegierten für Privilegierte praktiziert - zum Leidwesen von Minderheiten.
 

Achtung: Dieser Artikel enthält transfeindliche und rassistische Aussagen. Wenn dich das triggert, lies ihn bitte nicht.

 

Wer Psychotherapie bekommt oder auch anbietet, entscheidet in Österreich nicht nur die Geldbörse, sondern auch Hautfarbe und sexuelle Identität. Minderheiten können nur auf wenige Angebote zurückgreifen, weil sie bei vielen Therapeut:innen mit Diskriminierung rechnen müssen. Denn die meisten sind ebenfalls weiß, heterosexuell und bürgerlich.

Nathalie ist 27 Jahre alt und trans. 2018 beantragt sie Hormontherapie und eine Namensänderung. Die Behörden verlangen dafür unter anderem das Gutachten einer Psychotherapeut:in. Nathalie besucht eine Therapeutin mittleren Alters, die Kosten dafür übernimmt sie selbst. Sie glaubt, dass sie ihr Gutachten schnell bekommen wird.

Die Therapie erstreckt sich allerdings über acht mühsame Einheiten. “Es war erniedrigend”, sagt Nathalie heute. Ihr Gegenüber wühlt in ihrer Kindheit nach einer Rechtfertigung für ihren “Zustand”, will ausforschen, ob es sich nur um einen “Fetisch” handle. “Sie suchte nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, der nicht stattgefunden hat”. Wenn Nathalie viel Mascara vor der Sitzung aufträgt, merkt die Therapeutin an, dass sie “Fortschritte” mache. “Sie wollte Teil eines Prozesses sein, der für mich schon längst abgeschlossen war”.

Die Therapiesuche ist für queere Menschen ein Glücksspiel

Leistbare Psychotherapie zu finden, ist für niemanden in Österreich einfach. Marginalisierte Gruppen wie die LGBTQIA+-Community müssen allerdings nach Nadeln im Heuhaufen suchen – weil sie in vielen Therapiezimmern nicht vor Diskriminierung geschützt sind. “Viele geben auf, weil sie immer wieder von vorne anfangen müssen”, erzählt Nathalie, die auch andere Erfahrungsberichte aus der Community kennt.

Dabei weisen gerade diskriminierte Minderheiten ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf. Viele leiden unter sogenanntem “Minoritätenstress”. Das bezeichnet die psychische Belastung durch Diskriminierung und körperliche Gewalt, ein Leben im Geheimen und der Angst vor dem Outing. trans Menschen sind besonders betroffen: In Deutschland kämpfen 40% mit einer Angststörung, in Österreich gibt es noch keine vergleichbaren Studien: Das Problem findet kaum Beachtung.

Community sucht passende Therapeut:innen

Um queeren Menschen bei der Suche zu helfen, hat Julius Jandl im vergangenen Jahr das Verzeichnis queermed.at gegründet. Das Portal sammelt queerfreundliche Ärzt:innen und Therapeut:innen – jene Nadeln im Heuhaufen. “Ich suchte selbst eine Gynäkologin, da ist mir aufgefallen, dass es so ein Verzeichnis dringend braucht”, sagt Julius, der selbst trans ist und die Website im Alleingang erstellt hat. Mitglieder der Community senden ihm ihre positiven Erfahrungsberichte, mit denen er das Verzeichnis ergänzt.

“Um auf meine Liste zu kommen, müssen Therapeut:innen gleichgeschlechtliche Beziehungen ernst nehmen, anstatt zu hinterfragen”, sagt Julius. Dazu gehört auch, die gewünschten Pronomen und Namen der betroffenen Personen zu verwenden und alle Beziehungen jenseits der angeblichen Norm der Heterosexualität wertzuschätzen.

Nathalie begrüßt das Projekt, weist aber auch darauf hin, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten kann. Sie selbst war bei einem übergriffigen Psychiater, den sie später im Verzeichnis fand und meldete. Einen Vorwurf macht sie Jandl deshalb nicht.

Jandls Liste zählt 107 Therapeut:innen, insgesamt gibt es in Österreich über 10.000. Die meisten der gefundenen Positivbeispiele leben im städtischen Raum, über die Hälfte in Wien. Das Angebot für queere Menschen bleibt begrenzt. Besonders schwierig wird es für Vorarlberger:innen: Dort empfiehlt Jandls Liste nur eine Therapeutin.

“Ich wäre gern so braun wie du”

Auch Rassismus macht keinen Halt vor der Tür des Therapiezimmers. Die 23-jährige Miriam* ist Schwarz und seit sieben Jahren mit Unterbrechungen in Therapie. Fünfmal hat sie bereits abgebrochen und gewechselt – bei weißen Therapeut:innen fühlte sie sich nie wohl. “Ich wurde in der Schule aufgrund meines Aussehens rassistisch gemobbt”, erzählt sie. Wenn sie das in der Therapie ansprechen wollte, hieß es nicht nur einmal: “Bist du dir sicher, ob das überhaupt Rassismus ist?”

Miriam missfiel auch, wie die Therapeut:innen ihr Aussehen ansprachen. Wenn sie vom schlechtes Verhältnis zu ihrem Körper erzählte, hieß es mitunter “du hast doch so schöne Locken” oder “ich wäre gern so braun wie du”. Dass ihre Familie muslimisch lebt, wurde ungefragt zum Thema: “Es kam immer die Frage, ob mein Vater oder mein Bruder sehr streng mit mir seien.” Dabei hätte sich Miriam gewünscht, selbst darüber zu entscheiden, ob und wie sie über ihre Familie spricht. “Die haben mich immer direkt mit ihren Vorurteilen konfrontiert“, erzählt sie.

Therapeut:innen fehlt die rassismuskritische Perspektive

Mittlerweile hat Miriam über das Projekt “Wir sind auch Wien”, das Therapeut:innen of Colour an Betroffene vermittelt, eine Schwarze Therapeutin gefunden. “Mir fällt erst heute auf, wie sehr mir das immer gefehlt hat”. Ihre Therapeutin erkennt das, was Miriam als Schwarze Person täglich widerfährt, als Rassismus an. “Ich bin mir sicher: Hätte ich sie mit 16 schon gehabt, müsste ich heute nicht in Therapie.“

Die Therapeutin Leonore Lerch, Vorsitzende des Wiener Verbands für Psychotherapie, erklärt in einem Interview, dass es der Berufsgruppe sowohl an Vielfalt als auch an Bewusstsein fehle, dass Rassismus selbst ein Faktor für psychische Erkrankungen ist. Sie gibt an, Schwarze Therapeut:innen in Wien an einer Hand abzählen zu können. Weiße hingegen deuten die Erfahrungen der Betroffenen oft um und machen sie zur Bagatelle.

“Die denken alle, Rassismus passiert nur bei der FPÖ oder den Identitären”, sagt Miriam. Dabei sind People of Colour nahezu täglich Rassismus ausgesetzt. Lerch nennt Beispiele wie Blicke in der U-Bahn, Kommentare in der Schlange im Supermarkt, Absagen von Vermietern und Arbeitgeberinnen. Diese sogenannten Mikroaggressionen schaffen Nährboden für Angsterkrankungen oder Depressionen.

Das trifft vor allem Geflüchtete in Österreich. Neben Minoritätenstress leiden viele unter Flucht- oder Kriegstraumata, laut Sozialministerium haben 30-40% mit Depressionen zu kämpfen. Das Angebot für sie ist ebenfalls begrenzt, scheitert es doch oft bereits am Fremdsprachenangebot: Neben einigen Vermittlungsstellen, die Psychotherapie explizit für Personen mit Migrationserfahrung anbieten, finden Betroffene online nur 20 in ganz Österreich, die zum Beispiel Arabisch als Zweitsprache angeben.

Ausschlussgrund Nummer 1 bleibt die Armut

Neben Diskriminierung bleiben auch die hohen Preise für Psychotherapie ein Grund dafür, dass marginalisierte Gruppen in der Therapie zu kurz kommen.

Wer wenig Einkommen hat und eine Therapie sucht, muss auf einen der aktuell 70.000-80.000 Kassenplätze in Österreich hoffen. Wer keinen bekommt, muss die Therapie zum größten Teil selbst zahlen. Pro Jahr kann das bei wöchentlicher Therapie um 5.000 Euro kosten. Hinzu kommen Rezeptkosten und der Besuch bei Psychiater:innen, deren Feld ebenfalls nur wenige Kassenplätze vorsieht. In einer Umfrage geben 2 von 3 Menschen an, sich das gar nicht erst leisten können. Viele psychischen Erkrankungen bleiben ein Leben lang unbehandelt.

In Österreich sind 17,5% der Menschen armutsbetroffen, viele von ihnen haben mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen. “Armut macht krank” zählt auch für die Psyche. Oft entsteht ein Teufelskreis: Psychische Erkrankungen führen erst zur Verarmung. Im Anschluss verstärkt die Armut die Probleme umso mehr.

Ambulanzen wie die des ÖAS bieten Sitzungen für die kleine Geldtasche an. Therapeut:innen in Ausbildung arbeiten dort für 15 Euro die Stunde. Doch der Zulauf ist zu groß. Als MOMENT Mitte November einen Probeanruf wagt, meldet sich nur der Anrufbeantworter: “Momentan ist der Andrang so groß, dass wir keine weiteren Klient:innen auf der Warteliste aufnehmen können.”

Auch bei der Ausbildung herrscht “Sozialselektion”

Ein Grund für die mangelnde Vielfalt: Schon in der Ausbildung haben strukturell einkommensschwächere Gruppen wie Migrant:innen oder Arbeiter:innen schlechte Karten. Bis zu 60.000 Euro kosten erster Teil (Propädeutikum) und zweiter Teil (Fachspezifikum) zusammengerechnet bei den zahlreichen privaten Trägervereinen. “Die Ausbildung ist ein kapitalistisches Nadelöhr”, sagt Psychotherapeutin Angelika Grubner, die in ihrem Buch “Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus” auch über die Misslage in der Ausbildung schreibt.

Die daraus folgende Auslese lässt nicht alle sozialen Schichten in den Beruf. Peter Stippl, Vorsitzender des Bundesverbands für Psychotherapie, räumt ein, dass es sich um “Sozialselektion” handelt. Dabei möchte er aber schon eine Lanze für seine jungen Kolleg:innen brechen: “Wir haben begeisterte Menschen aus allen sozialen Schichten, die sich mit Nebenjobs und Krediten durch die Ausbildung schlagen”, sagt er. “Mitunter leben sie 15 Jahre lang prekär. Das verlangt schon viel Idealismus ab.”

Stippl und der ÖBVP fordern seit 2013 die Akademisierung der Psychotherapie. Das heißt, dass die Ausbildung vermehrt an Unis verlagert wird. Das könnte die Marktinteressen der privaten Vereine drosseln. Angelika Grubner geht einen Schritt weiter: “Die Ausbildung muss an die öffentlichen Unis. Das darf nichts kosten, fertig.” MOMENT spricht mit der Auszubildenden Michaela, die gerade ihr Propädeutikum abgeschlossen hat. Auch sie befürwortet die Akademisierung, nicht zuletzt zum Zwecke der Vielfalt: “Auch wenn meine Ausbildungsgruppe sehr divers ist, könnte die Akademisierung allgemein zu einer heterogenen Berufsgruppe beitragen. Michaela denkt, biele Therapeut:innen können Problematiken wie Rassismus und Ausgrenzung nicht zu hundert Prozent nachvollziehen, weil sie aus anderen sozioökonomischen Schichten stammen.

Wer löst das Diversitätsproblem?

Selbst, wenn in Zukunft “alle” Therapeut:innen werden dürfen, bleibt die Frage, wie Nathalie oder Miriam die Angst vor Diskriminierung auf der Couch genommen werden kann. Schreiben sich Trägervereine den Abbau von Diskriminierung auf die Fahne? MOMENT fragt bei sechs größeren Ausbildungsstätten nach, nur zwei antworten: Die ARGE weist darauf hin, dass dies Teil des Fachspezifikums, dem zweiten Teil der Ausbildung, sei – was bei ihnen nicht angeboten werde. Von der ÖGWG (klientenzentrierte Psychotherapie) heißt es, dass “die gesamte Bandbreite menschlicher Existenz in ihrer Diversität – sei es Gender, Queerness, Race oder auch Behinderung”, in “allen Ausbildungsschritten behandelt werden”. “Gesonderten Lehrveranstaltungen” gebe es allerdings nicht. Der Verein verweist auf einige Fortbildungen, die Auszubildende freiwillig belegen können.

Ob die 38 anderen Trägervereine das Problem im Blick haben, bleibt unklar. Für Miriam geht es auch gar nicht darum, den Weißen, Reichen und Heterosexuellen diskriminierungsfreie Therapie beizubringen. “Vielmehr sollten schwarze, migrantische oder queere Therapeut:innen einfach sichtbarer gemacht und gefördert werden”, sagt sie. “Queermed” oder “Wir sind auch Wien” gehören zu den wenigen Anlaufstellen, die für Sichtbarkeit sorgen. Es bleibt zu hoffen, dass es mehr werden.

 

*Name von der Redaktion geändert

 

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