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Klimakrise

Strahlen gegen die Klimakrise? Wie versucht wird, die Atomkraft grün zu waschen

In Zeiten der Klimakrise erlebt die Atomkraft einen unerwarteten Aufschwung. Bereits tot geglaubt, wird sie nun von manchen als saubere Lösung präsentiert. Doch kann Kernkraft tatsächlich eine grüne Alternative zu Kohle und Öl sein?
„Mit Atomkraft das Klima retten“, fordert der bekannt neoliberale Journalist Christian Ortner im Oktober 2019 in der Wiener Zeitung. Gerade in Zeiten der Klimakrise wäre es notwendig, die Nutzung der Kernenergie einer „Neubewertung“ zu unterziehen. Atomkraft solle auch künftig „Teil eines europäischen Energiemixes“ sein. 

Ortner ist nicht der einzige, der aktuell in Österreich die Werbetrommel für die Atomkraft rührt. Die von Milliardär Dietrich Mateschitz finanzierte Plattform Addendum etwa hat im Oktober 2019 ein umfangreiches Dossier unter dem Titel „Klimaretter Atomstrom?“ veröffentlicht. Resümee: „Die Atomkraft könnte ein wichtiges Puzzlestück im Kampf gegen den Klimawandel sein.“

EU-Streit um Atomkraft

Auch auf politischer Ebene hat die Diskussion rund um die Atomkraft zuletzt an Fahrt aufgenommen. So war etwa eine neue Investment-Verordnung der EU, die sogenannte Taxonomie-Verordnung, im Herbst und Winter über Monate blockiert worden. Die EU-Regierungen konnten keine Einigung darüber erzielen, ob die Atomenergie als „grüne“ Energieform anzusehen wäre – und damit in den Genuss des sogenannten „Green Deals“ der EU-Staaten kommen würde. 

Währenddessen ist sich Addendum bereits sicher: Neue Atomkraftwerke würden dazu beitragen, „jahrzehntelang rund um die Uhr nahezu klimaneutrale Energie zu erzeugen“. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein – und tatsächlich ist bei dieser Behauptung äußerste Skepsis angebracht. 

Grün gewaschen

Argumentiert wird die neue Lust am Atomkraftwerk zumeist mit der Klimakrise: Atomkraft sei eine vermeintlich klimaneutrale Alternative vor allem zu Kohle und Gas. Lobbyorganisationen wie „Nuclear Pride“ oder der Pro-Atom-Verein Nuklearia machen kräftig Stimmung für die Atomkraft. Und obwohl Nuklearia offiziell immer wieder mit der Klimakrise argumentiert, tritt deren Vorsitzender Rainer Klute schon mal als „Experte“ für die extrem rechten Klimaleugner der AfD auf.

Diese auffällige Schnittstelle findet sich auch bei Ortner. Denn während er sich einerseits auf die Klimakrise bezieht, ist er andernorts schnell zur Stelle, wenn es um eine angebliche „Klimahysterie“ geht. Die würde „viele Wähler eher kalt“ lassen, behauptet er etwa am 20. Dezember in der Presse – und beklagt danach die angeblich „irrationalen Ängste vor Atomkraftwerken“ in Österreich oder Deutschland. 

Doch sind diese Ängste tatsächlich irrational? Und ist Atomkraft tatsächlich eine klimaneutrale Alternative, etwa zu Kohle- und Gaskraftwerken?

Ist Atomkraft wirklich klimaneutral?

Kritikerinnen bezeichnen den neuen Trend als „Greenwashing“ der Atomkraft. Denn tatsächlich verursacht Atomkraft selbstverständlich klimaschädliche Emissionen. Sie entstehen etwa beim Bau von Atomkraftwerken, beim Abbau und der Aufbereitung von Uranerz oder bei der späteren Behandlung und Lagerung radioaktiver Abfälle.

Welche CO2-Emissionen durch die Endlagerung der Abfälle in den nächsten Jahrhunderten und Jahrtausenden entstehen werden, ist heute noch überhaupt nicht absehbar. Die Behauptung, dass Atomkraft klimaneutral wäre, ist also schlichtweg Propaganda.

Klimabilanz von Atomkraft verschlechtert sich

Der Niederländer Jan Haverkamp ist Vize-Vorsitzender der Atom-Beobachtungsstelle „Nuclear Transparency Watch“. Gleichzeitig ist er ein internationaler Experte der Umweltorganisation Greenpeace für den Bereich Atomkraft. Nach seinen Einschätzungen beträgt der Ausstoß von CO2 bei Atomkraft rund 25 bis 50 Gramm CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde. Damit wäre Atomkraft ungefähr auf demselben Niveau wie Photovoltaik, also Sonnenenergie.

Warum er eine Bandbreite angibt? „Es hängt davon ab, wie gut das Uranerz ist“, so Haverkamp im Gespräch mit MOMENT. „Wenn hier jemand absolute Zahlen nennt, ist bereits Skepsis angebracht.“ Eindeutig ist laut Haverkamp, dass sich die Klimabilanz von Atomkraft aktuell verschlechtern würde. „Die Erze, die gefördert werden, werden immer ärmer. Das bedeutet, dass für die Aufbereitung mehr Energie benötigt wird.“ Zur selben Schlussfolgerung kam bereits 2011 eine umfangreiche Studie aus Österreich über die Energiebilanz der Nuklearindustrie.

Atom-Experte Haverkamp weist aber gleichzeitig auf ein Problem hin, das in der gesamten Debatte rund um die Atomenergie immer wieder zu finden ist: “ Viele Daten zu den AKWs werden von den Betreibern der Kernkraftwerke selbst angegeben. Die Quellenlage ist damit nicht transparent.“

Wie viele Menschen sterben an Atomkraft?

Ob eine Technologie „grün“ ist, zeigt sich aber nicht nur in ihrer Auswirkung auf die Natur, sondern auch auf den Menschen. Der größte kurz-und mittelfristige Killer unter allen Formen der Energiegewinnung ist die Kohlekraft. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 soll Kohle allein in der EU jährlich für rund 23.000 Menschen verantwortlich sein, die vorzeitig sterben. Die jährlichen Schäden für die Gesundheit lagen bereits zu diesem Zeitpunkt bei rund 33 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das gesamte österreichische Budget 2019 hatte Ausgaben von 79 Milliarden Euro.

Im Vergleich damit hat die Atomkraft tatsächlich eine deutlich bessere Bilanz – allerdings nur, wenn es keine verheerenden Unfälle gibt. Wie viele Tote die Atomkraft bereits jetzt fordert, ist hoch umstritten. Für die Katastrophe von Tschernobyl nennt etwa die Umweltorganisation Greenpeace die Zahl von 93.000 Menschen, die an Krebs gestorben sind. Insgesamt könnten es allein in der Ukraine, Weißrussland und Russland sogar 200.000 Tote zwischen 1990 und 2004 sein.

Das Tschernobyl-Forum hingegen, angeführt unter anderem von der atomfreundlichen Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) mit Sitz in Wien, behauptet, dass es „weniger als 50 Tote“ gäbe, die direkt in Verbindung mit dem Unfall stehen. Dazu kämen 8930 Krebstote in der Ukraine, Weißrussland und Russland.

Der Krebs und die umstrittenen Zahlen 

Das Problem aller vorhandenen Zahlen: Sie arbeiten mit vielen Annahmen, die komplett unterschiedlich interpretiert werden können. So ist letztlich in den meisten Fällen nicht zweifelsfrei beweisbar, ob Krebsfälle tatsächlich ursächlich auf Kernkraft zurückzuführen sind. Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 etwa gehörte Österreich zu den besonders stark betroffenen Gebieten. 

Vier Jahre danach begann dann in Österreich die Zahl von Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen zu steigen. Ein Auslöser für diese Erkrankung kann radioaktives Jod sein, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Und vier Jahre gelten als die typische Zeit bis zum Ausbruch von Schilddrüsenkrebs. Dass die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl für den Anstieg der Erkrankungen verantwortlich ist, ist damit wahrscheinlich – aber nicht zweifelsfrei beweisbar. Das erklärt die enorme Bandbreite der verschiedenen Zahlen.

Strahlenbelastung und Krebsrate

Für ein erhöhtes Krebsrisiko gibt es aber zumindest klare Hinweise: So hat eine Studie im Auftrag des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz im Jahr 2007 festgestellt, dass im 5-Kilometer-Nahbereich von deutschen Atomkraftwerken die Krebsrate bei Kleinkindern um 60 Prozent steigt.

Auch andere Langzeit-Folgen von Verstrahlung zeigen sich: So ist laut einem jüngst erschienenen Bericht von Greenpeace die Strahlung rund um das havarierte japanische Kernkraftwerk Fukushima jüngst sogar wieder stark gestiegen. Zurückzuführen sei das auf einen Taifun im Oktober 2019. Das abgetragene kontaminierte Erdreich würde bis heute unter freiem Himmel in Müllsäcken lagern.

Ist Atomkraft wirtschaftlich?

Erst im Juli 2019 hat eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) festgestellt, dass Atomkraft privatwirtschaftlich immer unrentabel sein würde. Seit dem Neubau von Atomkraftwerken in den 1960er Jahren seien die Kosten von Atomkraftwerken pro Kilowatt Leistung sogar noch kontinuierlich angestiegen. 

Investitionen in ein neues Atomkraftwerk würden durchschnittlich zu Verlusten von rund 5 Milliarden Euro führen. Wirtschaftlich darstellbar würde das alles nur durch massive Subventionen der öffentlichen Hand, also der SteuerzahlerInnen. Profiteure sind dagegen die großen privaten Atomkonzerne bzw. militärisch-industrielle Zusammenhänge. 

Atomkraft für die Rüstung

Von dort kommt aktuell auch viel Lobbyarbeit für die Atomkraft. Warum Atomkraft forciert wird, beschreibt Studienautor Christian von Hirschhausen so: „Atomkraft war niemals auf die kommerzielle Stromerzeugung ausgelegt, sondern auf Atomwaffen. Atomstrom war, ist und bleibt unwirtschaftlich. Darüber hinaus ist Atomkraft mitnichten sauber, sondern aufgrund radioaktiver Strahlung für über eine Millionen Jahre gefährlich für Mensch und Natur.“

Und die militärische Nutzbarkeit könnte sich noch verschärfen, sagt Jan Haverkamp: „Bei den neuen Atomreaktoren der vierten Generation ist es nochmals viel einfacher, atomwaffenfähiges Material zu entnehmen.“ Laut dem Atom-Experten dürfe nicht unterschätzt werden, „dass ziviles Kernkraftwissen immer auch militärisches Kernkraftwissen bedeutet“.

Die ungelöste Frage der Endlagerung

Mindestens 65 Millionen Tonnen Atommüll warten laut Schätzungen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) auf ihre Entsorgung, darunter 2,7 Millionen Tonnen hochradioaktives Material. Genaue Zahlen kennt niemand, denn die Mitgliedstaaten der IAEO melden ihre Abfallmengen oft unregelmäßig oder überhaupt nicht, so die Süddeutsche Zeitung. Und bis heute gibt es kein funktionierendes Endlager für die hochradioaktiven Abfälle aus der Kernenergienutzung.

Die deutsche Umweltschutzorganisation „Bund“ hat die sogenannten Halbwertszeiten von Abfallprodukten der Atomkraft zusammengetragen. Das ist die Zeit, in der die Hälfte der Atome zerfällt. Und die Dimensionen übersteigen schlicht unser Vorstellungsvermögen.

Die Halbwertszeit von Atomkraft-Abfall im Vergleich:

Diese Zeiträume zeigen bereits das zentrale Problem jeder Endlagerung: hier muss in gigantischen Dimensionen gedacht werden. Radikale Klima-Umbrüche (etwa Eiszeiten) spielen ebenso eine Rolle wie Erdbeben oder sogar die Verschiebung der Kontinentalplatten.

Es gibt kein Endlager

Ein Endlager-Projekt entsteht derzeit auf der finnischen Insel Olkiluoto. Ob dieses Projekt allerdings jemals im Betrieb geht, ist unklar. Ein wesentliches Problem sind derzeit die Container, in denen das Material gelagert werden soll. Deren Sicherheit ist höchst umstritten.“Die Container sollten eigentlich 3000 Jahre halten, jetzt zeigen neue Untersuchungen, dass es weniger als 800 Jahre sein werden“, sagt Haverkamp. Damit sei die Sicherheit der Container nicht mehr gegeben. 

Der Physiker Bruno Thomauske, Mitglied der Endlager-Kommission des Deutschen Bundestags, glaubt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, dass ein erstes deutsches Endlager frühestens zwischen 2083 und 2114 entstehen würde, wobei ihm das zweite Datum „deutlich realitätsnäher“ erscheinen würde.

Neue Technologien

Gegenwärtig setzt die Atomindustrie auf neue Technologien, etwa das Kernfusion-Projekt ITER oder Thorium. Das Problem: Unabhängig von allen sonstigen Probleme sind diese Technologien schlicht noch nicht ausgereift. Atom-Experte Haverkamp sagt: „Es gibt derzeit rund zwei Dutzend verschiedene Entwürfe und Modelle. Doch vor 2035 ist nicht einmal mit kommerziellen Prototypen zu rechnen. Bis dahin werden wir bereits sehr viele erneuerbare Energieformen haben.“ 

Grundlagenforschung findet Haverkamp immer wertvoll, doch gleichzeitig sagt er: „Wir haben bereits heute alternative Technologien, die billiger sind und gezeigt haben, dass sie liefern können. Und auch Addendum muss in Bezug auf ITER feststellen: „Mit einer kommerziellen Nutzung dieser Technologie rechnen die Forscher frühestens in dreißig Jahren. Zu spät, um zum Retter des Weltklimas zu avancieren.“

Auch erneuerbare Energie hat Probleme

In Zeiten der Klimakrise sind vor allem der Ausstieg aus Kohle und Öl ein Gebot der Stunde. Diese Energieformen sind schon allein deshalb kein Zukunftsversprechen, weil Kohle und Öl endliche Stoffe sind. Auf der anderen Seite stehen erneuerbare Energieformen wie Solarkraft, Erdwärme, Gezeitenenergie, Windkraft oder Wasserkraft. Hier gibt es auch enorme Fortschritte bei der Energiebilanz und in der Forschung.

Doch auch erneuerbare Energieformen können buchstäblich tödliche Folgen haben – vor allem wenn es sich um Großprojekte handelt. So sind etwa beim Bruch des Banqiao-Staudamms in China im Jahr 1975 vermutlich mindestens 200.000 Menschen gestorben. In anderen Fällen bringen Staudammprojekte Sorgen um die Sicherheit der Wasserversorgung, das gilt beispielsweise für die geplante Aufstockung des Nils in Äthiopien. Oder sie können die Vertreibung von Menschen zur Folge haben und strategische Bedeutung haben. Das wird etwa für den Ilısu- Staudamm im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei beklagt.

Und natürlich gibt es offene Fragen, etwa die Energie-Speicherung, die sich vor allem bei Wind- oder Sonnenenergie stellt. Hier sind weitere Forschungen und Verbesserungen notwendig. Doch insgesamt stellen sich erneuerbare Energien gegenüber Kohle, Öl oder auch Atom als weit eher als zukunftsfit dar.

Menschen werden natürlich weiter Energie brauchen. Wie viel, das hängt auch mit der größeren Frage zusammen, wie wir in Zukunft wirtschaften wollen. Hier ließe sich viel verändern. Doch bis es soweit ist, wird der Kampf gegen die Klimakrise auch wesentlich über die Frage entschieden, welche Formen der Energiegewinnung künftig im Mittelpunkt stehen. Und alles, was wir bisher wissen, legt nahe: Die Atomkraft sollte und wird es nicht sein.

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