“Wir sind eine Familie”: Wenn Unternehmenskultur übergriffig wird

Empowerment. Personal Growth. Impact und Purpose. Wellbeing. Diese Buzzwords könnten aus der Broschüre eines Achtsamkeit-Workshops stammen, sind heutzutage aber auch in der Kultur vieler Firmen allgegenwärtig. Das Unternehmen, für das man arbeitet, soll sich wie eine große glückliche Familie anfühlen, die einen unterstützt und beim persönlichen Wachstum begleitet. Ist das motivierend oder manipulativ? Expert:innen finden vor allem: Es ist übergriffig.
Das Büro als gemütliches Wohnzimmer und Lohnarbeit als persönliche Leidenschaft haben sich schon seit den 2000er Jahren weltweit verbreitet, inspiriert durch den Work-Life-Style aus dem Silicon Valley und die Startup-Kultur. Viele Konzerne verfügen heute außerdem über einen Wertekatalog, der einerseits die moralischen Erwartungen des Arbeitgebers festlegt und andererseits ein familiäres und freundschaftliches Community-Gefühl vermitteln soll.
Ein gutes Umfeld bei der Arbeit
Dabei wird kaum jemand bestreiten, dass Team-Zusammenhalt und ein freundschaftlicher Umgang mit Kolleg:innen wichtig sind, um sich am Arbeitsplatz wohlzufühlen. Auch gegen einen ausgelassenen Afterwork-Abend mit Kolleg:innen ist nichts einzuwenden.
Aber: Eine von oben verordnete positive, familiäre Haltung kann versteckte negative Effekte haben – auch dann, wenn ernst und gut gemeinte Absichten dahinterstecken.
Werden gute Laune und ein falscher Zusammenhalt verordnet, dann werden Konflikte verdrängt und Kritik im Keim erstickt. Probleme im Unternehmen werden so auch nach unten verlagert. Auch wenn Probleme von der Struktur oder von Führungspersonen ausgehen, werden sie zum individuellen Problem des richtigen oder falschen „Mindsets“ gedeutet. Und je stärker Menschen individuell verantwortlich gemacht werden, umso schwieriger wird es, offen zu kommunizieren und solidarisch gegen Probleme im Unternehmen vorzugehen.
Unternehmenskultur: Eine große glückliche Familie
Ab welchem Punkt positives Denken nicht mehr motivierend, sondern toxisch wirkt, ist schwer auszumachen. Die Tendenz zum glücklich gemeinsam Arbeiten ist mittlerweile weit verbreitet. Inneneinrichtungen von Büros verwandelten sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr in gemütliche Wohnzimmer, in denen man seine Zeit mit der Firmen-Familie gerne verbringen soll. Statt Work-Life-Balance sollen die Arbeit und das Privatleben verschmelzen. Manche Arbeitgeber bieten dafür umfangreiche Benefits – Essen, Gesundheit, Kinderbetreuung, Wellness, Transport, Freizeit – bis es keinen Grund mehr gibt, nach Hause zu fahren.
Auch B. hat das erlebt, als sie bei der österreichischen Kryptowährungsbörse Bitpanda angestellt war. Auf den ersten Blick wirkte es im Krypto-Goldrausch wie ein beruflicher Jackpot: Kaum Hierarchien. Top Gehalt. Beste technische Ausstattung. Cafeteria mit hauseigenem Barista. Teure Partys, auf denen große Acts auftraten.
„Es war wie Disneyland. Zu schön, um wahr zu sein. Niemand war kritisch, wir wurden die ganze Zeit gehypet. Es war nicht, als würdest du arbeiten gehen, sondern eher als würdest du deine Freunde treffen, wie in der Schule. Alle haben Spaß, du schaust nicht auf die Uhr und wartest, dass die Zeit vergeht.“
Passend dazu lautet eines der Mottos, das den „Pandas“ nahegelegt wird: „No egos. Only amigos.“ Egos verursachen Konflikte und bringen Probleme aus dem Privatleben mit in die Firma, die der Produktivität schaden. Freund:innen dagegen teilen meist zumindest bis zu einem bestimmten Grad ihre Weltanschauungen.
Es ist kein Zufall, dass Unternehmen ihren wirtschaftlichen Erfolg oft ins Narrativ einer „Mission“ gießen. Gemeinsame Ziele, für die die Amigos sich einsetzen können, als wären es ihre eigenen.
Gute Absichten
Diese Erwartungshaltung kann bis zur (Selbst-)Ausbeutung führen. Sie wird mit positiven Floskeln und Bildern derart überfrachtet, dass die Grenze zwischen gesund und ungesund schwer zu erkennen ist.
Oft steht bestimmt eine gute Absicht dahinter, manchmal begleiten sie sogar handfeste positive Veränderungen.
Mit Hintergedanken
Das Thema Mental Health ist ein gutes Beispiel für die paradoxe Wirkung: Klar ist es ein netter Service, wenn das Unternehmen Kurse zur Linderung von Stress und psychischen Problemen finanziert. Das kann manchen durchaus helfen.
Kristina Hermann, Organisationsberaterin und Expertin für Gruppendynamik, weist auf den Nutzen für das Unternehmen hin: „Es ist auch eine gute Möglichkeit, die Leute an mich zu binden“. Hinter der Selbstoptimierung steckt ein einfaches Kalkül, ob bewusst oder unbewusst: Menschen, die glücklich arbeiten, sind produktiver und arbeiten mehr.
Strukturelle Probleme auf Einzelne abgewälzt
Es kann aber auch von strukturellen Mängeln der Organisation ablenken, die in vielen Fällen für die Probleme mitverantwortlich sind. Oft ist das Problem eben nicht, wie viel Stress ein:e Mitarbeiter:in verträgt – sondern dass sie zu viel Arbeit für eine Person hat. Atemübungen helfen nicht gegen schlechtes Ressourcenmanagement.
Stattdessen liegt die Verantwortung aber plötzlich bei Mitarbeiter:innen. Kristina Hermann beschreibt es so: „Es ist interessant, wann in Organisationen auf Individualisierung gesetzt wird und man sagt: ‚Wenn du depressiv bist, dann kümmere dich drum!‘ Wenn ich also in dieser Organisation unter die Räder komme, dann ist das auch noch meine Schuld, nicht die Schuld der Führungskraft, die permanent Druck ausgeübt hat.“
Werte, die alles und nichts bedeuten
Andere Werte der Unternehmenskulturen sind derart vage gehalten, dass sie gleichzeitig alles und nichts bedeuten können. Tim, langjähriger Coach in einem nationalen Pharmakonzern, erinnert sich an den Wertekatalog des Unternehmens: „Alle kannten die Werte, und doch konnte niemand sagen, was diese konkret bedeuten oder bewirken sollen.“
In Diskussionen und Workshops hat Tim erfahren, dass Führungskräfte höherer Ebenen die Werte meist für viel wirksamer und sinnvoller halten als Mitarbeiter:innen am unteren Ende der Hierarchie. Diese bekommen die Realität des Arbeitsalltags jeden Tag zu spüren, sei es der cholerische Chef oder der Konflikt unter Kolleg:innen. „Sie haben einfach akzeptiert, dass es sich um Camouflage handelt. Es sind Lippenbekenntnisse. Die Führung sollte sich wirklich fragen: Lassen wir den Worten und Werten Taten folgen, hören wir wirklich zu?“
Werte als Lippenbekenntnisse
Werden die Werte von der Führung nicht vorgelebt, sind sie nicht nur wirkungslos, sondern führen auch zu Zynismus. Schlagworte wie „Empowerment“ und „Purpose“ suggerieren große Bedeutungen, bleiben meist aber nur leere Floskeln.
„Es ist leider immer wieder auffällig, dass die Unternehmen, die sich Hochglanzparolen groß auf die Fahne schreiben, im Arbeitsalltag weit entfernt davon sind“, so Kristina Hermann. Der Eindruck, der Arbeitgeber habe hohe moralische Werte, führt außerdem dazu, dass er scheinbar immun gegen Kritik wird.
Vom Arbeitgeber sitzengelassen
Bei Bitpanda war B. eine Weile glücklich. Dann kam die Kündigungswelle im Juni 2022, Hunderte Mitarbeiter:innen verloren ihre Arbeitsplätze. Damals sorgte die Art der Kündigungen für mediale Kritik. Gekündigte Mitarbeiter:innen wurden nicht direkt informiert, sondern mussten eins und eins zusammenzählen, als ihre Computerzugänge gesperrt oder sie von Sicherheitskräften aus dem Gebäude eskortiert wurden.
Die Firma war plötzlich weder Familie noch Freundeskreis. Als es notwendig wurde, über unangenehme Themen zu sprechen, fiel jede Kommunikation aus. Erst Wochen später bot der Arbeitgeber Gespräche an, die dann aber auch eher defensiv als empathisch abliefen.
Man verliert nicht nur den Job
Bitpanda hat bereits zu den Vorgängen bereits 2022 öffentlich Stellung genommen. Darin bedauerte man, wie unpersönlich die Kündigungen ablaufen mussten. Diese Methoden seien aufgrund sensibler Daten einfach „Standard“ im Finanzsektor.
Das mag stimmen. Für B. waren sie aber auch nicht das eigentliche Problem. Nicht einmal die Kündigung selbst war es. Vielmehr war es der plötzliche Kontrast zur Intimität davor: „Es hat sich angefühlt wie eine Trennung, innerhalb kürzester Zeit habe ich alle Stadien der Trauer durchlebt“. Man verliert in so einer Firmenkultur eben nicht nur seinen Job – sondern seine „Amigos“.
Bitpanda habe auch nach der Kündigungswelle wieder über die Kultur versucht, die negative Stimmung bei den Verbliebenen einzufangen. Mit Sprüchen wie „Don’t be a toxic panda“. Auch „Gossip“ sei toxisch für die Stimmung. So habe man den Austausch über negative Gefühle – und damit wohl deren Ausbreitung – einschränken wollen.
Die verlorene Handlungsfähigkeit
Firmen wollen ein familiäres Umfeld bieten. Und tatsächlich kennt man Konfliktvermeidung und Kommunikationsprobleme auch aus Familien – aber eben nicht aus den gesündesten.
Und wie sagt man so schön: Familie sucht man sich nicht aus. Kai Matthiesen, Judith Muster und Peter Laudenbach stellen im Buch Die Humanisierung der Organisation fest:
„Es ist für die Organisation notwendig, sich bei Bedarf oder Fehlverhalten ohne größere Komplikationen von Mitgliedern trennen zu können. (…) Das unterscheidet Organisationen von anderen sozialen Gefügen, zum Beispiel Familien oder Freundschaften.“
Verwischen diese Grenzen, besteht die Gefahr, gewissermaßen emotional voneinander abhängig zu werden. Hängen etwa Chef:innen zu sehr an ihren Angestellten, können sie Probleme bekommen.
Die Gefahr der (Selbst-)Ausbeutung
Häufiger sitzen aber wohl Mitarbeiter:innen am kürzeren Ast. Und für sie ist es auch gefährlicher. Sie können die Grenze zur Selbstausbeutung überschreiten, wenn sie Chef:innen mit ungesund viel Leistung unterstützen wollen, für „Freund:innen“ mit mehr Einsatz einspringen als für bloße „Kolleg:innen“ oder wenn sie einem gefühlten „Familienoberhaupt“ mehr verzeihen, als man Vorgesetzten sollte.
Manche:r verlässt dann das Unternehmen nicht, auch wenn die Rahmenbedingungen nicht passen oder man dem Burnout nahe ist. Mit einem falschen Gefühl der Sicherheit hält man sich vielleicht nicht fit für den Arbeitsmarkt. Oder das Gegenteil: Man nimmt aus Loyalität dann bessere Angebote nicht wahr.
B. erzählt im Rückblick:
„Es hat mich selbst überrascht. Davor habe ich in meinen Jobs immer eine gesunde Distanz bewahrt. Dann kam dieser Job und wurde Teil meines Privatlebens und meiner Identität.“
In an deren Job seien die Leute meist kritischer gewesen, zumindest auf humorvolle Art. „Und ich glaube das ist gesund und wichtig“, sagt B.. „Man ist ja schließlich nicht Teil einer Sekte, in der alle ständig wiederholen müssen, dass alles perfekt ist.“ Für sie war diese Kündigung „ein echter Reality-Check“.
Ein freundliches, angenehmes Arbeitsumfeld ist schön und gut. Man darf auch Sinn und persönliches Wachstum in seiner Arbeit suchen. Ein Arbeitsplatz, der all das ermöglicht, ist ein Glücksfall. Aber man sollte darauf achten, ob Gefühl und Wirklichkeit zusammenpassen. Und im Zweifel sollte man einen Unterschied zwischen sich als Mitglied einer Organisation und als Menschen machen können.
Zwischen dem eigenen sozialen und dem beruflichen Umfeld zu trennen, bedeutet auch, sich vor Übergriffen zu schützen.